Mittwoch, 21. Dezember 2016

Leben am Limit

Widersprüche, Klagen und Überbrückungshilfe: Verein »Sanktionsfrei« unterstützt Hartz-IV-Bezieher

Alle Jahre wieder zu Weihnachten: Einem Ablasshandel gleich üben sich Tafeln, Prominente, Kirchenmänner und Politiker in karitativer Wohltätigkeit. Speisung von Obdachlosen, Päckchen für arme Kinder und viele gute Worte werden öffentlich zelebriert. Worüber die Wohltäter schweigen: Das repressive Hartz-IV-System produziert die Existenznot: Leistungsbeziehern, die nicht spuren, wird die magere Grundsicherung gekürzt oder gestrichen. Der Verein »Sanktionsfrei« will ihnen helfen. Seit Oktober ist dessen Plattform online.

Inzwischen gebe es täglich 20 bis 30 Anfragen, sagte Mitstreiterin Inge Hannemann, die für die Partei Die Linke in der Hamburger Bürgerschaft sitzt, am Montag im Gespräch mit junge Welt. Viele wünschten sich Beratung, weil sie die Sanktionsbescheide nicht verstünden. »Wir vermitteln sie an unsere Anwälte weiter«, so Hannemann. Die Angst bei Betroffenen, gegen Strafen vorzugehen, sei weiterhin groß, resümierte sie. Und: »Wir registrieren, dass auffallend viele Bescheide gravierende Fehler aufweisen«. In den ersten sieben Wochen seien 45 Widersprüche über die Plattform Sanktionsfrei eingelegt worden, konstatierte die Hartz-IV-Kritikerin.

Neben juristischem Beistand will der Verein Sanktionen ausgleichen. Betroffene bekommen den fehlenden Betrag als Darlehen. Über Widersprüche und Klagen soll das Geld möglichst zurückgeholt werden. Zweimal sei dies bereits gelungen, erläuterte Hannemann. Bisher habe der Verein vier Sanktionen ausgeglichen. Möglich wird das durch regelmäßige Spenden. Dafür werben die Akteure Unterstützer, sogenannte Hartzbreaker. Knapp 400 Menschen zahlen bislang insgesamt rund 2.500 Euro monatlich ein, wovon 1.350 Euro in den Soli­dartopf zum Ausgleich der Kürzungen fließen. Der Rest diene der Vereinsarbeit.

Auf der Plattform kommen auch Unterstützte zu Wort. Eine alleinerziehende Mutter berichtete, dass ihr das Jobcenter für ein Vierteljahr zehn Prozent der Leistungen wegen eines versäumten Termins gestrichen habe. Die Vorladung habe sie aber nicht erhalten. »Mit Hartz IV lebt man ohnehin am Limit – wenn dein Kind neue Schuhe braucht, musst du die kaufen«, beschreibt sie ihre Situation. Wird das Minimum gekürzt, gerate man schnell in Not. Noch drastischer traf es eine andere junge Frau. Sie hatte eine Maßnahme abgebrochen, »weil die mir nichts gebracht hat«. Sofort kappte ihr das Jobcenter für drei Monate den kompletten Regelsatz. Das ist bei unter 25jährigen möglich. »Ich musste Schulden machen und sehen, woher ich mein Essen kriege«, berichtete sie. Die Lebensmittelgutscheine vom Amt hätten ihr nur bedingt weitergeholfen. »Ich kann davon nicht mal Klopapier kaufen, kein Waschmittel, kein Putzmittel.«

Der Verein sucht weitere Unterstützer. Der Ausgleich der Sanktionen lindere nicht nur die akute Existenznot, meint Hannemann. »Die Sanktionierten erhalten ihre Würde zurück, können sich endlich wieder auf ihr Leben konzentrieren.« Schon zu ihrer Zeit als Arbeitsvermittlerin im Jobcenter Hamburg-Altona hatte sie die Sanktionspraxis als Verstoß gegen Grund- und Menschenrechte kritisiert. Deshalb suspendierte sie die Behörde 2013 vom Dienst. Ihre Klage auf Rückkehr in ihren alten Job blieb erfolglos.

Mit dieser Auffassung steht Hannemann nicht alleine da. Kürzlich hatte eine Fallmanagerin des Jobcenters im Landkreis Osterholz (Niedersachsen) vor dem Arbeitsgericht Verden verloren. Die 35jährige hatte sich vergeblich dagegen gewehrt, nach ihrer Ansicht rechtswidrige Sanktionen gegen Hartz-IV-Bezieher bei Verstößen gegen einseitig vom Amt auferlegte Pflichten zu verhängen. Die Geschäftsleitung habe penibel kontrolliert, ob sie eifrig strafe, berichtete die Frankfurter Rundschau am vergangenen Donnerstag unter dem Titel »Jobcenter-Rebellin gibt auf«. Eine Berufung könne sie sich nicht leisten, hieß es. Alleine der verlorene Prozess habe sie 3.000 Euro gekostet. Die Konsequenz: Die 35jährige habe nun – nach langer Krankschreibung – gekündigt. Weil sie nicht sanktionieren wollte, ist sie jetzt selbst erwerbslos.

Link zur Website des Vereins "Sanktionsfrei": https://sanktionsfrei.de/

Von Susan Bonath
aus junge Welt vom 20.12.2016

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