Sonntag, 10. September 2017

Was ist Politische Ökonomie?

150 Jahre »Das Kapital« von  Karl Marx: Ein Haufen Begriffe, eine Gegenstandsbestimmung und ein paar Splitter Begriffsgeschichte

Der Begriff „Politische Ökonomie“ wird heutzutage fast ausschließlich von Marxistinnen und Marxisten verwendet, von Marx erdacht ist er nicht. 

Er geht, soweit sich dies verfolgen lässt, auf Antoine de Monchrétien zurück. Dieser französische Autor verfasste im Jahre 1637 eine Broschüre mit dem Titel „L‘économie politique“. 

Bald darauf bürgerte sich der Ausdruck „political economy“ im englischen Sprachraum ein und fand in der Folge international Verwendung.

Das Wort „Ökonomie“, zusammengesetzt aus den griechischen Worten Oikos (Haushalt) und Nomos (Gesetz) ist noch weit älter. Der griechische Philosoph Xenophon, ein jüngerer Zeitgenosse des Sokrates, schrieb Ende des dritten vorchristlichen Jahrhunderts in seinem Buch ‚oikonomia‘ über die Gesetze des Haushalts.

Dabei dachte er nicht die Sorte von Haushalt, an die ein heutiger Westeuropäer denkt, der dieses Wort hört. Der griechische Oikos war eine, zumindest dem Ideal nach, selbstversorgende Wirtschaftseinheit. Neben der Großfamilie des Oikenbesitzers gehörten ihr auch Mägde und Knechte, Sklavinnen und Sklaven an.

Xenophon war ein konservativer Mann, der die überkommene Ordnung des athenischen Stadtstaates bewahren, die Herrschaft der athenischen Sklavenhalteraristokratie verewigen wollte. Die Oikenwirtschaft, die das materielle Fundament der griechischen Sklavenhalteroligarchie bildete, verlor zu seinen Lebzeiten jedoch stetig an Bedeutung. Große Reichtümer wurden durch Handel und Geldwirtschaft angehäuft; kontrolliert nicht von athenischen Stadtbürgern, sondern von Metöken – Menschen, die ohne Bürgerrecht in Athen lebten.

Auf Dauer, dies sahen klügere Köpfe der athenischen Herrenschicht klar, drohte diese Entwicklung die angestammte Ordnung zu untergraben. Xenophon wollte seinen Klassengenossen Wissen darüber vermitteln, wie sie ihre Oiken besser leiten, ihre wirtschaftliche Stabilität und Autarkie bewahren konnten. Er behandelte Fragen wie die Notwendigkeit von Sparsamkeit und Ordnungsliebe, die Ausbildung von Hausfrauen, Verwaltern und Arbeitern sowie die Grundregeln der Landwirtschaft.

Die Oikenwirtschaft ging unter, Xenophons Bemühungen zum Trotz. Sein Begriff Ökonomie überlebte, wenn sich seine Bedeutung im Laufe der Jahrtausende auch wandelte. Stets jedoch beinhaltete er das Nachdenken über die Frage, wie menschliche Gesellschaften die Herstellung ihrer materiellen Grundlagen organisieren, die notwendigen Arbeitsprozesse und die Verteilung der Arbeitsprodukte zweckmäßig und stabil gestalten können.

Das Kapital - Marx Hauptwerk, Foto: UZ
Das Adjektiv „politisch“ kommt von Polis, Staat. Als Antoine de Monchrétien es hinzufügte, dachte er in größeren Dimensionen als seine antiken oder mittelalterlichen Vorläufer. De Monchrétien schrieb in der Epoche des aufsteigenden Absolutismus, der sich herausbildenden Nationalstaaten.

