150 Jahre »Das Kapital«: Hat uns Karl Marx noch
etwas zu den neuen Beschäftigungsverhältnissen zu sagen? Zur Unterordnung der
Arbeit unter das Kapital einst und heute
Wohl kaum ein Buch hat Linke international so
beschäftigt. Am 14. September 1867 meldete das Börsenblatt für den Deutschen
Buchhandel das Erscheinen des ersten Bandes von Karl Marx’ grundlegender
Analyse »Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie«, ein Weltbestseller, der
seitdem in über 40 Sprachen übersetzt und in hunderten Ausgaben gedruckt worden
ist.
Ein ganz
wesentliches Charakteristikum des Kapitalismus ist die Unterordnung
(Subsumtion) der Arbeit unter das Kapital, demzufolge des Arbeiters unter den
Kapitalisten,¹ denn es sind die Anweisungen des letzteren, denen der erstere zu
folgen und unter dessen Kontrolle und Kommando er zu arbeiten hat.
Marx hat
seine im ersten Band des »Kapitals« gegebene Darstellung mit dem Titel »Der
Produktionsprozess des Kapitals« versehen. Den vorbereitenden Untersuchungen
über »Ware und Geld« (Abschnitt I) und »Verwandlung von Geld in Kapital«
(Abschnitt II) folgen drei Abschnitte, in denen er diesen Produktionsprozess en
détail untersucht. Zunächst unterscheidet er »Die Produktion des absoluten
Mehrwerts« (Abschnitt III) und »Die Produktion des relativen Mehrwerts«
(Abschnitt IV), darauf folgt der vergleichende Abschnitt V »Die Produktion des
absoluten und relativen Mehrwerts«.
In dem
darin enthaltenen 14. Kapitel (»Absoluter und relativer Mehrwert«) vermerkt er
zur Produktion des absoluten Mehrwerts: Sie »bedingt, dass die sachlichen
Arbeitsbedingungen in Kapital und die Arbeiter in Lohnarbeiter verwandelt sind,
dass die Produkte als Waren, d. h. für den Verkauf produziert werden, dass der
Produktionsprozess zugleich Konsumtionsprozess der Arbeitskraft durch das
Kapital und daher der direkten Kontrolle des Kapitalisten unterworfen ist,
endlich dass der Arbeitsprozess, also der Arbeitstag, über den Punkt hinaus
verlängert wird, wo der Arbeiter nur ein Äquivalent für den Wert seiner
Arbeitskraft produziert hätte. Die allgemeinen Bedingungen der Warenproduktion
vorausgesetzt, besteht die Produktion des absoluten Mehrwerts einfach in der
Verlängerung des Arbeitstags über die Grenze der zum Leben des Arbeiters selbst
notwendigen Arbeitszeit und in der Aneignung der Mehrarbeit durch das Kapital.
Dieser Prozess kann vorgehn und geht vor auf Grundlage von Betriebsweisen, die
ohne Zutun des Kapitals historisch überliefert sind. Es findet dann nur eine
formelle Metamorphose statt, oder die kapitalistische Ausbeutungsweise
unterscheidet sich von den früheren, wie Sklavensystem usw., nur dadurch, dass
die Mehrarbeit hier durch direkten Zwang abgerungen, dort durch ›freiwilligen‹
Verkauf der Arbeitskraft vermittelt wird. Die Produktion des absoluten
Mehrwerts unterstellt also nur formelle Subsumtion der Arbeit unter das
Kapital.«
Anhängsel eines toten Mechanismus
Arbeiterin bei Amazon in Tracy, Kalifornien (USA), Foto: junge Welt |
Zur
Produktion des relativen Mehrwerts dagegen stellt er anschließend fest: Sie
»setzt die Produktion des absoluten Mehrwerts voraus, also auch die
entsprechende allgemeine Form der kapitalistischen Produktion. Ihr Zweck ist
Erhöhung des Mehrwerts durch Verkürzung der notwendigen Arbeitszeit, unabhängig
von den Grenzen des Arbeitstags. Das Ziel wird erreicht durch Entwicklung der
Produktivkräfte der Arbeit. Dies bedingt jedoch eine Revolution des
Arbeitsprozesses selbst. Es genügt nicht mehr, ihn zu verlängern, er muss neu
