Dienstag, 1. November 2016

»Rote Linien« - Mit deutscher Unterstützung: Der Weg in die Diktatur

Foto: junge Welt, Polizei-Spezialeinheiten gegen Demonstration
Repression gegen Medien in der Türkei

Die Verhaftung von Murat Sabuncu und anderen Journalisten der Cumhuriyet bedeute, »dass eine weitere rote Linie in Sachen Meinungsfreiheit in der Türkei überschritten wurde«, twitterte EU-Parlamentspräsident Martin Schulz am Montag, nachdem die türkische Regierung die Redaktionsräume einer der traditionsreichsten Zeitungen des Landes gestürmt sowie Haftbefehle gegen insgesamt 15 von deren Mitarbeitern erlassen hatte.

Die Anzahl der »roten Linien«, die das AKP-Regime in den vergangenen Monaten in Sachen Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen sowie Einschränkung von Grundfreiheiten hinter sich gelassen hat, dürfte in die Hunderte gehen: Die kollektive militärische Bestrafung der kurdischen Zivilbevölkerung, der Einmarsch in Syrien, die Unterstützung islamistischer Terrorbanden, die (zumindest zeitweise) Inhaftierung Zehntausender Oppositioneller und Folter an Gefangenen gehören mittlerweile so selbstverständlich zum täglichen Geschäft der Regierung in Ankara, dass es selbst den fleißigsten Chronisten schwerfällt, alles zu erfassen.

Nach jedem Vorfall, der es über die Aufmerksamkeitsschwelle der Massenmedien schafft, folgt dasselbe Ritual: Jemand aus Brüssel meldet sich zu Wort und bekundet, »besorgt« zu sein. Reale Auswirkungen auf die mannigfaltigen wirtschaftlichen, diplomatischen und militärischen Beziehungen hatte diese Rhetorik bislang nicht.

Dabei gibt es insbesondere für die Einstellung aller Waffenexporte in die Türkei zwingende Gründe. Deutsche Waffen werden von Ankaras Truppen zur Durchführung grausamer Kriegsverbrechen genutzt. Einen Tag vor der Ausschaltung der Cumhuriyet-Redaktion tauchte ein Video auf, dass die extralegale Hinrichtung kurdischer Kämpferinnen durch türkische Soldaten zeigt. Eine Frau wird von einer Bergklippe geworfen, eine andere durch einen Kopfschuss getötet – im Einsatz: Gewehre von Heckler & Koch.

Die Komplizenschaft insbesondere der deutschen Regierung bei dem gegen verschiedene Teile der Bevölkerung geführten Bürgerkrieg lässt sich quantifizieren. Während im ersten Halbjahr Dutzende europäische Politiker zu verschiedensten Gelegenheiten ihre »Bedenken« gegen dieses und jenes zu Protokoll gaben, wuchs der Export von Kleinwaffenmunition auf das Zehnfache des Vorjahresvolumens an und die Türkei rückte von Platz 25 auf Platz 8 der wichtigsten Abnehmerländer vor. Während Angela Merkel von der Türkei Augenmaß bei der Verfolgung angeblicher Anhänger des exilierten Imams Fethullah Gülen einforderte, machte sich die deutsche Bundesanwaltschaft daran, so viele türkische und kurdische Erdogan-Gegner wie seit Jahrzehnten nicht zu verhaften und anzuklagen.

Wer so handelt, kann sich auch seine heuchlerische Rhetorik schenken. Weder Berlin noch Brüssel sind unbeteiligte, kritische Beobachter der Faschisierung der Türkei. Ohne beider aktives Mithelfen könnte Erdogan all die »roten Linien« nicht überschreiten.

Von Peter Schaber, aus „junge Welt“ vom 01. November 2016

Keine Kommentare: