150 Jahre »Das Kapital« von Karl Marx: Ein Haufen Begriffe, eine
Gegenstandsbestimmung und ein paar Splitter Begriffsgeschichte
Der
Begriff „Politische Ökonomie“ wird heutzutage fast ausschließlich von
Marxistinnen und Marxisten verwendet, von Marx erdacht ist er nicht.
Er geht,
soweit sich dies verfolgen lässt, auf Antoine de Monchrétien zurück. Dieser
französische Autor verfasste im Jahre 1637 eine Broschüre mit dem Titel
„L‘économie politique“.
Bald darauf bürgerte sich der Ausdruck „political
economy“ im englischen Sprachraum ein und fand in der Folge international
Verwendung.
Dabei
dachte er nicht die Sorte von Haushalt, an die ein heutiger Westeuropäer denkt,
der dieses Wort hört. Der griechische Oikos war eine, zumindest dem Ideal nach,
selbstversorgende Wirtschaftseinheit. Neben der Großfamilie des Oikenbesitzers
gehörten ihr auch Mägde und Knechte, Sklavinnen und Sklaven an.
Xenophon
war ein konservativer Mann, der die überkommene Ordnung des athenischen
Stadtstaates bewahren, die Herrschaft der athenischen Sklavenhalteraristokratie
verewigen wollte. Die Oikenwirtschaft, die das materielle Fundament der
griechischen Sklavenhalteroligarchie bildete, verlor zu seinen Lebzeiten jedoch
stetig an Bedeutung. Große Reichtümer wurden durch Handel und Geldwirtschaft
angehäuft; kontrolliert nicht von athenischen Stadtbürgern, sondern von Metöken
– Menschen, die ohne Bürgerrecht in Athen lebten.
Auf
Dauer, dies sahen klügere Köpfe der athenischen Herrenschicht klar, drohte
diese Entwicklung die angestammte Ordnung zu untergraben. Xenophon wollte
seinen Klassengenossen Wissen darüber vermitteln, wie sie ihre Oiken besser
leiten, ihre wirtschaftliche Stabilität und Autarkie bewahren konnten. Er
behandelte Fragen wie die Notwendigkeit von Sparsamkeit und Ordnungsliebe, die
Ausbildung von Hausfrauen, Verwaltern und Arbeitern sowie die Grundregeln der
Landwirtschaft.
Die
Oikenwirtschaft ging unter, Xenophons Bemühungen zum Trotz. Sein Begriff
Ökonomie überlebte, wenn sich seine Bedeutung im Laufe der Jahrtausende auch
wandelte. Stets jedoch beinhaltete er das Nachdenken über die Frage, wie
menschliche Gesellschaften die Herstellung ihrer materiellen Grundlagen
organisieren, die notwendigen Arbeitsprozesse und die Verteilung der
Arbeitsprodukte zweckmäßig und stabil gestalten können.
Das Kapital - Marx Hauptwerk, Foto: UZ |
Das
Adjektiv „politisch“ kommt von Polis, Staat. Als Antoine de Monchrétien es
hinzufügte, dachte er in größeren Dimensionen als seine antiken oder
mittelalterlichen Vorläufer. De Monchrétien schrieb in der Epoche des
aufsteigenden Absolutismus, der sich herausbildenden Nationalstaaten.
Nicht
mehr der selbstwirtschaftende Haushalt des einzelnen Sklavenhalters, auch nicht
die lokal beschränkten feudalen Wirtschaftseinheiten, sondern das Gedeihen des
„Haushalts“ eines ganzen Flächenstaates stand im Zentrum seiner Überlegungen.
Heute ist selbst dieser Blickpunkt zu eng geworden. Die Analyse des modernen
Kapitalismus kann zwar nicht von der Existenz der Nationalstaaten abstrahieren,
zu verstehen ist diese Gesellschaftordnung jedoch nur als weltumspannendes
System.