gestaltet werden. Die Produktion des relativen Mehrwerts unterstellt also eine
spezifisch kapitalistische Produktionsweise, die mit ihren Methoden, Mitteln
und Bedingungen selbst erst auf Grundlage der formellen Subsumtion der Arbeit
unter das Kapital naturwüchsig entsteht und ausgebildet wird. An die Stelle der
formellen tritt die reelle Subsumtion der Arbeit unter das Kapital.«³
Die
Unterscheidung von formeller und reeller Subsumtion ist also zunächst
historischer Natur, denn die von Marx angesprochene »Revolution des
Arbeitsprozesses selbst« war nichts anderes als die industrielle Revolution,
die in England zwischen 1760 und 1830 stattfand. In deren Ergebnis erst
entstand jene spezifisch kapitalistische Produktionsweise, deren Merkmale von
ihm vor allem im 13. Kapitel über »Maschinerie und große Industrie« abgehandelt
werden. Die von ihm hier gegebene plastische Darstellung der drastisch
veränderten Arbeitsbedingungen verdeutlicht den Unterschied zwischen den beiden
Arten von Subsumtion: »In Manufaktur und Handwerk bedient sich der Arbeiter des
Werkzeugs, in der Fabrik dient er der Maschine. Dort geht von ihm die Bewegung
des Arbeitsmittels aus, dessen Bewegung er hier zu folgen hat. In der
Manufaktur bilden die Arbeiter Glieder eines lebendigen Mechanismus. In der
Fabrik existiert ein toter Mechanismus unabhängig von ihnen, und sie werden ihm
als lebendige Anhängsel einverleibt.«⁴ Zudem vermerkt er, dass »die Manufaktur
die gesellschaftliche Produktion weder in ihrem ganzen Umfang ergreifen, noch
in ihrer Tiefe umwälzen« konnte.⁵
In einem
von Marx für den ersten Band entworfenen Kapitel 6 »Resultate des unmittelbaren
Produktionsprozesses« befindet sich eine Darstellung über formelle und reelle
Subsumtion (sowie produktive und unproduktive Arbeit), aus der die enorme
Bedeutung dieser Unterscheidung für die politökonomische Analyse der
Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise, und zwar nicht nur aus
historischer, sondern auch aus aktueller Sicht, noch viel klarer ersichtlich
wird.⁶ Dies zu erkennen, setzt allerdings voraus, in dem Kapitel nicht bloß,
wie allgemein üblich, eine vorläufige und daher später entbehrliche
Zusammenfassung des ersten »Kapital«-Bandes zu sehen, sondern die darin
enthaltene, knapp zwanzig Manuskriptseiten umfassende Darstellung als eine
Spezialuntersuchung zu betrachten, deren Inhalt Marx nur zu einem kleinen Teil
in den dann veröffentlichten ersten Band übernommen hat.⁷
Dort
schreibt Marx zur formellen Subsumtion: »Es ist die allgemeine Form alles
kapitalistischen Produktionsprozesses; es ist aber zugleich eine besondre Form
neben der entwickelten spezifisch-kapitalistischen Produktionsweise, weil die
letztre die erstre, die erstre aber keineswegs notwendig die letztre involviert
[enthält, in sich einschließt].«⁸ Diese besondre Form nennt er im selben
Manuskript die »bloß formell kapitalistische Produktionsweise«,⁹ ein Terminus,
der im veröffentlichen ersten Band des »Kapitals« fehlt.
Produktionsweise eigener Art
Die
formelle Subsumtion der Arbeit unter das Kapital kann nur eine bloß formell
kapitalistische Produktionsweise hervorbringen, die keineswegs automatisch jene
spezifisch-kapitalistische »involviert«, die durch die reelle Subsumtion der
Arbeit unter das Kapital charakterisiert ist. Dies verdeutlicht ein Blick in
die Geschichte des Kapitalismus in Europa: Weder die oberitalienischen
Compagnien des 14. noch die oberdeutschen Kapitalgesellschaften des 16.
