Der Auschwitz-Prozess - Ein Lehrstück deutscher
Geschichtsaufarbeitung
Als die
sowjetischen Truppen am 27. Januar 1945 das Vernichtungslager Auschwitz
befreiten, trafen sie zwar nur noch auf 6 000 Häftlinge, Alte, Kranke und nicht
mehr Transportfähige.
Gleichzeitig fanden sie Leichenberge und
Hinterlassenschaften der Ermordeten, sowie Dokumente und Materialien, die das
ganze Ausmaß dieses industriellen Massenmordes der faschistischen
Vernichtungspolitik verdeutlichten.
Damit wurde einmal mehr vor den Augen der
ganzen Welt offenbar, welche Verbrechen der deutsche Faschismus auf sich
geladen hatte und Auschwitz ist der Ort, mit dem sich die Gesamtheit der
menschenverachtenden faschistischen Vernichtungspolitik verbindet.
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Der Aufsichtsrat, «Rat der Götter» der 1925 gegründeten I.G. Farben AG. Das großformatige Gemälde hängt im Bayer-Casino in Leverkusen. |
Und
Auschwitz war - am Beispiel von Auschwitz-Monowitz - das deutliche Symbol für
die Ausplünderung der menschlichen Arbeitskraft bis zum Ende ihrer
Leistungsfähigkeit für das Profitinteresse der Konzerne, in diesem Falle des
IG-Farben-Konzerns, der auf mehreren Ebene von dem Elend dieser Häftlinge, von
der faschistischen Vernichtungspolitik profitierte. Diese "Vernichtung
durch Arbeit" ist untrennbar mit dem zynischen Motto "Arbeit macht
frei", das über dem Haupttor des Stammlagers prangt, verbunden.
Auf der
Konferenz von Jalta Anfang Februar 1945 vereinbarten daraufhin die Alliierten,
dass die Verantwortlichen für diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit, gegen
die Völker und Nationen und gegen den Frieden nach der Befreiung vor ein
Gericht der Völker gestellt werden sollen. Dieses Gericht wurde in Nürnberg
1945 gebildet und definierte in Verfahren und in den anschließenden Urteilen
gegen die Hauptkriegsverbrecher die Kriterien und Maßstäbe, an denen sich auch
die weiteren Verfahren gegen faschistische Kriegsverbrecher orientierten.
In allen
vier Besatzungszonen fanden neben dem Hauptkriegsverbrecherprozess und den
Nachfolgeprozessen noch weitere Verfahren wie der Sachsenhausen-Prozess oder
der Buchenwald-Prozess statt. In diesen Verfahren wurden vor allem die
Verbrechen zur Anklage gebracht, denen sich die faschistischen Schergen - ob
aus der SS, dem SD, der Gestapo oder anderen faschistischen Institutionen -
gegen ausländische Gefangene, d. h. Staatsangehörige der Alliierten, schuldig
gemacht haben. Für die Verfolgung dieser Verbrechen sahen sich die Alliierten
als "Richter der Völker" verantwortlich. Die juristische Aufarbeitung
von Verbrechen gegen Deutsche selber wurde in die Verantwortung der neu zu
schaffenden deutschen Justiz gelegt.
Anders als
in der SBZ und der späteren DDR, wo trotz einzelner Brüche eine konsequente
Verfolgung der faschistischen Kriegsverbrecher von Anfang an betrieben wurde,
zeigte sich die westdeutsche Justiz in den 50er Jahren äußerst zurückhaltend in
der Ermittlung, Verfolgung und Anklageerhebung gegen faschistische Verbrecher.
Immer wieder wurden Verfahren verschleppt, da sich die Gerichte nicht auf
Zuständigkeiten der ermittelnden Gerichte verständigen konnten. Die Gründe
hierfür lassen sich mit Stichworten wie Renazifizierung der Justiz und der
Verfolgungsbehörden, gesellschaftliche Verdrängung der Verbrechen und
"Integration" der Täter in die BRD umreißen.