Nicht mehr der selbstwirtschaftende Haushalt des einzelnen Sklavenhalters, auch nicht die lokal beschränkten feudalen Wirtschaftseinheiten, sondern das Gedeihen des „Haushalts“ eines ganzen Flächenstaates stand im Zentrum seiner Überlegungen. Heute ist selbst dieser Blickpunkt zu eng geworden. Die Analyse des modernen Kapitalismus kann zwar nicht von der Existenz der Nationalstaaten abstrahieren, zu verstehen ist diese Gesellschaftordnung jedoch nur als weltumspannendes System.

Was also ist Politische Ökonomie? Eine moderne Kurzdefinition könnte lauten: Die Politische Ökonomie ist die Wissenschaft, die sich mit den Gesetzen der Reproduktion der materiellen Grundlagen der menschlichen Gesellschaften beschäftigt.

Sie dreht sich um die Frage, auf welche Weise die Menschen in den verschiedenen historischen Epochen den materiellen Produktionsprozess organisieren und welche Verhältnisse sie untereinander in Bezug auf diesen Prozess eingehen. Die Politische Ökonomie ist eine historische Wissenschaft, denn die Organisation der materiellen Reproduktion menschlicher Gesellschaften ist, ebenso wie alle anderen Aspekte dieser Gesellschaften, historischen Veränderungen unterworfen.

Produktion, Arbeit und Reproduktion

Auch die Begriffe Produktion und Reproduktion sind erklärungsbedürftig. In ihnen steckt das lateinische „producere“, zu deutsch „hervorführen“. Im Produktionsprozess führt der Mensch nützliche Gegenstände aus der Natur hervor. Im Gegensatz zum Tier wirkt er bewusst auf die Natur ein, verändert sie nach seinen Vorstellungen und schafft sich so aktiv die Gegenstände und Lebensbedingungen, die er benötigt. Mit anderen Worten: Der Mensch arbeitet.

Beim Arbeitsbegriff lohnt es, einen Moment zu verweilen: Sowohl in der klassischen bürgerlichen Ökonomie als auch im Marxismus ist er eine zentrale, wenn nicht sogar die grundlegende Kategorie, ohne deren Verständnis die anderen Begriffe schwerlich zu erfassen sind. Zwar ist Arbeit ein alltägliches Wort, das Alltagsverständnis ist jedoch, wie so oft in den Wissenschaften, zu ungenau. Viele Tätigkeiten, die umgangssprachlich als Arbeit bezeichnet werden, sind es politökonomisch nicht.

Die Schülerin, die eine Klassenarbeit schreibt, arbeitet nicht, auch wenn sie dies ganz anders empfindet. Die Beziehungsarbeit der Eheleute und die Trauerarbeit der Witwe sind ebenso wenig Arbeit wie das, was der Bodybuilder beim Work-Out leistet. Das Geld des Anlegers arbeitet schon gar nicht; nicht einmal der Börsianer, der dieses Geld verwaltet – ohne infrage stellen zu wollen, dass er tagtäglich lange Stunden mit einer stressbeladenen Tätigkeit zubringt.

Was also ist Arbeit? Eine erste Definition könnte lauten: Arbeit ist bewusste Tätigkeit zur Schaffung von Gebrauchswerten, was hier vorläufig einfach ein „nützlicher Gegenstand“ sein soll. Wichtig ist hier das Adjektiv „bewusst“. Die Arbeit des Jägers unterscheidet sich darin von der Jagd des Raubtieres, dass ersterer planvoll und unter Einsatz erlernter, kulturell tradierter Techniken handelt, letzteres angeborenen Instinkten folgt. Um es mit Marx Worten zu sagen:

„Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, dass er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war.“ (Marx-Engels-Werke – MEW 23/193)

Unser Bild von Marx machen wir uns selber, Foto: UZ
Eine andere, etwas kompliziertere Definition lautet „Arbeit ist die bewusste Vermittlung des menschlichen Stoffwechsels mit der Natur.“ Marx schreibt: „Als Bildnerin von Gebrauchswerten, als nützliche Arbeit, ist die Arbeit daher eine von allen Gesellschaftsformen unabhängige Existenzbedingung des Menschen, ewige Naturnotwendigkeit, um den Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur, also das menschliche Leben zu vermitteln.“ (MEW 23/57)

Während der Ausdruck „Stoffwechsel mit der Natur“ verständlich sein dürfte, steckt hinter dem Wort „vermitteln“ ein philosophisches Konzept, dass kurz zu bedenken ist. Das „Vermittelnde Dritte“ tritt zwischen zwei Extreme, die es in einen Zusammenhang bringt.