Jahrhunderts führten zur Errichtung einer spezifisch-kapitalistischen
Produktionsweise, sondern gingen im Prozess der Refeudalisierung der Wirtschaft
wieder unter. Sie waren in diesem Sinne sowohl Symbole einer Glanzzeit des
Frühkapitalismus als auch Sackgassen der Geschichte. Dasselbe traf auf das
sogenannte Verlagssystem zu, worin ein selbständiger (»verlegter«) Handwerker
mit eigenen Produktionsinstrumenten vom Kaufmann gelieferte Rohstoffe
bearbeitete und ihm das fertige Produkt gegen Entgelt ablieferte.
Der politökonomische
Begriff der bloß formell-kapitalistischen Produktionsweise macht – insbesondere
in seiner Entgegensetzung zu dem der spezifisch-kapitalistischen
Produktionsweise – deutlich, dass das Kapital erst mit dem Einsetzen der
industriellen Revolution, also dem Übergang zur großen Industrie, seine
wirkliche Herrschaft antritt, wohingegen die vorherigen Entwicklungen durchaus
reversibler Natur waren.¹⁰
Entscheidend
wichtig ist auch Marx’ Hinweis in diesem Kapitel, dass »sich mit der Produktion
des relativen Mehrwerts […] die ganze reale Gestalt der Produktionsweise ändert
und eine spezifisch kapitalistische Produktionsweise (auch technologisch)
entspringt, auf deren Basis und mit der sich zugleich auch erst die dem
kapitalistischen Produktionsprozesse entsprechenden Produktionsverhältnisse
zwischen den verschiednen Agenten der Produktion, und speziell zwischen
Kapitalist und Lohnarbeiter, entwickeln«,¹¹ weil die kapitalistische
Produktionsweise sich erst jetzt als »eine Produktionsweise sui generis [eigener
Art] gestaltet«.¹² Nun erst konnten sich solche grundlegenden Merkmale
kapitalistischen Wirtschaftens herausbilden wie die Aufspaltung des Mehrwerts
in Profit, Zins und Rente, der Krisenzyklus, die Durchschnittsprofitrate usw.
Das
Verhältnis von formeller und reeller Subsumtion ist aber keineswegs rein
historischer Natur. Ein aktueller Blick auf das, was Marx im ersten Band des
»Kapitals« Zwitterformen nennt, zeigt das ganz deutlich. Zu deren
Charakteristika zählt er, dass »die Mehrarbeit weder durch direkten Zwang dem
Produzenten ausgepumpt wird, noch auch dessen formelle Unterordnung unter das
Kapital eingetreten ist«, wobei, »wie das Beispiel der modernen Hausarbeit
zeigt, […] gewisse Zwitterformen auf dem Hintergrund der großen Industrie
stellenweis reproduziert [werden], wenn auch mit gänzlich veränderter
Physiognomie«.¹³
Zwitterformen
Streiks bei amazon, Foto: junge Welt |
Was Marx
Hausarbeit nennt und später Heimarbeit genannt wurde, wird heute als Arbeit im
»Home-Office« bezeichnet. Sie ist ein hervorragendes Beispiel für eine solche Zwitterform,
denn sie erweckt den Anschein, dass die Arbeitskräfte ihre Arbeit selbst
organisieren, ihre Arbeitszeit selbst bestimmen, auch die Bedingungen, unter
denen sie – teilweise mit ihnen selbst gehörenden Produktionsmitteln (wie z. B.
Computern) – zu Hause arbeiten usw., also ganz so, wie das die vom
Kaufmannskapital »verlegten« Handwerker in den Zeiten des Frühkapitalismus
getan hatten. In bezug auf die Möglichkeiten der Selbstorganisation ihrer
Arbeit geht es ihnen anscheinend sehr viel besser als denen, die in der Firma
ihre Berufstätigkeit zu festgelegten Zeiten vollziehen. Aber die
»Unselbständigen« haben ein Anrecht auf die vom Gesetzgeber vorgeschriebenen
elf Stunden ununterbrochen arbeitsfreier Ruhezeit; die in vielen Unternehmen
gewünschte permanente Erreichbarkeit der Beschäftigten widerspricht dem genauso
wie das Lesen einer einzigen beruflichen E-Mail in der Ruhezeit und kann,
zumindest theoretisch, von seiten der Gewerkschaften und Betriebsräte
unterbunden werden. Die im »Home-Office« Arbeitenden jedoch müssen, wie in
frühkapitalistischen Zeiten, unter den mörderischen Bedingungen von Angebot und
Nachfrage für ihre Auftraggeber stets verfügbar und zur Arbeit bereit sein,
weil der Auftrag sonst an die Konkurrenz ginge. Der vom Kapital angestrebte
Idealzustand, dass die Lebenszeit »seiner Arbeiter« sich vollständig in
Arbeitszeit verwandelt – hier wird er sukzessive erreicht, sogar mit dem
Einverständnis der scheinbar ganz freiwillig nur sich selbst Ausbeutenden.