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IG Farben-Zyklon-B-Behälter |
Erst mit
dem Ulmer Einsatzgruppenprozess Ende der 50er Jahre, in dem das ganze Ausmaß
der faschistischen Verbrechen während des Vernichtungskrieges gegen die
Sowjetunion, die noch lange nicht gesühnt worden waren, offenkundig wurde,
beschlossen die bundesdeutschen Länderjustizverwaltungen in Ludwigsburg eine
Zentralstelle zur Sammlung und Sichtung der Akten und Dokumente zu den
faschistischen Kriegsverbrechen einzurichten.
Dies war
eine wichtige Voraussetzung, dass Staatsanwälte und Richter, wenn sie denn
überhaupt ein ernsthaftes Interesse an der juristischen Aufarbeitung hatten, an
entsprechendes Belastungsmaterial kommen konnten. Einer derjenigen, die aus
antifaschistischer Überzeugung die Aufarbeitung der NS-Verbrechen betrieben,
war der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer. Fritz Bauer (Jg. 1903) war
seit 1920 Mitglied der SPD und fand 1930 Anstellung beim Amtsgericht Stuttgart.
Als Sozialdemokrat und wegen jüdischer Abstammung inhaftiert und aus dem
Staatsdienst entlassen, emigrierte er nach Dänemark und Schweden. 1949 nach
Deutschland zurückgekehrt wurde er zuerst in Braunschweig, dann ab 1956 in
Hessen Generalstaatsanwalt.
Er machte
sich im Zusammenhang mit dem Eichmann-Prozess 1960/61 in Israel, der das Ausmaß
der faschistischen rassistischen Vernichtungspolitik zum ersten Mal der
Weltöffentlichkeit von Täterseite vor Augen führte, daran, Täter aus Auschwitz
vor Gericht zu bringen. Rudolf Höß, der Kommandant von Auschwitz, war bereits
1947 in Polen angeklagt, verurteilt und hingerichtet worden. Das in diesem
Zusammenhang veröffentlichte Material und dessen Aufzeichnungen boten wichtige
Anhaltspunkte, auf deren Grundlage Fritz Bauer seine Ermittlungen aufnahm.
Ausgangspunkt war die Anzeige eines ehemaligen Auschwitz-Häftlings, der einen
seiner Peiniger entdeckt hatte, der in den 50er Jahren in der Bundesrepublik
unbehelligt in Freiheit lebte. Fritz Bauer zog dieses Verfahren, das
ursprünglich bei der Staatsanwaltschaft in Stuttgart lag, an sich und begann
mit den Ermittlungen. Mehrere Jahre recherchierten Bauer, der
Untersuchungsrichter Heinz Düx und sein Team, unterstützt vom Internationalen
Auschwitzkomitee und seinem Präsidenten Hermann Langbein (Wien), bis es im
Dezember 1963 zur ersten Verhandlungsrunde im Verfahren "Gegen Mulka und
andere", dem legendären "Frankfurter Auschwitz-Prozess" kam.
Angeklagt waren 22 Personen, darunter ein Lagerführer, SS-Ärzte, Angehörige der
Lager-Gestapo und ein Rapportführer. Es waren sicherlich nicht die
Hauptkriegsverbrecher, aber es waren Täter, die zum Funktionieren dieses
Massenmordes ihren aktiven Beitrag geleistet haben.