Am Beispiel: Das Reh, das Wasser aus dem Bächlein säuft, benötigt zwischen sich und der Natur kein vermittelndes Drittes; sein Naturverhältnis ist unmittelbar. Der Mensch, der Wasser aus einem Brunnen schöpft, musste diesen zunächst graben, befestigen, das Holz für einen Eimer beschaffen etc.

Zwischen der Befriedigung seines Lebensbedürfnisses, dem Stillen seines Durstes, und der Natur steht eine lange Kette von Arbeitsschritten. Eine Kette, die im Lauf der Geschichte immer länger und komplexer wurde. Bevor wir einen Wasserhahn aufdrehen oder eine Mineralwasserflasche öffnen können, müssen unzählige Arbeiterinnen und Arbeiter in den verschiedensten, weltweit verflochtenen Industriezweigen tätig geworden sein. Ihre Arbeit vermittelt unseren Stoffwechsel mit der Natur.

Die Herstellung der lebensnotwendigen Güter ist kein einmaliger Vorgang, der irgendwann abgeschlossen wäre. Der Produktionsprozess muss fortwährend erneut beginnen. Lebensmittel werden verbraucht, Maschinen abgenutzt, Gebäude verfallen. Die Menschen müssen daher beständig die Bedingungen wiederherstellen (reproduzieren), die sie in die Lage versetzen, die Produktion erneut aufzunehmen. Aufgebrauchte Rohstoffe müssen ebenso ersetzt werden wie abgenutzte oder veraltete Werkzeuge und Maschinen.

Aber auch die Menschen selbst müssen sich selbst beständig ‚wiederherstellen’. Sie benötigen Nahrung und Erholung zur Wiederherstellung ihrer im Produktionsprozess verausgabten Kräfte. Sie benötigen Ersatz für verschlissene Kleidung oder verfallene Gebäude. Sie benötigen die Auffrischung der Fertigkeiten und Kenntnisse, die sie im Produktionsprozess anwenden. Schließlich benötigen sie Ersatz für sich selbst. Alte und Kranke scheiden aus dem Produktionsprozess aus, für sie müssen immer wieder genügend junge Menschen mit entsprechenden Fähigkeiten und Kenntnissen bereitstehen.

Klassen

Der Reproduktionsprozess bildet die materielle Basis aller menschlichen Gesellschaften. Aus diesem Grund steht er in enger Wechselwirkung mit allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, also etwa der Politik, der Kultur, des Rechtswesens, der Ideologie, den Familienverhältnissen etc. Er ist jedoch nicht in allen Gesellschaften auf die gleiche Weise organisiert, in urgesellschaftlichen Gemeinschaften anders als in antiken Sklavenhaltergesellschaften, im Kapitalismus, Feudalismus oder im Sozialismus.

Zum einen unterscheiden sich die Technologien, die Mittel und Gegenstände der Arbeit in den verschiedenen historischen Epochen. Zum anderen, damit in Wechselwirkung, unterscheiden sich die Verhältnisse, die Menschen in Bezug auf den Produktionsprozess einnehmen.

Eine antike Sklavin nimmt eine andere gesellschaftliche Stellung ein als ein Leibeigener oder ein Lohnarbeiter, ein Oikenbesitzer eine andere als ein Feudalherr oder ein Kapitalist. Die Beziehungen zwischen den gesellschaftlichen Klassen – das Verhältnis von Sklavenhalter und Sklavin ist ein anderes als das von Kapitalistin und Lohnarbeiter – unterscheiden sich ebenso wie die Verhältnisse innerhalb der jeweiligen Klassen.