Was also
ist Politische Ökonomie? Eine moderne Kurzdefinition könnte lauten: Die Politische
Ökonomie ist die Wissenschaft, die sich mit den Gesetzen der Reproduktion der
materiellen Grundlagen der menschlichen Gesellschaften beschäftigt.
Sie dreht
sich um die Frage, auf welche Weise die Menschen in den verschiedenen
historischen Epochen den materiellen Produktionsprozess organisieren und welche
Verhältnisse sie untereinander in Bezug auf diesen Prozess eingehen. Die
Politische Ökonomie ist eine historische Wissenschaft, denn die Organisation
der materiellen Reproduktion menschlicher Gesellschaften ist, ebenso wie alle
anderen Aspekte dieser Gesellschaften, historischen Veränderungen unterworfen.
Produktion, Arbeit und Reproduktion
Auch die
Begriffe Produktion und Reproduktion sind erklärungsbedürftig. In ihnen steckt
das lateinische „producere“, zu deutsch „hervorführen“. Im Produktionsprozess
führt der Mensch nützliche Gegenstände aus der Natur hervor. Im Gegensatz zum
Tier wirkt er bewusst auf die Natur ein, verändert sie nach seinen
Vorstellungen und schafft sich so aktiv die Gegenstände und Lebensbedingungen,
die er benötigt. Mit anderen Worten: Der Mensch arbeitet.
Beim
Arbeitsbegriff lohnt es, einen Moment zu verweilen: Sowohl in der klassischen
bürgerlichen Ökonomie als auch im Marxismus ist er eine zentrale, wenn nicht
sogar die grundlegende Kategorie, ohne deren Verständnis die anderen Begriffe
schwerlich zu erfassen sind. Zwar ist Arbeit ein alltägliches Wort, das
Alltagsverständnis ist jedoch, wie so oft in den Wissenschaften, zu ungenau.
Viele Tätigkeiten, die umgangssprachlich als Arbeit bezeichnet werden, sind es
politökonomisch nicht.
Die
Schülerin, die eine Klassenarbeit schreibt, arbeitet nicht, auch wenn sie dies
ganz anders empfindet. Die Beziehungsarbeit der Eheleute und die Trauerarbeit
der Witwe sind ebenso wenig Arbeit wie das, was der Bodybuilder beim Work-Out
leistet. Das Geld des Anlegers arbeitet schon gar nicht; nicht einmal der
Börsianer, der dieses Geld verwaltet – ohne infrage stellen zu wollen, dass er
tagtäglich lange Stunden mit einer stressbeladenen Tätigkeit zubringt.
Was also
ist Arbeit? Eine erste Definition könnte lauten: Arbeit ist bewusste Tätigkeit
zur Schaffung von Gebrauchswerten, was hier vorläufig einfach ein „nützlicher
Gegenstand“ sein soll. Wichtig ist hier das Adjektiv „bewusst“. Die Arbeit des
Jägers unterscheidet sich darin von der Jagd des Raubtieres, dass ersterer
planvoll und unter Einsatz erlernter, kulturell tradierter Techniken handelt,
letzteres angeborenen Instinkten folgt. Um es mit Marx Worten zu sagen:
„Eine
Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene
beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was
aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene
auszeichnet, ist, dass er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in
Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim
Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell
vorhanden war.“ (Marx-Engels-Werke – MEW 23/193)
Unser Bild von Marx machen wir uns selber, Foto: UZ |
Eine
andere, etwas kompliziertere Definition lautet „Arbeit ist die bewusste
Vermittlung des menschlichen Stoffwechsels mit der Natur.“ Marx schreibt: „Als
Bildnerin von Gebrauchswerten, als nützliche Arbeit, ist die Arbeit daher eine
von allen Gesellschaftsformen unabhängige Existenzbedingung des Menschen, ewige
Naturnotwendigkeit, um den Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur, also das
menschliche Leben zu vermitteln.“ (MEW 23/57)
Während
der Ausdruck „Stoffwechsel mit der Natur“ verständlich sein dürfte, steckt
hinter dem Wort „vermitteln“ ein philosophisches Konzept, dass kurz zu bedenken
ist. Das „Vermittelnde Dritte“ tritt zwischen zwei Extreme, die es in einen
Zusammenhang bringt.
