Sonntag, 14. Mai 2017

Erfolgreiche Inszenierung

Venezuelas Opposition setzt auf die Macht der Bilder. Auch deutsche Medien unterstützen sie dabei

Am 5. Mai berichtete der lateinamerikanische Fernsehsender Telesur, dass die Partei des brasilianischen Staatschefs Michel Temer im Parlament einen Antrag eingebracht habe, die für das nächste Jahr vorgesehenen Präsidentschaftswahlen auf 2020 zu verschieben. Die Begründung dafür lautet, man wolle per Verfassungsänderung die Wahlen zum Staatsoberhaupt und zu den Gouverneuren zusammenlegen.

Keinem der deutschen Leitmedien war diese Information eine Meldung wert. Auch dpa und AFP, die beiden in Deutschland führenden Presseagenturen, interessierten sich für diese Nachricht nicht, obwohl es sich bei Brasilien immerhin um ein G-20-Mitglied handelt. Die Tatsache, dass Temer nicht demokratisch gewählt wurde, sondern vor einem Jahr durch einen institutionellen Putsch gegen Präsidentin Dilma Rousseff in sein Amt kam, wird von den meisten Medien ohnehin unterschlagen.

Wäre Venezuelas Präsident Nicolás Maduro – der im Gegensatz zu Temer demokratisch gewählt ist – auf einen solchen Einfall gekommen, wäre das wohl anders gewesen. Denn Venezuela prägt die internationale Berichterstattung.

Es sind immer dieselben Bilder aus dem südamerikanischen Land, die auch hierzulande über die Bildschirme flimmern: Sicherheitskräfte feuern Tränengasgranaten auf Demonstranten, die werfen Steine und Molotowocktails. Die dpa verbreitete am Dienstag aus Caracas: »Bei neuen Protesten gegen eine drohende Diktatur in Venezuela und heftigen Zusammenstößen mit der Polizei sind mehr als 60 Demonstranten verletzt worden. Die Polizei setzte nach Berichten von Augenzeugen Tränengasbomben ein, um den Protestzug zu zerstreuen.« Es gehe um »Pläne des sozialistischen Präsidenten Nicolás Maduro, eine neue Staatsordnung erarbeiten zu lassen«, die Demonstranten fürchteten »ein Abrutschen in die Diktatur und die endgültige Ausschaltung des von der Opposition dominierten Parlaments«. In das gleiche Horn stieß am Dienstag die AFP in einem Bericht über jüngste Proteste in Caracas: »Die Demonstranten hatten Plakate mit der Aufschrift ›Nein zur Diktatur‹ dabei, mit der sie zum Bildungsministerium in der Innenstadt ziehen wollten. Die Polizei setzte Tränengas ein, um den Protestzug zu stoppen. Demonstranten bewarfen die Einsatzkräfte mit Steinen und Brandsätzen.«

Organisierte Provokation - Foto: junge welt
Beide Agenturen unterschlagen, warum sich die Beamten den Demonstrationszügen entgegengestellt hatten. Das Bildungsministerium liegt mitten im Regierungsviertel von Caracas, nur fünf Häuserecken vom Präsidentenpalast Miraflores entfernt. Wenn in der Vergangenheit Demonstrationen der Opposition bis in das Stadtzentrum marschieren durften, kam es immer wieder zu Angriffen auf Regierungsgebäude. So wurde am 12. Februar 2014 nach einer ansonsten friedlichen Kundgebung von Regierungsgegnern das Gebäude der Generalstaatsanwaltschaft attackiert. Das war der Beginn einer Gewaltwelle, die 43 Menschenleben forderte. Als Anstifter wurde später der Oppositionspolitiker Leopoldo López zu knapp 14 Jahren Haft verurteilt.

Seither verweigern die Behörden des Innenstadtbezirks Libertador den Regierungsgegnern die Genehmigung für Proteste im Zentrum und versperren den Demonstrationszügen an der Bezirksgrenze den Weitermarsch.

Die Opposition nutzt das seit Wochen erfolgreich für eine sich wiederholende Inszenierung: Man versammelt sich mit wechselnden Parolen im Osten der Hauptstadt, wo die Viertel der Mittelschicht liegen und die Opposition die Bezirksverwaltung stellt. Dann marschiert man trotz fehlender Genehmigung zu dem jeweils ausgegebenen Ziel los – das fast immer im Regierungsviertel liegt. Wenn sich Polizei und Nationalgarde in den Weg stellen, kommt der Einsatz der mit Helmen und Gasmasken ausgerüsteten Stoßgruppen. Steine und Molotowcocktails fliegen auf die Beamten, bis diese mit Tränengas und Wasserwerfern antworten. Die Kameras richten sich dann auf die Oppositionsführer, die sich medienwirksam als Opfer der Polizeigewalt inszenieren.

Im Internet kursiert ein Video, in dem sich Lilian Tintori, die Ehefrau des inhaftierten Leopoldo López, während einer Demonstration im April als Opfer der Repression inszeniert. Zu sehen ist, wie sie inmitten von Rauch heldenmütig ihre Gasmaske mit einem jugendlichen Demonstranten teilt – nicht ohne sich vorher zu vergewissern, dass die Reporter ihre Aufnahmegeräte eingeschaltet haben. Auffällig ist allerdings, dass die zahlreich anwesenden Kameraleute offenkundig kein Problem mit dem mutmaßlichen Tränengas hatten – und dass es auch Tintori selbst wohl nicht eilig hatte, sich in Sicherheit zu bringen.

Hundertausende Regierungsanhänger April 2017 - Foto: jW
Mitte April präsentierte das staatliche Fernsehen VTV genüsslich eine Panne des privaten Nachrichtenkanals Globovisión. Der hatte offenkundig zu früh zu seinem Reporter geschaltet, der von einer Demonstration der Opposition berichtete – und so ging live über den Sender, wie der Berichterstatter den Protestierenden Anweisungen gab, was sie rufen sollten.

Solche Details unterschlagen die 90-Sekunden-Häppchen im deutschen Fernsehen – sie passen nicht ins Bild. Dabei hatte tagesschau.de am 20. April selbst darauf hingewiesen, dass man den Informationen beider Seiten nicht trauen dürfe: »Die Medien berichten einseitig – entweder für oder gegen den amtierenden Präsidenten –, und die Venezolaner wissen kaum noch, wem und was sie überhaupt glauben sollen.« Unterschlagen wird, dass die öffentlich-rechtlichen Sender an der Stimmungsmache aktiv beteiligt sind. Als die Deutsche Welle vor wenigen Tagen den spanischen Europa­abgeordneten Javier Couso befragte, warum die Linksfraktion gegen einen Antrag zu Venezuela gestimmt hatte, stellte der Politiker falsche Behauptungen der Journalistin richtig – und wurde von ihr dafür ständig unterbrochen. Nach knapp fünf Minuten endete das Interview mit dem enttäuschten Kommentar der Fragestellerin: »Ich habe nicht die Antworten erhalten, die ich haben wollte.« Couso darauf: »Die Antworten gebe ich, nicht Sie.«

Von André Scheer
aus „junge Welt“ vom 11.05.2017

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