Freitag, 16. Dezember 2016

Das darf nicht wahr sein!

Foto: junge Welt
Bundesregierung streicht brisante Passagen zum Einfluss von »Eliten« aus Armutsbericht

Manchmal besagt »kein Kommentar« mehr als tausend Worte. »Nicht bewerten« könne er das, was am Donnerstag in der Süddeutschen Zeitung (SZ) über den Armutsbericht der Bundesregierung zu lesen war, befand Armin Schäfer, Politikwissenschaftler an der Universität Osnabrück, gestern gegenüber jW. Dass all die Arbeit, die er sich gemacht hat, einfach weggewischt und von Amts wegen der Vergessenheit preisgegeben werden soll, nagt aber wohl schon an ihm. Immerhin sei ja seine Studie für jeden Interessierten frei im Internet zu haben, bemerkte er dann doch, ansonsten wolle er sich aufgrund des »laufenden Verfahrens« nicht äußern.

Laufendes Verfahren? Eher gilt: Die Sache ist gelaufen. Aber von vorne: Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) hatte Schäfer im Frühjahr 2015 mit der Aufgabe betraut, herauszufinden, ob und inwieweit Eliten und Vermögende die Politik mitbestimmen. Der Endbericht des Forschungsprojekts gelangt zu einem eindeutigen Urteil: »Unsere Untersuchung hat gezeigt, dass das Einkommen politische Meinungen beeinflusst.« Politische Entscheidungen stimmten »mit höherer Wahrscheinlichkeit mit den Einstellungen höherer Einkommensgruppen« überein. Was dagegen Bürger mit weniger Geld »in besonders großer Zahl wollen, hatte in den Jahren von 1998 bis 2013 eine besonders niedrige Wahrscheinlichkeit, umgesetzt zu werden«.

Damit konnte man rechnen, und gewiss hatte auch Nahles auf dieses Ergebnis gesetzt. Ihre Absicht war es sogar, die Erkenntnisse an die große Glocke zu hängen und in den fünften Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung einfließen zu lassen. Tatsächlich fanden dann auch kritische Passagen aus der Studie Eingang in den Entwurf des federführenden Arbeitsministeriums. Zur »Krise der Repräsentation« hieß es da zum Beispiel, dass Menschen mit geringerem Einkommen nicht zur Wahl gingen, »weil sie Erfahrungen machen, dass sich die Politik in ihren Entscheidungen weniger an ihnen orientiert«. Die Rede war außerdem von einer »klaren Schieflage (…) zu Lasten der Armen«.

Gut zu wissen. Oder besser doch nicht? Wie die SZ berichtete, sind praktisch sämtliche der fraglichen Textstellen aus dem Armutsbericht verschwunden. Die Zeitung hat die erste Version vom Oktober aus dem Hause Nahles mit der aktuellen Fassung verglichen, an die in der Zwischenzeit weitere Ministerien und das Kanzleramt Hand angelegt haben. Kein Opfer der Ressortabstimmung wurde immerhin der Satz, dass »eine Politikänderung wahrscheinlicher ist, wenn diese den Einstellungen der Befragten mit höherem Einkommen mehrheitlich entsprach«. Allerdings liefere die Untersuchung der Uni Osnabrück »keine belastbaren Erkenntnisse über Wirkmechanismen«, erfährt man. Das soll wohl heißen: Die Forscher können sich auch täuschen.

»Unbequeme Wahrheiten aus Berichten zu streichen hat noch nie ein Problem gelöst«, kommentierte gestern Jan Korte von der Linksfraktion im Bundestag. »Wer die soziale Schieflage und ihre Auswirkungen auf politische Mitbestimmung ignoriert, führt die Demokratie nicht aus der Krise, sondern treibt sie noch weiter hinein.« Christina Deckwirth vom Verein Lobbycontrol monierte, »in einem anderen Kontext nennt man so ein Verhalten Realitätsverweigerung«.

Der Paritätische Wohlfahrtverband hat das fragliche Kapitel »Armut und Reichtum und Demokratie« aus der ersten Vorlage veröffentlicht und die Streichungen kenntlich gemacht. Von den knapp 18 Seiten wurden mal eben zwölf wegzensiert. Das betrifft auch die Gründe, warum die Politik die Mächtigen und Reichen hofiert. So hieß es ursprünglich, »dass sich die Lebensstile und Diskurse der Politikerinnen und Politiker – aber auch vieler Vertreterinnen und Vertreter der Medien – eher an denen der oberen Mittelschicht orientieren«. Eine weitere mögliche Erklärung sei »der Einfluss durch Lobbying oder persönliche Kontakte«. Der zugehörige Abschnitt »Einfluss von Interessenvertretungen und Lobbyarbeit« wurde jedoch komplett weggekürzt. Aufs Kürzen versteht sich die Regierung bekanntlich, gerade bei den Armen.


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