In
gewisser Weise gleicht das Verhältnis zwischen dem, der selbständig im
»Home-Office« arbeitet, und seinem Auftraggeber dem der formellen Subsumtion:
Es ist »das reine Geldverhältnis zwischen dem, der die Surplusarbeit aneignet
und dem, der sie liefert; soweit Unterordnung entspringt, entspringt sie aus
dem bestimmten Inhalt des Verkaufs, nicht aus einer ihm vorausgesetzten
Unterordnung, wodurch der Produzent in [ein] andres Verhältnis als das
Geldverhältnis (Verhältnis von Warenbesitzer zu Warenbesitzer) gegen den
Exploiteur seiner Arbeit […] gestellt wäre; es ist nur als Besitzer der
Arbeitsbedingungen, dass hier der Käufer den Verkäufer in seine ökonomische
Abhängigkeit bringt; kein politisches und sozial fixiertes Verhältnis von Über-
und Unterordnung.«¹⁴
Was am
Beispiel der Arbeit im »Home-Office« illustriert worden ist, gilt heutzutage
ebenso für Arbeiten in neugegründeten kleineren Firmen, die ursprünglich
Abteilungen in Großbetrieben waren und auf dem Wege des sogenannten Outsourcing
in eine gewisse Selbständigkeit entlassen werden. In solchen Firmen sind die
Arbeitsbedingungen der Beschäftigten häufig viel schlechter, da das Ableisten
von Überstunden (»im Interesse des Fortbestands der neugegründeten Firma«) zum
Alltag gehört, tarifliche Bindungen einfacher umgangen werden können, keine
Betriebsräte gebildet werden müssen usw. So kehrt die Produktion von absolutem
Mehrwert auf dem Wege der maßlosen Verlängerung des Arbeitstages zurück und
feiert neue Triumphe. Und in vielen Fällen erweisen sich die Ausgründungen auch
und gerade für die ursprünglichen »Mutterbetriebe« als höchst profitabel,
nämlich dann, wenn die letzteren die von den ersteren billiger hergestellten
Produkte und Leistungen kaufen, um auf diese Weise selber billiger produzieren
zu können. Hinzu kommt, dass auf diese Weise in den Großbetrieben die
Beschäftigten sehr viel besser unter Druck gesetzt werden können, »im Interesse
der Sicherung ihrer Arbeitsplätze« der Übernahme von zunächst in den
Ausgründungen eingeführten Arbeitsbedingungen zuzustimmen.
Folglich
gibt es Produktion von absolutem Mehrwert mittels formeller Unterordnung der
Arbeit unter das Kapital, wenn auch in erneuerter Gestalt (»mit gänzlich
veränderter Physiognomie«), nicht nur in den »Zwitterformen«, sondern ebenso in
jedem neugegründeten Industriebetrieb. Auch die reelle Subsumtion des Arbeiters
erscheint in erneuerter Gestalt. Die Einführung moderner computergesteuerter
Produktionsanlagen erzeugt nur scheinbar völlig andere Arbeitsverhältnisse als
im traditionellen Fabrikbetrieb, denn die von Marx im ersten Band des
»Kapitals« gegebene Darstellung der Arbeit in der mechanischen Fabrik gilt in
wesentlichen Teilen auch für die in der automatisierten geleistete.
