Wie der Öffentliche Dienst zerlegt und die
Beschäftigten geschwächt wurden
Mehr als
400 000 Beschäftigte beteiligten sich am Streik. Busse und Bahnen blieben in
den Depots, der Müll wurde nicht abgeholt, 50 Millionen Briefe und Pakete nicht
ausgeliefert, Schwimmbäder und Kindergärten waren geschlossen. Auch das
Personal in Ämtern, Krankenhäusern, Flughäfen und Autobahnmeistereien beteiligte
sich am Streik. Wahrscheinlich sind jetzt viele Leser verwirrt. Um welchen
Streik geht es? Habe ich etwas nicht mitbekommen? Was ist da los? Manche werden
denken: Das ist ja toll! Und andere werden sich erinnern: Die Rede ist nicht
vom Jahr 2017, sondern vom Jahr 1992. So lange liegt der letzte große Streik im
öffentlichen Dienst zurück.
Und
tatsächlich scheint es wie aus einer anderen Zeit. Wer weiß heute noch genau,
um welche Beschäftigtengruppe im öffentlichen Dienst es eigentlich gerade geht?
Die der Länder, des Bundes oder der Kommunen? Die Busfahrer oder die
Straßenbahnfahrer? Und was haben jetzt die am Flughafen damit zu tun?
In den
vergangenen 25 Jahren wurde eine Zersplitterung des öffentlichen Dienstes
durchgesetzt, um die Löhne zu senken, Personal abzubauen und die „Effizienz“ zu
steigern, also den Arbeitsdruck zu erhöhen. Krankenpfleger, Busfahrer,
Kindergärtner und Verwaltungsangestellte spüren es an ihren eigenen Knochen und
Köpfen.
Privatisierung
und Zerklüftung der Tarifverträge dienen der Lohnsenkung. Nach Berechnungen der
Hans-Böckler-Stiftung bestehen dadurch Lohnunterschiede von bis zu 50 Prozent
für die gleiche Tätigkeit. Zudem werden die Verhandlungen getrennt geführt, das
Ergebnis ist wie beabsichtigt die Schwächung der Kampfkraft der Beschäftigten.
Es folgten niedrige Abschlüsse mit langen Laufzeiten, die häufig dennoch von
Arbeitgebern und ver.di als Erfolg verkauft wurden.
Der
Öffentliche Dienst (ÖD) hat „Vorbildcharakter“, allerdings ganz und gar nicht
im Sinne der Beschäftigten. Von diesen im Öffentlichen Dienst Beschäftigten
gibt es noch über 4 Millionen, die nach Privatisierung und Entlassung übrig
geblieben sind. Damit ist der Öffentliche Dienst immer noch der größte
Arbeitgeber im Lande, 13 Prozent der abhängig Beschäftigten arbeiten dort. Sie
stellen aber keine einheitliche Kraft dar.
An ihnen
wurde und wird die Agenda 2010 durchexerziert. Der Anteil der Teilzeit
verdoppelte sich laut einer Studie des WSI (Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches
Institut) in zwei Jahrzehnten von 16 auf 32 Prozent und liegt über dem der
Gesamtwirtschaft (ca. 26 Prozent). Die Zahl der befristeten Arbeitsverhältnisse
ist seit Mitte der 2000er Jahre von etwa 10 auf 15 Prozent gestiegen und liegt auch
deutlich über dem der Gesamtwirtschaft mit 9 bis 10 Prozent.
Beschäftigte
des ÖD sind häufiger auf Nebenjobs angewiesen als Beschäftigte der
Privatwirtschaft. 2010 mussten mehr als 130 000 Angestellte des ÖD ergänzend
Hartz IV beantragen, weil ihr Lohn unter dem Sozialhilfesatz lag. Allein in
Frankfurt/Main gab es 2014 mehrere hundert Aufstocker. In der Länder-Tarifrunde
von 2015 handelte ver.di eine Sozialkomponente von 75 Euro aus, um die die
Gehälter mindestens stiegen. Dennoch ist wegen der langen Laufzeit von zwei
Jahren nur dank der niedrigen Inflationsrate für einige Beschäftigte ein
kleines Plus herausgekommen. In der aktuellen Runde wurde auch eine
Sockelforderung aufgestellt, deren Höhe aber nicht verraten wurde. Sie dürfte
schnell unter den Tisch fallen.
Wie ging
die Geschichte 1992 aus? Am 7. Mai einigten sich verdis Vorgängergewerkschaft
ÖTV und die Arbeitgeber auf die Höhe des vorher abgelehnten Schlichterspruchs.
Die Gewerkschaftsführung beendete den Streik daraufhin sofort. Die Basis war aber
damit nicht einverstanden. Nur 44,1 statt der zu dieser Zeit noch
erforderlichen 50 Prozent stimmten für den Abschluss. Die ÖTV-Führung unter
Monika Wulf-Mathies geriet unter Druck, setzte sich jedoch über das Votum der
Basis hinweg. Ein Baustein für Enttäuschung, Frustration und Austritte.
Der
Organisationsgrad von ver.di bei den Angestellten der Länder ist heute relativ
schwach. Nötig wäre es, zu einem gemeinsamen Kampf aller Bereiche des ÖD
zurückzufinden. Das fordern auch viele ver.di-Kollegen, die ihre Zersplitterung
als Schwäche erleben. Die Ausgangslage ist auf der einen Seite gut: Die
Staatskassen sind gefüllt. Auf der anderen Seite ist sie schlecht: Es stehen
Bundestagswahlen an. Es ist davon auszugehen, dass sich bei der ver.di-Führung
viele die SPD- und Grünen-Landesregierungen nicht als Gegner von Lohnerhöhungen
erscheinen lassen wollen und einem Arbeitskampf deshalb erneut aus dem Weg
gehen.
Von
Philipp Kissel
aus „UZ – unsere zeit – Zeitung der DKP“ vom 27. Januar 2017
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