Am
Beispiel: Das Reh, das Wasser aus dem Bächlein säuft, benötigt zwischen sich
und der Natur kein vermittelndes Drittes; sein Naturverhältnis ist unmittelbar.
Der Mensch, der Wasser aus einem Brunnen schöpft, musste diesen zunächst
graben, befestigen, das Holz für einen Eimer beschaffen etc.
Zwischen
der Befriedigung seines Lebensbedürfnisses, dem Stillen seines Durstes, und der
Natur steht eine lange Kette von Arbeitsschritten. Eine Kette, die im Lauf der
Geschichte immer länger und komplexer wurde. Bevor wir einen Wasserhahn
aufdrehen oder eine Mineralwasserflasche öffnen können, müssen unzählige
Arbeiterinnen und Arbeiter in den verschiedensten, weltweit verflochtenen
Industriezweigen tätig geworden sein. Ihre Arbeit vermittelt unseren
Stoffwechsel mit der Natur.
Die
Herstellung der lebensnotwendigen Güter ist kein einmaliger Vorgang, der
irgendwann abgeschlossen wäre. Der Produktionsprozess muss fortwährend erneut
beginnen. Lebensmittel werden verbraucht, Maschinen abgenutzt, Gebäude
verfallen. Die Menschen müssen daher beständig die Bedingungen wiederherstellen
(reproduzieren), die sie in die Lage versetzen, die Produktion erneut
aufzunehmen. Aufgebrauchte Rohstoffe müssen ebenso ersetzt werden wie
abgenutzte oder veraltete Werkzeuge und Maschinen.
Aber auch
die Menschen selbst müssen sich selbst beständig ‚wiederherstellen’. Sie
benötigen Nahrung und Erholung zur Wiederherstellung ihrer im
Produktionsprozess verausgabten Kräfte. Sie benötigen Ersatz für verschlissene
Kleidung oder verfallene Gebäude. Sie benötigen die Auffrischung der
Fertigkeiten und Kenntnisse, die sie im Produktionsprozess anwenden. Schließlich
benötigen sie Ersatz für sich selbst. Alte und Kranke scheiden aus dem
Produktionsprozess aus, für sie müssen immer wieder genügend junge Menschen mit
entsprechenden Fähigkeiten und Kenntnissen bereitstehen.
Klassen
Der
Reproduktionsprozess bildet die materielle Basis aller menschlichen
Gesellschaften. Aus diesem Grund steht er in enger Wechselwirkung mit allen
Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, also etwa der Politik, der Kultur, des
Rechtswesens, der Ideologie, den Familienverhältnissen etc. Er ist jedoch nicht
in allen Gesellschaften auf die gleiche Weise organisiert, in
urgesellschaftlichen Gemeinschaften anders als in antiken
Sklavenhaltergesellschaften, im Kapitalismus, Feudalismus oder im Sozialismus.
Zum einen
unterscheiden sich die Technologien, die Mittel und Gegenstände der Arbeit in
den verschiedenen historischen Epochen. Zum anderen, damit in Wechselwirkung,
unterscheiden sich die Verhältnisse, die Menschen in Bezug auf den
Produktionsprozess einnehmen.
Eine
antike Sklavin nimmt eine andere gesellschaftliche Stellung ein als ein
Leibeigener oder ein Lohnarbeiter, ein Oikenbesitzer eine andere als ein
Feudalherr oder ein Kapitalist. Die Beziehungen zwischen den gesellschaftlichen
Klassen – das Verhältnis von Sklavenhalter und Sklavin ist ein anderes als das
von Kapitalistin und Lohnarbeiter – unterscheiden sich ebenso wie die
Verhältnisse innerhalb der jeweiligen Klassen.
Marx lesen: Heute so aktuell wie vor 150 Jahren, Foto: UZ |
Die im
Familienverbund wirtschaftenden hörigen Bäuerinnen und Bauern des Mittelalters
stehen anders zueinander als die Arbeiterinnen und Arbeiter eines
sozialistischen Industriebetriebes, das Konkurrenzverhältnis unter Kapitalisten
unterscheidet sich grundlegend von den Beziehungen unter römischen Patriziern.
Auch
Klassenverhältnisse bilden sich innerhalb der Entwicklung einer Gesellschaft
immer wieder neu. Während die Menschen sich selbst und die Mittel und
Gegenstände ihrer Arbeit reproduzieren, stellen sie zugleich die sozialen
Verhältnisse wieder her, die diese spezifische Gesellschaft konstituieren.
Ein
Leibeigener reproduziert mit seiner Arbeit sich selbst, seine Frau und seine
Kinder als Leibeigene. Ebenso ernährt er den Feudalherren und gibt diesem die
Mittel, die ihn das Feudalherrendasein ermöglichen. Der Leibeigene reproduziert
mit seiner Arbeit das Feudalsystem.
Zusammenfassend
können wir festhalten, dass der Begriff des Reproduktionsprozesses bei Marx
drei Dimensionen umfasst: Neben die beständige Wiederherstellung der sachlichen
Bedingungen (der Produktionsmittel) und der persönlichen Bedingungen (der
Produzenten) des Produktionsprozesses tritt drittens die Wiederherstellung der
gesellschaftlichen Bedingungen, d. h. der ökonomischen, sozialen, politischen
und ideologischen Verhältnisse, unter denen sich die Produktion vollzieht.
Produktivkräfte, Produktionsverhältnisse und
Produktionsweise
Damit
wären wir bei drei Begriffen angelangt, die in der marxistischen Politischen
Ökonomie eine ebenso zentrale Rolle einnehmen wie in der marxistischen
Philosophie: Die Begriffe Produktivkräfte, Produktionsverhältnisse und
Produktionsweise.
Die
Produktivkraft der Arbeit ist ihre Fähigkeit, nützliche Gegenstände aus der
Natur hervorzuführen („producere“). Je höher die Produktivkraft, desto größer
die Masse und die Vielfalt der Gegenstände, die eine gegebene Arbeitsmenge zu
erschaffen vermag. Andersherum: Eine gegebene Menge nützlicher Gegenstände kann
bei hoher Produktivkraft mit vergleichsweise wenig Arbeitsaufwand hergestellt
werden.
Der Stand
von Werkzeugeinsatz und Maschinerie, die Herausbildung und Verbesserung neuer
Technologien, ebenso die Erfindung neuer und besserer Produktarten sind Momente
der Produktivkraftentwicklung. Hauptproduktivkraft nach marxistischem
Verständnis ist der Mensch. Er ist es, der die Werkzeuge und Maschinen
erschafft, die Technologien erdenkt und anwendet; seine Arbeit ist es, die die
Natur zweckmäßig umformt.
Der
Begriff der Produktivkraft stellt ein stoffliches Verhältnis ins Zentrum der
Betrachtung: Der Mensch, selbst ein stoffliches Wesen, mithin eine Naturkraft,
wirkt mit stofflichen Mitteln auf die Natur ein. Das Ergebnis ist ein Quantum
nutzbringend umgeformter Naturstoff. Art und Menge dieses umgeformten
Naturstoffs hängen ab vom historischen erreichten Niveau der Technologie – oder
eben, genauer formuliert, vom Entwicklungsstand der Produktivkräfte.
Neben
dieser stofflichen hat der Arbeitsprozess eine gesellschaftliche Seite.