Mittel der Tortur
Foto: junge Welt |
So
vermerkt er zu dem von ihm untersuchten Prozess der »Intensifikation der
Arbeit«, er vollziehe sich »in doppelter Weise: durch erhöhte Geschwindigkeit
der Maschinen und erweiterten Umfang der von demselben Arbeiter zu
überwachenden Maschinerie oder seines Arbeitsfeldes«.¹⁵ Ausdrücklich benennt er
das Überwachen als Tätigkeitsmerkmal des Fabrikarbeiters und stellt wenig
später fest: »Während die Maschinenarbeit das Nervensystem aufs äußerste
angreift, unterdrückt sie das vielseitige Spiel der Muskeln und konfisziert
alle freie körperliche und geistige Tätigkeit. Selbst die Erleichterung der
Arbeit wird zum Mittel der Tortur, indem die Maschine nicht den Arbeiter von
der Arbeit befreit, sondern seine Arbeit vom Inhalt. […] Die Scheidung der
geistigen Potenzen des Produktionsprozesses von der Handarbeit und die
Verwandlung derselben in Mächte des Kapitals über die Arbeit vollendet sich […]
in der auf Grundlage der Maschinerie aufgebauten großen Industrie.«¹⁶
Einer der
von ihm zitierten Zeitgenossen, der Ingenieur, Erfinder und Unternehmer James
Nasmyth, meinte daher: »Der bezeichnende Zug unsrer modernen mechanischen
Verbessrungen ist die Einführung selbsttätiger Werkzeugmaschinen. Was jetzt ein
mechanischer Arbeiter zu tun hat, und was jeder Junge tun kann, ist nicht,
selbst zu arbeiten, sondern die schöne Arbeit der Maschine zu überwachen. Die
ganze von ihrer Geschicklichkeit ausschließlich abhängende Klasse von Arbeitern
ist jetzt beseitigt.«¹⁷
Ganz
dasselbe konstatierte hundertfünfzig Jahre später Marcus Schwarzbach in seinem
Buch »Work around the clock?« zu den im Rahmen von »Industrie 4.0« tätigen
Assistenzsystemen, dass sie nämlich »die Anforderungen an die Beschäftigten und
die Anlernzeiten so weit reduzieren, dass Leute von der Straße geholt und an
beliebige Arbeitsplätze gesetzt werden können«.¹⁸ Gewiss, die Systeme selbst
werden noch von Ingenieuren und Wissenschaftlern konzipiert und konstruiert,
teilweise auch schon assistiert von Systemen höherer Ordnung, aber für die
Beschäftigten gilt umso mehr, was der Erfinder des »Scientific Management«,
Frederick W. Taylor, schon vor hundert Jahren auf die kurze Formel gebracht
hatte: »Sie sollen gar nicht denken. Fürs Denken werden andre Leute bezahlt.«
Die
sozialökonomischen Veränderungen durch Automatisierung, Computerisierung und
Digitalisierung sollten also nicht überschätzt werden. Ebensowenig jedoch
dürfen ihre sozialpsychologischen Wirkungen unterschätzt werden. Denn auch
heute noch gilt der »Blaukittel« gegenüber dem »Weißkittel« als der
Unqualifizierte, Ungebildete usw., obwohl der »mechanische Arbeiter« sein
Handwerk versteht, wogegen der »Überwacher« automatischer Taktstraßen und
Raffinerien lediglich wissen muss, welchen Schalter er in vom System
signalisierten Gefahrensituationen betätigen muss, denn für die gegebenenfalls
notwendige Reparatur desselben sind schon wieder andere zuständig. Wenn
automatische Sicherungsanlagen mögliche Auswirkungen eventuell auftretender
Störungen vermindern oder gar verhindern, so bedürfen sie ganz besonders
konzentrierter Überwachung. (Dem falschen Bewusstsein mag ja die Funktion des
Wächters als erstrebenswertes Ziel erscheinen, aber in der Realität ist und
bleibt der Wächter stets der Gefangene des zu Bewachenden.) Waren die
»Blaukittel« nach Marx »lebendige Anhängsel« des Maschinensystems, so sind die
»Weißkittel« – allem ästhetischen Schein zum Trotz – ebensolche Anhängsel des
computergesteuerten Automatensystems. Beide unterliegen dem Kommando des
Kapitalisten und leisten demzufolge kommandierte Arbeit.
