Lenins klare Strategie und bewegliche Taktik
Die
russische Revolution von 1917 war die größte Volksrevolution der Neuzeit.
Innerhalb von acht Monaten durchlief sie in einem einheitlichen Prozess die
Etappen der bürgerlich-demokratischen Umwälzung hin zur Errichtung der Macht
der Arbeiterklasse in Form des Sowjetstaates.
Sie
veränderte die Welt, bestimmte für sieben Jahrzehnte maßgeblich die Geschichte
des 20. Jahrhunderts. (…)
Beide Etappen dieser ersten vom imperialistischen
Krieg ausgelösten Revolution waren geprägt von Aktionen der Volksmassen, vor
allem der Arbeiter und Soldaten, die in ihrer Mehrzahl in Uniform gesteckte
Bauern waren.
Was die
Februar- von der Oktoberrevolution unterscheidet, ist das veränderte
Klassenbewusstsein, die klare Zielstellung einer durch Theorie und praktische
Erfahrung begründeten Strategie und eine starke Organisation der geschlossen
handelnden Arbeiterpartei.
Die
Kriegsverbündeten fürchteten um den Zusammenbruch der Front im Osten Europas.
Die Duma-Mehrheit aus den vorwiegend den Interessen des Kapitals verbundenen
Parteien erhoffte von einem Thronwechsel Zugeständnisse für eine
konstitutionelle, parlamentarische Regierungsform.
Ausschlaggebend
für den Sturz des Zarismus war die Aktion der Petrograder Arbeiter, die gegen
Hunger und Aussperrung durch die Unternehmer mit Massenaktionen auf den Straßen
der Hauptstadt reagierten und dabei nach mehrtägigem Kampf auch die Soldaten
der Garnison auf ihre Seite zogen. Es war also eine klassisch revolutionäre
Situation, in der die da oben nicht mehr weitermachen konnten wie bisher, die
da unten aber auch nicht mehr gewillt waren, sich der alten Herrschaft zu beugen.
Doch den
Arbeitern fehlte eine klare Führung. Zwar entstanden spontan auch die Sowjets
als Machtorgan der Arbeiter und. Soldaten, doch an der Spitze standen Führer
der Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die auf einen Pakt mit den
kapitalistischen Parteien setzten und mit ihnen eine provisorische Regierung
bildeten. In dieser Doppelherrschaft von Sowjets als Organ der revolutionären
Massen und einer provisorischen Regierung der Bourgeoisie lag die Besonderheit
der russischen Revolution. (…)
Die Bolschewiki im Februar/März 1917
![]() |
Lenin spricht in Petrograd, 4. (17.) April 1917, Foto: UZ |
Sozialrevolutionäre
und Menschewiki hatten in den ersten Revolutionstagen den Vorteil, dass sie
während des ganzen Krieges mit ihren Dumafraktionen und ihrer Presse legale
Möglichkeiten nutzen konnten. Im Gegensatz dazu waren die Abgeordneten der
Bolschewiki im November 1914 verhaftet und verbannt worden, die „Prawda“ und
andere legale Medien wurden unterdrückt.
Als die
Sowjets entstanden, wirkten dabei zwar Bolschewiki aus den Betrieben mit,
blieben jedoch in der Minderheit. Die aus der Verbannung zurückkommenden
Mitglieder des 1912 gebildeten Russischen Büros des ZK der Bolschewiki,
darunter Kamenew, der als Beauftragter des ZK 1913 aus der Emigration
zurückgekehrt war und die Leitung der Fraktion und der Prawda übernommen hatte,
Stalin und Ordschonikidse als Mitglieder des ZK und viele andere leisteten eine
große Arbeit, um die Verbindungen zu den Parteiorganisationen wieder
herzustellen und ein einheitliches Handeln der Partei zu sichern. Innerhalb von
Tagen konnte die „Prawda“ wieder erscheinen.
Hatte die
illegale Partei am Beginn der Revolution 24 000 Mitglieder, so verachtfachte
sich ihre Zahl bis Ende April. Die Bolschewiki wurden erstmals legal und
zugleich Massenpartei. Doch auch die führenden Bolschewiki hatten die durch
Imperialismus und Krieg hervorgerufenen neuen Bedingungen des Klassenkampfes
nicht verarbeiten können. Sie benutzten die alten Losungen der Revolution von
1905, darunter auch die Kontrolle der provisorischen Regierung. Sie erkannten
nicht die Möglichkeit einer Entwicklung der Revolution über den Rahmen der
bürgerlichen Ordnung hinaus.