Marx lesen: Heute so aktuell wie vor 150 Jahren, Foto: UZ
Die im Familienverbund wirtschaftenden hörigen Bäuerinnen und Bauern des Mittelalters stehen anders zueinander als die Arbeiterinnen und Arbeiter eines sozialistischen Industriebetriebes, das Konkurrenzverhältnis unter Kapitalisten unterscheidet sich grundlegend von den Beziehungen unter römischen Patriziern.

Auch Klassenverhältnisse bilden sich innerhalb der Entwicklung einer Gesellschaft immer wieder neu. Während die Menschen sich selbst und die Mittel und Gegenstände ihrer Arbeit reproduzieren, stellen sie zugleich die sozialen Verhältnisse wieder her, die diese spezifische Gesellschaft konstituieren.

Ein Leibeigener reproduziert mit seiner Arbeit sich selbst, seine Frau und seine Kinder als Leibeigene. Ebenso ernährt er den Feudalherren und gibt diesem die Mittel, die ihn das Feudalherrendasein ermöglichen. Der Leibeigene reproduziert mit seiner Arbeit das Feudalsystem.

Zusammenfassend können wir festhalten, dass der Begriff des Reproduktionsprozesses bei Marx drei Dimensionen umfasst: Neben die beständige Wiederherstellung der sachlichen Bedingungen (der Produktionsmittel) und der persönlichen Bedingungen (der Produzenten) des Produktionsprozesses tritt drittens die Wiederherstellung der gesellschaftlichen Bedingungen, d. h. der ökonomischen, sozialen, politischen und ideologischen Verhältnisse, unter denen sich die Produktion vollzieht.

Produktivkräfte, Produktionsverhältnisse und Produktionsweise

Damit wären wir bei drei Begriffen angelangt, die in der marxistischen Politischen Ökonomie eine ebenso zentrale Rolle einnehmen wie in der marxistischen Philosophie: Die Begriffe Produktivkräfte, Produktionsverhältnisse und Produktionsweise.

Die Produktivkraft der Arbeit ist ihre Fähigkeit, nützliche Gegenstände aus der Natur hervorzuführen („producere“). Je höher die Produktivkraft, desto größer die Masse und die Vielfalt der Gegenstände, die eine gegebene Arbeitsmenge zu erschaffen vermag. Andersherum: Eine gegebene Menge nützlicher Gegenstände kann bei hoher Produktivkraft mit vergleichsweise wenig Arbeitsaufwand hergestellt werden.

Der Stand von Werkzeugeinsatz und Maschinerie, die Herausbildung und Verbesserung neuer Technologien, ebenso die Erfindung neuer und besserer Produktarten sind Momente der Produktivkraftentwicklung. Hauptproduktivkraft nach marxistischem Verständnis ist der Mensch. Er ist es, der die Werkzeuge und Maschinen erschafft, die Technologien erdenkt und anwendet; seine Arbeit ist es, die die Natur zweckmäßig umformt.

Der Begriff der Produktivkraft stellt ein stoffliches Verhältnis ins Zentrum der Betrachtung: Der Mensch, selbst ein stoffliches Wesen, mithin eine Naturkraft, wirkt mit stofflichen Mitteln auf die Natur ein. Das Ergebnis ist ein Quantum nutzbringend umgeformter Naturstoff. Art und Menge dieses umgeformten Naturstoffs hängen ab vom historischen erreichten Niveau der Technologie – oder eben, genauer formuliert, vom Entwicklungsstand der Produktivkräfte.

