Willi Gerns - Foto DKP Lübeck / Ostholstein |
Der hier gespiegelte Text
von Willi Gerns ist vor zwei Jahren geschrieben. Aber er ist höchst aktuell.
Lenins “Was tun?” und
Klassenbewusstsein heute. Die “brennenden Fragen” sind heute noch aktuell.
von Willi Gerns
In: unsere zeit vom 14.05.10
“Damit aber wirklich die
ganze Klasse, damit wirklich die breiten Massen der Werktätigen und vom Kapital
Unterdrückten zu dieser Position gelangen, dazu ist Propaganda allein,
Agitation allein zu wenig. Dazu bedarf es der eigenen politischen Erfahrung dieser
Massen …”
Lenin, Werke, Bd. 31, S. 60
Seit der
Erstveröffentlichung von Lenins Werk “Was tun?” 1902 sind mehr als hundert
Jahre vergangen. In dieser Zeit haben sich grundlegende Veränderungen in der
Welt vollzogen. Das wirft die Frage auf: Kann uns diese Schrift für die
heutigen Bedingungen noch Wichtiges sagen?
Ich möchte sie mit einem
eindeutigen “Ja” beantworten. Selbstverständlich enthält “Was tun?”
zeitbedingte und auf die damalige Situation in Russland zugeschnittene
Aussagen, die heute nicht mehr relevant sind. Einige der “brennenden Fragen
unserer Bewegung” – so der Untertitel der Schrift – und die dazu formulierten
Kernthesen Lenins sind meiner Überzeugung nach jedoch heute nicht weniger
brennend als damals. Ich denke dabei besonders an die Aussagen zum
Klassenbewusstsein der Arbeiterklasse.
Dabei müssen diese natürlich
heute auf eine Arbeiterklasse bezogen werden, die sich – vor allem in den
entwickelten kapitalistischen Ländern – in Struktur, Arbeitsbedingungen,
Lebensweise und Lebensstandard, technischer und Allgemeinbildung sowie in ihrem
Bewusstsein wesentlich von der russischen Arbeiterklasse am Anfang des vorigen
Jahrhunderts unterscheidet. Die grundlegenden Klassenmerkmale sind jedoch
geblieben.
Wie Marx und Engels sieht
Lenin die entscheidende Kraft im Kampf um die Überwindung des Kapitalismus
durch den Sozialismus in der Arbeiterklasse als derjenigen Klasse in der
kapitalistischen Gesellschaft, die, frei von Produktionsmitteln, gezwungen ist,
ihre Arbeitskraft an die kapitalistischen Eigentümer der Produktionsmittel zu
verkaufen und von diesen ausgebeutet wird. Aus dieser Lage kann sie sich nur
befreien, wenn sie gemeinsam mit anderen gesellschaftlichen Gruppen, deren
Interessen mit denen des Kapitals kollidieren, die politische Macht erobert und
die wichtigsten Produktionsmittel in gesellschaftliches Eigentum überführt
werden. Die Rolle der Arbeiterklasse erwächst zugleich daraus, dass sie mit den
Lebensnerven der kapitalistischen Gesellschaft verbunden und am besten
organisiert ist.
Diese Rolle kann sie aber
nur erfüllen, wenn sie sich ihrer materiellen Existenzbedingungen, ihrer
grundlegenden Interessen, ihrer Beziehungen zu den anderen Klassen und
Schichten und zum kapitalistischen Staat sowie ihrer Rolle in der
geschichtlichen Entwicklung mehr oder weniger deutlich bewusst wird und
entsprechend handelt. Fragen der Entwicklung des Klassenbewusstseins der
Arbeiterklasse stellte Lenin darum ins Zentrum von “Was tun?”.
Entwicklungsstufen des Klassenbewusstseins
Nach Lenin gibt es
elementare und höhere, mehr Einsicht und Wissen erfordernde
Klassenerkenntnisse. Wenn ein Arbeiter oder Angestellter heute nur einfach Wut
auf die Konzernbosse hat, die den Betrieb schließen und ihn wie Abfall auf die
Straße werfen, er sich aber unter der Devise “Man kann ja doch nichts machen”
mutlos in sein Schicksal ergibt, ist das noch kein Klassenbewusstsein, das ja,
wie schon das Wort ausdrückt, mit Wissen, mit Einsichten zusammenhängt. Was
sich bei ihm regt, ist eher ein dumpfes Klassengefühl.