Robinsons Insel, wiewohl in der akademischen Volkswirtschaftslehre sehr
beliebt, ist eine literarische Fiktion. Menschen arbeiten nicht auf sich
gestellt, sie kooperieren oder konkurrieren, koordinieren ihre Arbeiten,
arbeiten formal selbstbestimmt oder auf Befehl, verteilen ihre Arbeitsprodukte
untereinander, eignen sich die Arbeitsprodukte anderer Menschen an. Die
Verhältnisse, die sie untereinander in Bezug auf den Produktionsprozess
eingehen, nennt Marx Produktionsverhältnisse.
Ein und
derselbe stoffliche Vorgang kann im Rahmen sehr verschiedener
gesellschaftlicher Gegebenheiten vor sich gehen. Ein Hammer ist ein Hammer, ein
Schmied nutzt seine Muskelkraft, um mit seiner Hilfe Werkstücke umzuformen. Es
macht jedoch einen erheblichen Unterschied, ob dieser Schmied ein freier
Handwerker, ein Sklave, ein Leibeigener oder ein Lohnarbeiter ist. Im Gegensatz
zur Ingenieurwissenschaft, die die stofflichen Gesichtspunkte der
Produktionsprozesse ins Zentrum stellt, untersucht die Poltische Ökonomie ihre
gesellschaftlichen Aspekte, die Produktionsverhältnisse.
Foto: UZ |
Die
stoffliche und die gesellschaftliche Seite des Produktionsprozesses stehen
nicht einfach nebeneinander. Sie bedingen und beeinflussen sich wechselseitig.
Die soziale Stellung der Arbeitenden hat Einfluss auf die Arbeitsprozesse, die
eingesetzten Technologien und somit auf die stofflichen Abläufe. Andersherum
verändern Entwicklungen im Bereich der Technologie die soziale Stellung der
Arbeitenden.
Nehmen
wir unseren Schmied zum Beispiel: Zwar ist die physikalische Wirkung seiner
Kraft und seines Werkzeuges auf glühendes Eisen von seiner sozialen Lage
unabhängig, seine Lage beeinflusst aber die von ihm verrichtete Produktion.
Sklaven wurden in der Regel nur mit groben Werkzeugen ausgestattet, da sie kein
Eigeninteresse an Pflege und Erhaltung ihrer Arbeitsmaterialien hatten.
Fortschreitende
Arbeitsteilung, d. h. eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse der
Arbeitenden untereinander, führt zur Ausdifferenzierung der Werkzeuge: Ein
Hammer ist nicht mehr einfach ein Hammer, wenn sich das Schmiedehandwerk in
verschiedene spezialisierte Bereiche aufspaltet. In der Manufaktur oder der
Fließproduktion, in der fast jeder Handgriff von einem anderen Arbeiter
ausgeführt wird, entstehen ebensoviele Spezialwerkzeuge.
Bestimmte
Technologien sind mit bestimmten Produktionsverhältnissen unvereinbar.
Maschinelle Großproduktion ist nicht sinnvoll auf Basis der Sklaverei und passt
nicht zu einer Gesellschaft selbstständiger Handwerker.
Bestimmte
Produktionsverhältnisse, etwa die zünftige Organisation des Handwerks oder die
kapitalistische Konkurrenz, können technologische Entwicklungen hemmen oder
befördern.
Die
Politische Ökonomie darf weder die Seite der Produktivkraft noch die der
Produktionsverhältnisse isoliert betrachten. Es ist ihre wechselseitige
Verschränkung, die historische Entwicklungen vorantreibt oder bremst. Um die
Wechselwirkung von stofflichen und gesellschaftlichen Aspekten des
Produktionsprozesses theoretisch fassen zu können, nutzt Marx einen dritten
Begriff: Die widersprüchliche Einheit von Produktivkräften und
Produktionsverhältnissen nennt er die Produktionsweise.
Ausbeutung
Seit dem
Ende der Urgesellschaft ist der Mensch in der Lage, regelmäßig mehr zu
produzieren, als er für sein eigenes Überleben benötigt. Die Masse der
Lebensmittel, die wir verbrauchen, ist begrenzt, und so ist es die Zeit, die
auf ihre Herstellung verwendet werden muss. Die notwendige Arbeitszeit, d. h.
die für die Versorgung der eigenen Familie erforderliche Arbeitszeit, nimmt im
Zuge des technischen Fortschritts immer weiter ab.