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Haare, die den Opfern in Auschwitz abgeschnitten wurden, um sie als Rohstoff in der Textilindustrie zu verwenden - Foto Rote Armee 1945 |
Der
Prozess zog sich über 20 Monate hin. 360 Zeugen, darunter über 200 ehemalige
Häftlinge von Auschwitz, wurden gehört. Eine Besonderheit dieses Verfahrens war
auch, dass das Gericht - natürlich in Abwesenheit der Angeklagten - einen
Ortstermin in Auschwitz realisierte. Dies war in Zeiten des Kalten Krieges und
der nicht geregelten Besuchsvereinbarungen eine kleine Sensation, musste doch
die polnische Regierung genehmigen, dass Vertreter der BRD-Justiz trotz
fehlender zwischenstaatlicher Vereinbarungen faktisch Amtshandlungen auf
polnischem Territorium vornahmen. Das Gericht hörte auch zahlreiche
Sachverständige als Zeugen. Vier Historiker, Hans Buchheim, Martin Broszat,
Hans-Adolf Jacobsen und Helmut Krausnick, legten Gutachten über die Anatomie
des SS-Staates vor. Auf Initiative des legendären Anwalts Friedrich Karl Kaul,
der als Nebenkläger zugelassen war, konnte auch Prof. Dr. Jürgen Kuczynski
(Berlin/DDR) ein Gutachten vorlegen. Kuczynski setzte sich mit der Rolle des
IG-Farben-Konzerns beim Aufbau und Betrieb des dritten Lagerbereichs, Auschwitz-Monowitz,
auseinander. Anhand von Konzernunterlagen und von Dokumenten aus der Warschauer
Hauptkommission zur Verfolgung von NS-Verbrechen konnte er überzeugend die
aktive Rolle des Konzernbetriebes für den Betrieb des KZ nachzeichnen. Er
dokumentierte aus der Korrespondenz der IG Farben, in welcher Form sich die
Verbindung zur SS "recht segensreich" für den Konzern ausgewirkt
hatte. Solche Wahrheiten gehörten nicht zum Allgemeingut der bundesdeutschen
Aufarbeitung der faschistischen Verbrechen. Und so nahm der Vorsitzende Richter
des Auschwitz-Prozesses die sich bietende Gelegenheit gerne auf, das Gutachten
von Kuczynski als nicht zu beachten abzutun, da Kuczynski den formalen Fehler
begangen hatte, seine gutachterliche Stellungnahme bereits vor dem Prozess zu
veröffentlichen.
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Zug in das KZ Auschwitz |
Dennoch
prägte eine Bereitschaft zur Verfolgung der NS-Verbrecher die Atmosphäre des
Prozesses. Versuche der Verteidigung, die Aussagen der überlebenden Häftlinge
zu denunzieren, wurden zurückgewiesen. Die Verbrechen wurden in ihrer Scheußlichkeit
und Brutalität dargelegt. In der Konsequenz wurden 17 Angeklagte zu
langjährigen Haftstrafen verurteilt, für drei erfolgte ein Freispruch, das
Verfahren gegen die restlichen beiden wurde abgetrennt. Das Urteil wurde -
sicherlich eine Seltenheit in der Justizgeschichte - auf 930 Seiten begründet.
Akribisch wurden die Verbrechen und der Nachweis der unmittelbaren
Tatbeteiligung geführt. Wichtiger noch als die konkreten Strafen war die
gesellschaftliche Wirkung dieses Prozesses in die bundesdeutsche
Öffentlichkeit. Zwar ließ das deutsche Medienecho nach der Auftaktsitzung im
Dezember 1963 deutlich nach, jedoch fanden sich in der FAZ, die schon damals
überregional orientiert war, und in der antifaschistischen Wochenzeitung
"Die Tat" kontinuierlich Berichte vom Prozess.
Auch nach
Abschluss des Auschwitz-Prozesses blieb das Thema ein zentraler Punkt der
geschichtspolitischen Debatte in der bundesdeutschen Gesellschaft. Die in
diesem Prozess bekannt gewordenen Fakten lösten einen Prozess der geschichtlichen
Vergewisserung der nachgeborenen Generationen aus. Wenn die hier berichteten
Dinge den Tatsachen entsprachen, warum hat die Gesellschaft darüber 18 Jahre
geschwiegen? Was haben die eigenen Eltern davon gewusst? Solche Fragen
besonders unter der akademischen Jugend verbanden sich mit Überlegungen, welche
Schlussfolgerungen aus dem Gehörten zu ziehen seien. Theodor W. Adorno
(Frankfurt/M.) formulierte dazu seinen pädagogischen Imperativ: "Dass
Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die erste Forderung an die
Erziehung". Andere, wie der Politologieprofessor Wolfgang Abendroth
(Marburg) debattierte in seinen Seminaren zur Lehrerausbildung, welche
gesellschaftlichen Konsequenzen gezogen werden müssten, damit Auschwitz nie
wieder möglich werden könnte. Auch Schriftsteller wurden durch den
Auschwitz-Prozess angeregt, genannt sei nur Peter Weiss mit seinem Stück
"Die Ermittlung".