Wenn dagegen um die
Arbeitsplätze gekämpft wird, können sich aus den Erfahrungen des Kampfes – wie
in anderen Klassenkämpfen auch – durchaus spontan Einsichten darüber
herausbilden, dass Arbeit und Kapital gegensätzliche Interessen haben und dass
Forderungen der Arbeiter und Angestellten nur im solidarischen und
organisierten Handeln gegen die Kapitalisten durchgesetzt werden können. Lenin
nennt solche elementaren Klassenerkenntnisse “tradeunionistisches”, nur
gewerkschaftliches Bewusstsein und bezeichnet das spontane Element als Keimform
der Bewusstheit. Zwischen diesen elementaren Klassenerkenntnissen und dem
sozialistischen Bewusstsein, der höchsten Form des Klassenbewusstseins der
Arbeiterklasse, das sich auf Erkenntnisse des wissenschaftlichen Sozialismus
gründet, liegen eine Reihe immer höherer Stufen des Klassenbewusstseins.
Politisches
Klassenbewusstsein und insbesondere das sozialistische Bewusstsein, können sich
– so Lenin – nicht spontan herausbilden. Spontan drängt sich die bürgerliche
Ideologie den Arbeitern und Angestellten auf, “weil sie ihrer Herkunft nach
viel älter ist als die sozialistische, weil sie vielseitiger entwickelt ist,
weil sie über unvergleichlich mehr Mittel der Verbreitung verfügt”. Bürgerliche
Ideologie wirkt im Kapitalismus von der Wiege bis zum Grabe auf die Menschen
ein mittels Kirche, Schule Hochschule, Armee und Betrieb, der bürgerlichen
Medien.
Lenin betont, politisches
Bewusstsein – und vor allem die Erkenntnisse des wissenschaftlichen Sozialismus
– müssen in die Arbeiterklasse hingetragen werden. Was versteht er darunter?
Hinsichtlich des politischen
Bewusstseins stellt er fest, dass dieses den Arbeitern nur “von außen” gebracht
werden kann, “das heißt aus einem Bereich außerhalb des ökonomischen Kampfes”.
Dazu gehört das Verhältnis zu allen Klassen und Schichten und besonders zum
kapitalistischen Staat. Und zur Vermittlung des sozialistischen Bewusstseins
heißt es, dass die “Lehre des Sozialismus … aus den philosophischen,
historischen und ökonomischen Theorien hervorgegangen (ist), die von den
gebildeten Vertretern der besitzenden Klassen, der Intelligenz, ausgearbeitet
wurden” und folglich zunächst “den Arbeitern nur von außen” gebracht werden
konnte.
Mit der Entwicklung der
marxistischen Arbeiterpartei als Bindeglied zwischen wissenschaftlichem
Sozialismus und Arbeiterbewegung ist es nach Lenin dann vor allem die Aufgabe
dieser Partei und ihrer Mitglieder, sich den wissenschaftlichen Sozialismus
anzueignen und seine Erkenntnisse als Teil der Klasse in die Klasse
hineinzutragen. Und dies selbstverständlich nicht abstrakt, sondern in
Anknüpfung an den Bewusstseinsstand und die eigenen Erfahrungen der Arbeiter
und Angestellten.
Angesichts dieser klaren
Aussagen zum “Hineintragen” von Klassenbewusstsein ist es verwunderlich, zu
welchen Fehldeutungen es auch unter Linken und neuerdings selbst unter
Kommunisten kommt. Dabei denke ich an Aussagen im Entwurf der “Politischen
Thesen des Sekretariat des Parteivorstands der DKP”, die auf der Internetseite
www.debatte.kommunisten.de zur Diskussion stehen und viel Widerspruch in der
Partei gefunden haben.
In dem Papier heißt es: “Die
Erfahrungen zeigen, dass Klassenbewusstsein nicht durch eine Praxis entsteht,
die mit dem vereinfachten Bild vom ´Hineintragen des Klassenbewusstseins´
umschrieben werden kann. Dahinter steht eine viel komplexere und kompliziertere
Aufgabe marxistischer Theorie und der Partei. Diese besteht nicht in erster
Linie in einer platten ´ideologischen Aufklärung´, deren Inhalte von vornherein
feststehend sind und die man also annehmen kann oder nicht, sondern in der
Kommunikation und Systematisierung von unterschiedlichen Erfahrungen und
Wissen. Es muss vom bestehenden tatsächlichen Bewusstseinsstand der Menschen …
ausgegangen werden.” Da stellt sich nicht nur mir die Frage, gegen wen oder was
sich diese Polemik richten soll? Geht es um die Aussagen Lenins, so könnte man
nur zu dem Schluss kommen, dass sie von den Autoren der “Thesen” nicht
verstanden wurden. Ist die bisherige Politik der DKP der Adressat, so muss auch
das verwundern. War es doch in der DKP immer eine Selbstverständlichkeit, dass
Klassenbewusstsein und sozialistisches Gedankengut in der Arbeiterklasse nur in
Anknüpfung und Verarbeitung der eigenen Erfahrungen der Arbeiter und
Angestellten vermittelt werden kann.