Die
Unterordnung des Arbeiters, sowohl der »Blaukittel« wie der »Weißkittel«, unter
das Kapital ist also durch wissenschaftlich-technische Neuerungen gleich
welcher Art ganz offenbar nicht zu beseitigen. Dies erfordert vielmehr die
Beseitigung des Kapitalverhältnisses selbst (welches bekanntlich nicht durch
das Grundgesetz geschützt ist).
Anmerkungen:
1 Termini
wie Arbeiter, Kapitalist usw. umfassen stets auch Arbeiterin, Kapitalistin usw.
2 Vgl. in
den Marx-Engels-Werken (MEW), Bd. 23, S. 199, 315, 354, 376/77, 446, 509, 533,
600 u. 766
3 Diese
Passagen sind nur in der 2. Auflage von Bd. 1 des »Kapitals« enthalten und
werden daher (in modernisierter Orthographie und Interpunktion) zitiert nach
der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA2), Bd. II/6, S. 479 f. In der von Friedrich
Engels herausgegebenen 4. Auflage wurden sie stark gekürzt (vgl. MEW, Bd. 23,
S. 532 f.). In meiner Neuausgabe (siehe die Angaben im Vorspann) sind sie, der
2. Auflage entsprechend, wieder in den Text aufgenommen.
4 MEW,
Bd. 23, S. 445
5 MEW,
Bd. 23, S. 390
6 Das
Manuskript wurde zuerst (zweisprachig) 1933 im Moskauer »Archiv Marksa i
Engel’sa«, Bd. II (VII), publiziert, 1969 erschien ein Reprint (ohne die
russische Übersetzung) in Frankfurt am Main, 1988 die historisch-kritische Edition
in Bd. II/4.2 der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA2) und eine Separatausgabe im
Dietz-Verlag Berlin sowie 2009 eine neue Ausgabe bei Karl Dietz Berlin.
7 Ob Marx
diese Passagen aus der später erfolgten Bearbeitung des ersten Bandes bewusst
ausgeschlossen oder einfach vergessen hat, sie zu übernehmen (solche Versehen
sind bei ihm nicht ganz selten), ist wohl nicht mehr feststellbar, sollte aber
nicht daran hindern, das Kapitel eingehend zu studieren.
8 MEGA2
II/4.1, S. 91
9 MEGA2
II/4.1, S. 116
10 Die
fundamentale Bedeutung dieser Unterscheidung wurde, soweit ich sehe, erstmals
hervorgehoben im »Handbuch Wirtschaftsgeschichte«, Berlin/DDR 1981, Bd. 2, S.
608 f., in meinem Artikel »Allgemeine Charakterisierung der kapitalistischen
Produktionsweise«. Sie kann übrigens auch für die Erklärung der Reversibilität
bisheriger Sozialismusentwicklung genutzt werden, eine Problematik, auf die
hier jedoch nicht näher eingegangen werden kann. Einen ersten Deutungsversuch
in dieser Richtung hatte ich in einem Vortrag zum 80. Jahrestag der
Oktoberrevolution unternommen; vgl. in der Serie »Pankower Vorträge« das Heft
8: Oktoberrevolution in Russland – ein unmöglicher Ausbruch aus der Welt des
Kapitals? Berlin 1998, S. 22–29, insbes. S. 25 ff.
11 MEGA2
II/4.1, S. 95
12 MEGA2
II/4.1, S. 105
13 MEW,
Bd. 23, S. 533
14 MEGA2
II/4.1, S. 97
15 MEW,
Bd. 23, S. 434
16 MEW,
Bd. 23, S. 445 f.
17 MEW,
Bd. 23, S. 459
18 Marcus
Schwarzbach: Work around the clock? Industrie 4.0, die Zukunft der Arbeit und
die Gewerkschaften, Köln 2016, S. 35
Von
Thomas Kuczynski*
* Die Redaktion der Tageszeitung „junge Welt“ hat
aus Anlass des 150. Jubiläums den Ökonomen Thomas Kuczynski gebeten, über die
Aktualität von Marx’ Werk zu schreiben. Von ihm erscheint in den kommenden
Wochen im Hamburger VSA-Verlag: »Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen
Ökonomie. Erster Band, Buch I: Der Produktionsprozess des Kapitals. Neue
Textausgabe«.(jW)
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