Diesem
gesellschaftlichen Aufbruch in der Auseinandersetzung mit Faschismus und Krieg
stand aber auch eine Verweigerungshaltung entgegen. Ganz offen wurden
geschichtsverdrängende Haltungen formuliert. Bekannt ist der Ausspruch von
Franz Josef Strauß (CSU), der in apologetischer Weise propagierte, dass ein
Volk, das diese Aufbauleistung (gemeint ist der ökonomische Aufschwung nach dem
Krieg) vollbracht habe, sich nicht immer wieder an Auschwitz erinnern lassen
müsse. Und von solcher Verdrängung der Verbrechen war es nur noch ein kleiner
Schritt zur Auschwitz-Leugnung. Im Gefolge des Prozesses waren in
neofaschistischen Postillen die ersten Thesen gegen Auschwitz und die
Vernichtung durch Zyklon B zu lesen. Anfang der 70er Jahr erschien von Thies
Christophersen "Die Auschwitz-Lüge", die "Bibel" des
militanten Geschichtsrevisionismus. Es dauerte übrigens fast 20 Jahre, bis
diese Schrift von der Bundesprüfstelle auf die Liste der jugendgefährdenden
Schriften gesetzt wurde. Ziel der Auschwitzleugnung war generell die
Rehabilitierung der faschistischen Täter, damit die Entlastung des deutschen
Faschismus von seinen Verbrechen, wodurch der Faschismus als politische Option
wieder denkbar werden sollte. Auschwitz wurde so aus jeder politischen Richtung
zu einem Synonym, zu einer Metapher der geschichtlichen Einordnung des
deutschen Faschismus.
Eine
Fragestellung, die erst in den 80er Jahren an Bedeutung gewann, war die
Auseinandersetzung mit der industriellen Ausplünderung der Häftlinge in
Auschwitz durch den IG-Farben-Konzern. In der DDR-Geschichtsforschung schon
seit den 60er Jahren Allgemeingut, wurde dieser Aspekt im Zuge der kritischen
Geschichtsaufarbeitung in der BRD "entdeckt". Die beginnende
Auseinandersetzung mit dem IG-Farben-Konzern in Abwicklung wurde davon
dominiert, dass deutlich gemacht werden konnte, dass der in den Jahren 1940 bis
1945 realisierte Profit auch aus der Ausplünderung von Häftlingen der KZ und
speziell des Lagers Auschwitz-Monowitz resultierte. Doch diese Perspektive wird
im heutigen öffentlichen bzw. offiziellen Gedenken weitgehend verdrängt.
Dabei
geht es nicht um eine Hierarchisierung von Opfern oder von Lagerbereichen, es
geht um die Erkenntnis der gesellschaftlichen Triebkräfte und der direkt und
mittelbar Verantwortlichen für faschistische Massenverbrechen. Es waren nicht
allein die im Auschwitz-Prozess angeklagten Aufseher oder die beteiligten
SS-Ärzte, die ihre medizinischen Experimente an Häftlingen in Auschwitz und
anderen Konzentrationslagern durchführten. Es waren auch die Verantwortlichen
in den Konzernzentralen, die billigste Arbeitskräfte von der SS bestellten. Es
waren Banker, die durch Kredite den Aufbau der Lager finanzierten. Doch von all
dem war in der offiziellen Begründung des Bundespräsidenten Roman Herzog, als
er 1997 den 27. Januar zum nationalen Gedenktag erklärte, nichts zu hören. Und
es ist auch in allen Reden bundesdeutscher Politiker zum diesjährigen Gedenken
aus Anlass des (…) Jahrestages der Befreiung von Auschwitz nicht zur Sprache
gekommen.
Ulrich
Schneider, Historiker
(Erschreckend aktuell,
oder?)
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