Als die Maidan-Bewegung den ukrainischen und
ausländischen Strippenziehern hinter den Kulissen ermöglichten, die Regierung
zu stürzen und sich an die Macht zu putschen, war das von der Hoffnung
getrieben, die Ukraine werde bald der EU beitreten und es werde eine
Verbesserung des Lebens geben, die Korruption in Wirtschaft und Staatsapparat
werde endlich effektiv bekämpft und die Herrschaft der „Olgarchen“ durch eine
Regierung ehrlicher Leute ersetzt. Nichts davon hat sich erfüllt. Im Gegenteil
– das Leben ist noch viel schlechter geworden.
Das ist das imperialistische
Dilemma. Riesige und mit schier unbegrenzten Finanzen ausgestattete Diversions-
und Propagandapparate ermöglichen zwar, sich ganzer Volksbewegungen zu
bemächtigen, sie politisch zu steuern und „Regime Changes“ durchzusetzen. Aber
die Imperialisten haben der Masse der Bevölkerung in den betroffenen Ländern
nichts zu bieten. Wohin sie ihre blutigen Hände auch strecken – das Ergebnis
ist stets Chaos, Terror, Krieg, zivilisatorischer Zerfall und noch größere Not.
GermanForeignPolicy
zieht hier für die Ukraine zwei Jahre nach dem Putsch eine Bilanz:
Ökonomisch abgestürzt
Fast zwei
Jahre nach dem von Berlin unterstützten Umsturz in Kiew bilanzieren Experten in
den an der Universität Bremen publizierten Ukraine-Analysen die Entwicklung des
Landes. Das Ergebnis ist niederschmetternd. Die ökonomische Lage ist desaströs.
Das ukrainische Bruttoinlandsprodukt, das bereits 2014 um 6,8 Prozent
eingebrochen ist, stürzt noch weiter ab; Fachleute schätzen den Rückgang im
Jahr 2015 auf um die elf Prozent. Im kommenden Jahr könne es eventuell wieder
ein leichtes Wachstum zwischen einem und zwei Prozent geben, heißt es – dies
aber nur dann, wenn es nicht erneut zu politischen Erschütterungen komme, etwa
zu einem Bruch des Waffenstillstands im Osten der Ukraine. Dies allerdings sei
ziemlich ungewiss. Ein hoher Schuldenstand belastet das Land; eine Zunahme
ausländischer Direktinvestitionen halten Experten “angesichts der noch sehr
fragilen Gesamtlage” für “derzeit nicht realistisch”. “Westliche Banken” zögen
sich im Gegenteil “weiterhin eher aus dem Land zurück”. Die Entwicklung der
Exporte sei ernüchternd. Während die Ausfuhren nach Russland stark eingebrochen
seien, habe “der einseitig gewährte Marktzugang in die EU” bislang nichts
eingebracht; der ukrainischen Wirtschaft fehlten vor allem “in der Breite
wettbewerbsfähige Produkte für den EU-Binnenmarkt”. Immerhin sei es gelungen,
das Außenhandelsdefizit zu senken: Die massive Abwertung der Hrywnja habe
ausländische Waren so stark verteuert, dass ihr Absatz und damit auch der
Gesamtimport dramatisch eingebrochen sei und das niedrige Niveau der Exporte nicht
mehr nennenswert übersteige.[1]
Extreme Armut
Die
sozialen Folgen des ökonomischen Zusammenbruchs sind verheerend. “Laut Angaben
des ukrainischen Statistikamtes haben sich die Reallöhne in der Ukraine seit
Ende 2013 um mehr als 30 Prozent verringert”, heißt es in den Ukraine-Analysen.
Der monatliche Durchschnittslohn ist von rund 280 Euro im Jahr 2013 auf 156
Euro im Oktober 2015 gefallen. Jeder zehnte Ukrainer muss sich mit einem
Einkommen unterhalb des offiziellen Existenzminimums (54 Euro) begnügen, das
allerdings nach allgemeiner Auffassung auch nicht annähernd zum Überleben
ausreicht. Weil die Durchschnittsrente (79 Euro) ebenfalls kein Auskommen
ermöglicht, ist Erwerbsarbeit unter Rentnern verbreitet. Dabei wird arbeitenden
Pensionären seit April 2015 die Rente um 15 Prozent gekürzt. Oft werden Löhne
nur mit Verspätung oder gar nicht gezahlt; der Lohnrückstand hat sich im
Verlauf des Jahres 2014 verfünffacht. Die Ukraine-Analysen resümieren: “Das
Ausmaß der extremen Armut ist dramatisch gestiegen.” Besonders betroffen seien
neben den Rentnern “kinderreiche Familien und die ländliche Bevölkerung”.[2]
Brot und Kartoffeln
Schwer
wiegt im Alltag vor allem die dramatische Teuerung bei Nahrungsmitteln,
Medikamenten, Wasser und Heizung. Offiziellen Angaben zufolge stiegen die
Lebensmittelpreise im Jahr 2014 um rund 25 Prozent; dieses Jahr ist sogar ein
Anstieg um 34 Prozent zu verzeichnen. “Umfragedaten weisen darauf hin, dass die
Menschen ihren Konsum entsprechend verringern”, heißt es in den Ukraine-Analysen:
“Es werden insgesamt weniger Obst, Fleisch, Fisch, Eier, Zucker, Milchprodukte
und andere Lebensmittel konsumiert”; lediglich der Verbrauch von Brot und
Kartoffeln bleibe “relativ unverändert”. “Etwa einem Drittel der Bevölkerung”
fehle “die Möglichkeit, notwendige Nahrungsmittel zu kaufen”; dabei könnten
sich “Familien mit Kindern insgesamt weitaus weniger Lebensmittel pro Person
leisten als Familien ohne Kinder”. Die Preise von Medikamenten und anderen
Produkten der medizinischen Versorgung seien ebenfalls um mehr als 30 Prozent
gestiegen. Strom und Wasser seien um 50 bis 70 Prozent teurer geworden, Gas
koste mittlerweile dreimal so viel wie 2013. Im Ergebnis hätten sich “die
Wohnkosten fast verdoppelt”. “Vor dem Hintergrund schleppender Reformen”,
urteilt eine Expertin, “kann ein weiteres Absinken des Lebensstandards zu
sozialen Spannungen im Land führen.”[3]
Oligarchen und Korruption
Umso
schwerer wiegt, dass nicht einmal die auf dem Majdan breit geforderte und von
der Kiewer Umsturzregierung lautstark angekündigte Bekämpfung der Korruption
wirklich Fortschritte erzielt. Staatspräsident der prowestlich gewendeten
Ukraine ist ein Oligarch, der neue Ministerpräsident entstammt dem alten
ukrainischen Polit-Establishment.[4] Das am 16. Oktober 2014 in Kraft getretene
Gesetz “Über die Säuberung des Regierungsapparates”, das die Korruption habe
beseitigen sollen, habe sich als überaus problematisch erwiesen, heißt es in
den Ukraine-Analysen. Es widerspreche zentralen Richtlinien des Europarats und
führe nicht zum Ziel. “Nepotismus und Korruption” grassierten weiter; “zudem
zeugt die selektive Anwendung des Gesetzes vor allem davon, dass politische
Zweckmäßigkeiten und persönliche Ergebenheiten bei der Postmaidanregierung
weiter Vorrang vor Verfassung und Gesetz haben”. “Mehr als zwei Drittel der
Ukrainer waren im Juni … davon überzeugt, dass die Regierung die Lustration nur
imitiert”, heißt es, “und weitere 16 Prozent bezweifelten, dass überhaupt eine
Form von ‘Reinigung’ des Staatsapparates stattfinde”. Der “Unmut” wachse und
werde sich möglicherweise auch in Protesten artikulieren – “vor allem
angesichts der beständig schlechten wirtschaftlichen Lage ohne Aussicht auf
spürbare Verbesserungen in absehbarer Zeit”.[5]
Die Vertrauensbalance
Wie groß
das Protestpotenzial in der Ukraine ist, das sich gegenwärtig noch durch
Agitation gegen Russland weitgehend nach außen ablenken lässt, zeigen jüngste
Umfragen in der Bevölkerung zum “Vertrauen in die politischen Institutionen”.
Die Umfragen können nicht in den Verdacht gerückt werden, von Russland
nahestehenden Kräften frisiert worden zu sein: Sie stammen von zwei bekannten
prowestlichen Instituten und sind in den keinesfalls prorussischen
Ukraine-Analysen abgedruckt worden.[6] Ihnen zufolge erklärten im Sommer 2015
29,5 Prozent der Ukrainer, sie vertrauten Staatspräsident Petro Poroschenko,
während 62,5 Prozent dies verneinten. Die “Vertrauensbalance” – eine
statistische Größe, die von der Zustimmung die Ablehnung abzieht – lag damit
für Poroschenko bei minus 33 Prozent, klar unterhalb des Vergleichswerts für
den damaligen Staatspräsidenten Wiktor Janukowitsch im Dezember 2013 (minus 27
Prozent). Die “Vertrauensbalance” für die ukrainische Regierung (minus 56
Prozent) und diejenige für das Parlament (minus 63 Prozent) haben heute – unter
Janukowitsch nie dagewesene – Minusrekorde erreicht. Gleiches gilt für Polizei
(minus 57 Prozent), Gerichte (minus 67 Prozent) und Staatsanwaltschaft (minus
67 Prozent). Sogar die “Vertrauensbalance” der ukrainischen Medien, die unter
Janukowitsch stets bei plus 20 Prozent oder mehr gelegen hatte, näherte sich im
Juli dem Nullpunkt und ist inzwischen womöglich sogar ins Minus gerutscht. Zu
den wenigen Institutionen, die noch über eine positive “Vertrauensbalance”
verfügen, gehören neben der Kirche (34 Prozent) vor allem die
Freiwilligenbataillone (16 Prozent), also tendenziell reaktionäre und – im
Falle der Bataillone – nationalistische und in Teilen faschistische Kräfte, auf
denen in der prowestlich gewendeten Ukraine das letzte Vertrauen der
Bevölkerung ruht.
[1]
Gunter Deuber, Andreas Schwabe: Äußerst verhaltener Wirtschaftsausblick zwei
Jahre nach dem Maidan. In: Ukraine-Analysen Nr. 161, 7-13.
[2], [3]
Kseniia Gatskova: Der Lebensstandard in der Ukraine in den Jahren 2014/2015:
sinkender Wohlstand und die Anpassungsstrategien der Bevölkerung. In:
Ukraine-Analysen Nr. 161, 09.12.2015, 2-5.
[4] S.
dazu Die Restauration der Oligarchen (II), Die Restauration der Oligarchen
(III), Die Restauration der Oligarchen (IV) und Steinmeier und die Oligarchen.
[5]
Andreas Stein: Ernüchterung nach einem Jahr Lustrationsprozess. In:
Ukraine-Analysen Nr. 160, 26.11.2015, 2-6.
[6] Die
Umfragen wurden vom Fonds Demokratischer Initiativen und dem Rasumkow-Zentrum
zwischen dem 22. und dem 27. Juli erhoben; zentrale Resultate sind einzusehen
in: Ukraine-Analysen Nr. 160, 26.11.2015, 11f.
erschienen
am 16. Dezember 2015 auf > German ForeignPolicy > Artikel
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