Neben dieser stofflichen hat der Arbeitsprozess eine gesellschaftliche Seite. Robinsons Insel, wiewohl in der akademischen Volkswirtschaftslehre sehr beliebt, ist eine literarische Fiktion. Menschen arbeiten nicht auf sich gestellt, sie kooperieren oder konkurrieren, koordinieren ihre Arbeiten, arbeiten formal selbstbestimmt oder auf Befehl, verteilen ihre Arbeitsprodukte untereinander, eignen sich die Arbeitsprodukte anderer Menschen an. Die Verhältnisse, die sie untereinander in Bezug auf den Produktionsprozess eingehen, nennt Marx Produktionsverhältnisse.

Ein und derselbe stoffliche Vorgang kann im Rahmen sehr verschiedener gesellschaftlicher Gegebenheiten vor sich gehen. Ein Hammer ist ein Hammer, ein Schmied nutzt seine Muskelkraft, um mit seiner Hilfe Werkstücke umzuformen. Es macht jedoch einen erheblichen Unterschied, ob dieser Schmied ein freier Handwerker, ein Sklave, ein Leibeigener oder ein Lohnarbeiter ist. Im Gegensatz zur Ingenieurwissenschaft, die die stofflichen Gesichtspunkte der Produktionsprozesse ins Zentrum stellt, untersucht die Poltische Ökonomie ihre gesellschaftlichen Aspekte, die Produktionsverhältnisse.

Foto: UZ
Die stoffliche und die gesellschaftliche Seite des Produktionsprozesses stehen nicht einfach nebeneinander. Sie bedingen und beeinflussen sich wechselseitig. Die soziale Stellung der Arbeitenden hat Einfluss auf die Arbeitsprozesse, die eingesetzten Technologien und somit auf die stofflichen Abläufe. Andersherum verändern Entwicklungen im Bereich der Technologie die soziale Stellung der Arbeitenden.

Nehmen wir unseren Schmied zum Beispiel: Zwar ist die physikalische Wirkung seiner Kraft und seines Werkzeuges auf glühendes Eisen von seiner sozialen Lage unabhängig, seine Lage beeinflusst aber die von ihm verrichtete Produktion. Sklaven wurden in der Regel nur mit groben Werkzeugen ausgestattet, da sie kein Eigeninteresse an Pflege und Erhaltung ihrer Arbeitsmaterialien hatten.

Fortschreitende Arbeitsteilung, d. h. eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse der Arbeitenden untereinander, führt zur Ausdifferenzierung der Werkzeuge: Ein Hammer ist nicht mehr einfach ein Hammer, wenn sich das Schmiedehandwerk in verschiedene spezialisierte Bereiche aufspaltet. In der Manufaktur oder der Fließproduktion, in der fast jeder Handgriff von einem anderen Arbeiter ausgeführt wird, entstehen ebensoviele Spezialwerkzeuge.

Bestimmte Technologien sind mit bestimmten Produktionsverhältnissen unvereinbar. Maschinelle Großproduktion ist nicht sinnvoll auf Basis der Sklaverei und passt nicht zu einer Gesellschaft selbstständiger Handwerker.

Bestimmte Produktionsverhältnisse, etwa die zünftige Organisation des Handwerks oder die kapitalistische Konkurrenz, können technologische Entwicklungen hemmen oder befördern.

Die Politische Ökonomie darf weder die Seite der Produktivkraft noch die der Produktionsverhältnisse isoliert betrachten. Es ist ihre wechselseitige Verschränkung, die historische Entwicklungen vorantreibt oder bremst. Um die Wechselwirkung von stofflichen und gesellschaftlichen Aspekten des Produktionsprozesses theoretisch fassen zu können, nutzt Marx einen dritten Begriff: Die widersprüchliche Einheit von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen nennt er die Produktionsweise.