Genauso selbstverständlich
war und ist für Kommunisten, dass “Kommunikation und Systematisierung von
unterschiedlichen Erfahrungen und Wissen” der Arbeiter und Angestellten durch
Kommunisten mit Hilfe der dialektisch-historischen Methode und auf dem Boden
der Grundaussagen des Marxismus erfolgen muss. Da es sich dabei um eine
Wissenschaft handelt, gehören dazu – wie bei jeder Wissenschaft – auch Inhalte,
die “feststehend sind”, die das Wesen dieser Wissenschaft ausmachen und ohne
deren “Annahme” man sich eben nicht die Erkenntnisse dieser Wissenschaft
aneignen kann. Die Grundaussagen des Marxismus müssen von den Kommunisten
studiert und möglichst vielen Arbeitern und Angestellten im Zusammenhang mit
deren eigenen Erfahrungen überzeugend vermittelt, d. h. in die Arbeiterklasse
“hineingetragen” werden. Wobei es auch nicht einfach um die Kommunikation und
Systematisierung des von der bürgerlichen Ideologie geprägten
Massenbewusstseins gehen kann, sondern durchaus um “ideologische Aufklärung”
gehen muss, um die Vermittlung sozialistischen Gedankenguts in
Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Ideologie.
Das, was Lenin über die
bürgerliche Ideologie und ihren Einfluss auf die Arbeiterklasse feststellt,
gilt heute noch weit mehr als zu seiner Zeit. Die bürgerliche Ideologie dringt
bis in die feinsten Poren aller Lebensbereiche ein und dies keineswegs nur
spontan. Der Apparat zu ihrer Verbreitung ist perfekt organisiert. Die
bürgerlichen Massenmedien haben eine Macht, von der Lenin nicht einmal träumen
konnte. Die bürgerlichen Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen sitzen heute in den
Wohnungen der Arbeiter und Angestellten bereits mit am Frühstückstisch und das
Ausschalten der Glotze ist häufig die letzte Handlung vor dem Schlafengehen.
Bei diesem massiven Trommelfeuer ist es nicht verwunderlich, wenn heute trotz
weit höherer Allgemeinbildung der Arbeiter und Angestellten im Vergleich zu
Lenins Zeiten das Klassenbewusstsein in den entwickelten kapitalistischen
Ländern und besonders in unserem Land nicht höher, sondern eher weniger
entwickelt ist.
Hemmnisse für die Entwicklung des Klassenbewusstseins
Dafür sehe ich neben dem bereits
Gesagten weiterer Faktoren. Einige möchte ich nennen:
Mit den
wissenschaftlich-technischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte haben sich
gravierende Veränderungen in der Arbeitswelt vollzogen. Dazu gehört die weitere
Aufsplitterung der Arbeiterklasse, die die Konkurrenz in der Klasse befördert
und ein Bewusstwerden gemeinsamer Klasseninteressen und solidarisches Handeln
erschwert.
Foto DKP Lübeck / Ostholstein |
Die Zahl der Industriearbeiter, die
traditionell den Kern der Arbeiterklasse bilden, die am besten gewerkschaftlich
organisiert sind und die größten Kampferfahrungen in Lohn- und anderen
Auseinandersetzungen haben, ist dramatisch zurückgegangen, der
Dienstleistungsbereich enorm gewachsen. Damit haben sich die Gewichte im
Verhältnis Arbeiter/Angestellte bei den Lohnabhängigen auf Kosten der Arbeiter
stark verschoben. Mit diesen Entwicklungen verbunden ist auch ein Absinken des
gewerkschaftlichen Organisationsgrades.
Die weitere Differenzierung der
Arbeiterklasse wird auch durch die neoliberale Politik der Herrschenden bewusst
vorangetrieben. Die Belegschaften werden durch Leiharbeit und Niedriglöhne in
Stamm- und Randbelegschaften gespalten. Beschäftigte und Arbeitslose, Arbeiter
unterschiedlicher nationaler Herkunft, Männer und Frauen werden gegeneinander
ausgespielt.
Negativ auf die Entwicklung
des Klassenbewusstseins hat sich die Auflösung der Arbeitermilieus nach dem
zweiten Weltkrieg ausgewirkt. Arbeiterwohngebiete, Arbeitersport-,
Arbeiterbildungs- und Arbeiterkulturvereine, die Arbeiterbewusstsein, Zusammengehörigkeit,
Solidarität beförderten, sind fast völlig verschwunden.
Der aus dem Faschismus
nahtlos in die Bundesrepublik überführte Antikommunismus und Antisowjetismus
hatte und hat nach wie vor verhängnisvolle Auswirkungen auf das Bewusstsein der
Arbeiterklasse.