Die
Fähigkeit, kontinuierlich über den eigenen Bedarf hinaus zu produzieren, ist
die wichtigste ökonomische Errungenschaft in der Entwicklung der Menschheit.
Sie wurde zugleich zur Basis von Ausbeutung und Unterdrückung. Aus der Abnahme
der notwendigen Arbeitszeit folgt nicht, dass die tatsächlichen Arbeitszeiten
stetig abnehmen müssten, die Menschen über immer mehr freie Zeit verfügen
könnten.
In der
Zeit, die ich nicht für mich und meine Familie arbeiten muss, kann ich für
andere arbeiten. Die über die für eigene Reproduktion notwendige Arbeit
hinausgehende Arbeit nennt Marx Mehrarbeit. Sie ermöglicht die Versorgung
nichtarbeitender Bevölkerungsteile, z. B. von Priestern, Soldaten,
Staatsdienern oder Aristokraten.
Sobald
sich bestimmte Teile der Bevölkerung als herrschende Klasse etablieren konnten,
beschränkten sie den Konsum der arbeitenden Menschen auf ein mehr oder minder
großes Minimum und eigneten sich das Mehrprodukt an. Sie nutzten es zur
Bestreitung ihres eigenen, in aller Regel luxuriösen Lebensstandards ebenso wie
zum Aufbau von politischen und ideologischen Unterdrückungsapparaten, die
verhinderten, dass die Arbeitenden sich aus den ihnen feindlichen
Zwangsstrukturen befreien konnten.
Alle
Klassengesellschaften beruhen auf der unentgeltlichen Aneignung der Produkte
fremder Arbeit. Die Formen dieser Aneignung sind jedoch historisch sehr
verschieden. In der Sklaverei scheint es so, als erhielte die Sklavin gar
nichts für ihre Arbeit. Doch dieser Schein trügt: Auch sie benötigt Nahrung,
Kleidung und Unterkunft. Auch der brutalste Sklavenhalter kann sich vom
Arbeitsprodukt seiner Sklaven nur den Teil aneignen, der nach Abzug des
Lebensnotwendigsten übrig bleibt. Handelte er anders, er wäre bald kein
Sklavenhalter mehr.
Im
Feudalismus ist das Verhältnis von notwendiger und Mehrarbeit relativ
offensichtlich. Der Bauer wusste genau, wann er auf eigenem Feld arbeitete und
wann er Frondienst auf den Feldern seines Herrn leistete. Er wusste, welchen
Teil seiner Ernte seine Familie verbrauchen konnte und welchen er dem Pfaffen
als Zehnt abliefern musste.
Im
Kapitalismus ist die Ausbeutung hingegen versteckt. Arbeiter und Kapitalist
treten sich in der Regel als juristisch freie und gleiche Menschen gegenüber.
Sie gehen Vertragsverhältnisse miteinander ein und es scheint so, als bekäme
der Arbeiter den ganzen Arbeitstag bezahlt. Erst die wissenschaftliche Analyse
macht deutlich, dass hinter dem liberalen Handel und Wandel Zwangsverhältnisse
stehen, die den Arbeiter mit ebensolcher Gewalt zum Ausbeutungsobjekt
degradieren wie die Knute den Sklaven. Sie zeigt auf, dass der Reichtum der
Oberschichten heute nicht weniger Produkt der Aneignung fremder Arbeit ist als
in der Antike oder im Mittelalter. Die Methoden dieser Aneignung, die
Funktionsweise des kapitalistischen Wirtschaftssystems, unterscheidet sich
jedoch grundlegend von der früherer Epochen.
Von Jürgen Strubel
aus „unsere zeit (UZ) – Zeitung der DKP“ vom 08. September 2017
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