Ausbeutung

Seit dem Ende der Urgesellschaft ist der Mensch in der Lage, regelmäßig mehr zu produzieren, als er für sein eigenes Überleben benötigt. Die Masse der Lebensmittel, die wir verbrauchen, ist begrenzt, und so ist es die Zeit, die auf ihre Herstellung verwendet werden muss. Die notwendige Arbeitszeit, d. h. die für die Versorgung der eigenen Familie erforderliche Arbeitszeit, nimmt im Zuge des technischen Fortschritts immer weiter ab.

Die Fähigkeit, kontinuierlich über den eigenen Bedarf hinaus zu produzieren, ist die wichtigste ökonomische Errungenschaft in der Entwicklung der Menschheit. Sie wurde zugleich zur Basis von Ausbeutung und Unterdrückung. Aus der Abnahme der notwendigen Arbeitszeit folgt nicht, dass die tatsächlichen Arbeitszeiten stetig abnehmen müssten, die Menschen über immer mehr freie Zeit verfügen könnten.

In der Zeit, die ich nicht für mich und meine Familie arbeiten muss, kann ich für andere arbeiten. Die über die für eigene Reproduktion notwendige Arbeit hinausgehende Arbeit nennt Marx Mehrarbeit. Sie ermöglicht die Versorgung nichtarbeitender Bevölkerungsteile, z. B. von Priestern, Soldaten, Staatsdienern oder Aristokraten.

Sobald sich bestimmte Teile der Bevölkerung als herrschende Klasse etablieren konnten, beschränkten sie den Konsum der arbeitenden Menschen auf ein mehr oder minder großes Minimum und eigneten sich das Mehrprodukt an. Sie nutzten es zur Bestreitung ihres eigenen, in aller Regel luxuriösen Lebensstandards ebenso wie zum Aufbau von politischen und ideologischen Unterdrückungsapparaten, die verhinderten, dass die Arbeitenden sich aus den ihnen feindlichen Zwangsstrukturen befreien konnten.

Alle Klassengesellschaften beruhen auf der unentgeltlichen Aneignung der Produkte fremder Arbeit. Die Formen dieser Aneignung sind jedoch historisch sehr verschieden. In der Sklaverei scheint es so, als erhielte die Sklavin gar nichts für ihre Arbeit. Doch dieser Schein trügt: Auch sie benötigt Nahrung, Kleidung und Unterkunft. Auch der brutalste Sklavenhalter kann sich vom Arbeitsprodukt seiner Sklaven nur den Teil aneignen, der nach Abzug des Lebensnotwendigsten übrig bleibt. Handelte er anders, er wäre bald kein Sklavenhalter mehr.

Im Feudalismus ist das Verhältnis von notwendiger und Mehrarbeit relativ offensichtlich. Der Bauer wusste genau, wann er auf eigenem Feld arbeitete und wann er Frondienst auf den Feldern seines Herrn leistete. Er wusste, welchen Teil seiner Ernte seine Familie verbrauchen konnte und welchen er dem Pfaffen als Zehnt abliefern musste.

Im Kapitalismus ist die Ausbeutung hingegen versteckt. Arbeiter und Kapitalist treten sich in der Regel als juristisch freie und gleiche Menschen gegenüber. Sie gehen Vertragsverhältnisse miteinander ein und es scheint so, als bekäme der Arbeiter den ganzen Arbeitstag bezahlt. Erst die wissenschaftliche Analyse macht deutlich, dass hinter dem liberalen Handel und Wandel Zwangsverhältnisse stehen, die den Arbeiter mit ebensolcher Gewalt zum Ausbeutungsobjekt degradieren wie die Knute den Sklaven. Sie zeigt auf, dass der Reichtum der Oberschichten heute nicht weniger Produkt der Aneignung fremder Arbeit ist als in der Antike oder im Mittelalter. Die Methoden dieser Aneignung, die Funktionsweise des kapitalistischen Wirtschaftssystems, unterscheidet sich jedoch grundlegend von der früherer Epochen.

Von Jürgen Strubel
aus „unsere zeit (UZ) – Zeitung der DKP“ vom 08. September 2017

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