Das gilt auch für die von
der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften verfolgte Politik der
Sozialpartnerschaft. Diese fiel in der Zeit des sogenannten Wirtschaftswunders
und der relativ lang andauernden Konjunktur in der alten BRD auf einen
günstigen Boden. Auf dem Hintergrund der einsetzenden
wissenschaftlich-technischen Revolution und der damit einhergehenden raschen
Steigerung der Arbeitsproduktivität ist es innerhalb weniger Jahrzehnte in der
damaligen Altbundesrepublik zu einer bedeutenden Erhöhung des materiellen
Lebensstandards der Arbeiterklasse gekommen. Nach den erbärmlichen
Lebensverhältnissen der Kriegs- und ersten Nachkriegsjahre hat dies natürlich
Spuren im Bewusstsein der Arbeiter und Angestellten hinterlassen.
Diese Entwicklungen wurden
wesentlich beeinflusst durch die auf deutschem Boden besonders zugespitzte
Systemauseinandersetzung. Sie zwang die Bourgeoisie zu weitgehenden sozialen
Zugeständnissen, sodass am Verhandlungstisch häufig mehr erreicht wurde als in
anderen kapitalistischen Ländern im Ergebnis harter Klassenkämpfe.
Äußerst negativ hat sich
dann die Niederlage der sozialistischen Länder in Europa ausgewirkt, und dies
wiederum angesichts mit der Einverleibung der DDR in die Bundesrepublik bei uns
in besonderem Maße. Der Bourgeoisie, ihren Politikern und Medien ist es
weitgehend gelungen, den Sozialismus zu diskreditieren, seine trotz
unbestreitbarer Fehlentwicklungen gewaltigen historischen Leistungen zu leugnen
oder zu entstellen. Das trägt erheblich dazu bei, dass es in der gegenwärtigen
Krise zwar viel Unmut über die Zustände des Kapitalismus und die Politik der
Herrschenden gibt, aber keine reale Alternative erkannt wird.
Das Nichterkennen einer
Alternative zum Kapitalismus sieht Werner Seppmann in einem Beitrag in der
“jungen Welt” vom 27./28. März (2010) neben der verbreiteten Angst um den Arbeitsplatz
und den damit verbundenen Zukunftsängsten zu Recht als eine wesentliche Ursache
für den geringen Widerstand der Arbeiterklasse in der aktuellen Krise.
Zuzustimmen ist ihm auch, wenn er daraus den Schluss zieht, dass darum eine
vorrangige Aufgabe der linken Kräfte darin bestehen müsse, Zukunftsperspektiven
zu entwickeln. Und dies in Vermittlung mit solchen aktuellen Aufgaben wie dem
Kampf um die Verkürzung der Arbeitszeit und anderen.
Was die DKP betrifft, so
haben wir in unserem neuen Parteiprogramm unsere Vorstellungen für eine
sozialistische Zukunftsperspektive und notwendige Übergangsforderungen
erarbeitet. Diese Forderungen müssen natürlich immer wieder durch neue
Erfahrungen überprüft und jene herausgefunden werden, die am ehesten Arbeiter
und Angestellte, Volksmassen dazu bewegen können für ihre Interessen aktiv zu
werden.
Der niedrige
Entwicklungsstand des Klassenbewusstseins im Gefolge der genannten und anderer
Faktoren findet auch in der Schwäche der marxistischen Arbeiterparteien seinen
Ausdruck. Diese ist ihrerseits ein wesentliches Hemmnis für die Entwicklung des
Klassenbewusstseins, zumindest in seinen höheren Formen, wofür das Wirken
einflussreicher marxistischer Arbeiterparteien unerlässlich ist und bleibt.
(Dem Artikel liegt der
Beitrag des Autors bei einer von der Zeitung “junge Welt” aus Anlass des 140.
Geburtstages von W. I. Lenin am 22. April 2010 in Berlin veranstalteten
Podiumsdiskussion zugrunde.)
“Es ist die Aufgabe der
Kommunistinnen und Kommunisten, sozialistisches Bewusstsein in den Massen zu
entwickeln …
Das Zusammengehen der Klasse
mit ganzer Kraft zu unterstützen, das Einigende in den Vordergrund zu rücken,
gemeinsame Aktionen zu fördern und zur Entwicklung des Klassenbewusstseins
beizutragen – das ist Aufgabe und Grundsatz der DKP.
Als ideologische Aufgabe
ersten Ranges betrachtet es die DKP, in der Arbeiterklasse Einsichten in die
eigene Klassenlage und in den unversöhnlichen Gegensatz zwischen ihren Klasseninteressen
und den Macht- und Profitinteressen des Großkapitals zu vermitteln und
klassenmäßige Erkenntnisse zu vertiefen.
Quelle: Kritische Massen
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