Lenins Weg setzt sich durch
Lenin
kehrte im April aus der Emigration zurück. Zum Reisegepäck gehörten die
Aprilthesen, gemeinsam mit Sinowjew noch in der Schweiz formuliert. Im Mittelpunkt
stand die Haltung zum imperialistischen Krieg und zur provisorischen Regierung,
die diesen Krieg mit den alten imperialistischen Zielen fortsetzen wollte.
Keine Unterstützung der provisorischen Regierung, alle Macht den Sowjets· waren
die Losungen für den Übergang zu einer zweiten Etappe der Revolution, an deren
Ende eine Staatsmacht der Arbeiterklasse nach dem Vorbild der Pariser Kommune
stehen sollte.
Für die
Partei forderte er ein neues Programm. In den Jahren der erzwungenen Emigration
hatte Lenin die neuen Bedingungen für die Arbeiterbewegung in der Zeit des
Imperialismus erforscht. Mit der Herausbildung der Monopole, der Unterordnung
der Politik unter ihre Interessen, dem Streben nach Neuaufteilung der Welt, der
Territorien, der Märkte und der Rohstoffe erkannte er die Ursache des
imperialistischen Krieges, sah aber auch die Möglichkeit der Überwindung der
Ursachen des Krieges durch eine sozialistische Revolution.
Auf den
Zimmerwalder Konferenzen der Kriegsgegner hatte er sich mit den Illusionen über
einen Verständigungsfrieden auseinandergesetzt, hatte in der Zimmerwalder
Linken den Kern für eine revolutionäre Beendigung des Krieges und für eine neue
Internationale zusammengeführt. In der russischen Revolution und den einmaligen
Bedingungen der Doppelherrschaft sah er die Möglichkeit zur Verwirklichung der
antiimperialistischen Strategie.
Die
Aprilthesen stießen nicht nur auf den Widerstand der in den Sowjets führenden
Kräfte, sondern auch auf Unverständnis innerhalb der Partei. Lenin verfügte nicht
über einen Apparat. um seine Meinung durchzusetzen, sondern nur über die
besseren Argumente. Doch vor allem die praktische Erfahrung wirkte mit, als
ausgerechnet am 1. Mai bekannt wurde, dass die Provisorische Regierung den
Verbündeten die Fortsetzung des Krieges durch eine russische Offensive zugesagt
hatte. Auf der gleichzeitig tagenden Parteikonferenz wurden Lenins Thesen in
allen wesentlichen Punkten angenommen.

Im
Leitungskollektiv der Partei waren die unterschiedlichen Positionen vertreten.
Mit Lenin wirkten alte Bolschewiki wie Kamenew, Sinowjew, Stalin ebenso wie der
neu zu den Bolschewiki gekommene Trotzki. Fast alle gerieten bei den
komplizierten Vorgängen zeitweilig in Detailfragen in Widerspruch zu Lenin,
doch es war gerade dessen Autorität, die es schaffte, auch nach harten
Diskussionen wieder zu gemeinsamer Arbeit zu finden. Die Bolschewiki waren
stark, weil ihre Leitung kollektiv nach Lösungen suchte.
Die
Stärke der Bolschewiki ergab sich auch daraus, dass sie es verstanden, in
wechselnden Situationen Losungen zu verändern, ohne das Ziel preiszugeben. Als
im Sommer die Sowjetmehrheit die Unterstützung der Kerenski-Offensive
beschloss, musste die Losung „Alle Macht den Sowjets“ zurückgestellt werden,
zugleich entstand die neue Forderung, jetzt um neue Mehrheiten in den Sowjets
zu ringen.
Als
Petrograds Arbeiter bewaffnet gegen die Kerenski-Politik demonstrieren wollten,
waren es die Bolschewiki, die in einer stürmischen Nachtsitzung durchsetzten,
unbewaffnet gegen die Kriegspolitik zu demonstrieren, in der richtigen
Einschätzung, dass die Voraussetzungen landesweit für einen solchen bewaffneten
Protest nicht ausreichten. Als die friedliche Demonstration dann dennoch
zusammengeschossen wurde lernten die Massen die Fronten gegen den Feind im
eigenen Land zu verstärken. (…)
Von
Günter Judick
Aus:
Geschichtskorrespondenz, April 2007
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen