ArbeiterInnen demonstrieren im Februar 1917 (gemeinfrei) |
Winter
1916/17. Selbst die heutigen Groß- und Urgroßeltern wissen nichts mehr aus
eigenem Erleben davon. Vielleicht ist ihnen durch Erzählungen ihrer eigenen
Eltern bzw. Großeltern der Begriff „Hungerwinter“ bzw. „Steckrübenwinter“ noch
geläufig.
Angesichts
der gerade in München beendeten, mit den hochkarätigen Diplomaten, Politikern
und Militärs beschickten „Sicherheitskonferenz“- und angesichts der in diesen
Tagen erneut an der russischen Westgrenze aufmarschierenden NATO-Truppen unter
Führung deutscher Stabsoffiziere, sind diese verblassten Erinnerungen es wert,
wieder ins Bewusstsein gerückt zu werden.
Es war
eine Periode von Not, Verfolgung und zugleich politisch ungewöhnlicher
revolutionärer Dynamik.
Tatsächlich
waren es jedoch nicht der Krieg schlechthin und auch nicht die zaristische
Misswirtschaft, sondern die bereits 1905 sich zuspitzenden Klassengegensätze,
die die Geduld und die sprichwörtliche Leidensfähigkeit des russischen Volkes
seit langem erschöpft hatten. In der bürgerlichen Geschichtsschreibung dagegen
dominiert generell die Sichtweise, dass es sich um einen parlamentarischen
Kompromiss der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Duma-Fraktionen, dem
„Progressiven Block“, mit aufgeklärten Monarchisten gegen den „schwächlichen“ Zaren
gehandelt habe.
Das
Resultat dieses „Kompromisses“, war zunächst eine feudal-bürgerliche
Regierungskoalition unter dem Monarchisten und Zaren-Anhänger Fürst G. Lwow;
dem Führer der bürgerlich-liberalen Konstitutionell-Demokratischen Partei
(„Kadetten“) P. N. Miljulkow als Außenminister und dem Führer der zu
„Vaterlandsverteidigern“ mutierten anarchistisch-agrarsozialistischen Partei,
der Partei der Sozialrevolutionäre („Trudowiki“), A. Kerenski. Er wurde
zunächst Kriegsminister und nach einer Regierungsumbildung im Juli Vorsitzender
der Provisorischen Regierung.“
Diese
neue Koalitionsregierung war gewillt, den seinem Wesen nach imperialistischen
1. Weltkrieg, bei dem es den kriegsführenden Mächten um die Vorherrschaft in
Europa ging, zur Verteidigung des „Vaterlandes“ auch auf Kosten weiterer
hundertausender Toter und Verkrüppelter fortzusetzen. Es bekümmerte sie nicht,
dass bis Ende 1916 bereits mehr als 1,5 Millionen Soldaten von der Front
desertiert waren. Lenin schrieb zur Charakterisierung des Klassencharakters des
neuen Machtsystems:
„Diese Regierung stellt kein zufälliges
Häuflein von Menschen dar. Es sind die Vertreter einer neuen Klasse, die in
Russland zur politischen Macht aufgestiegen ist, der Klasse der
kapitalistischen Gutsbesitzer und der Bourgeoisie, die unser Land seit langem
lenkt und die sich sowohl in den Jahren der Revolution von 1905–1907 als auch
in den Jahren der Konterrevolution von 1907–1914 und schließlich – und zwar mit
besonderer Schnelligkeit – während der Kriegsjahre 1914–1917 außerordentlich
rasch organisierte, indem sie sie örtliche Selbstverwaltung und die
Volksbildung, die Kongresse verschiedenster Art, die Reichsduma, die
Kriegsindustrie-Komitees usw. in ihre Hände nahm. Diese Klasse war gegen 1917
schon ‚beinahe ganz‘ an der Macht; deshalb bedurfte es nur der ersten Schläge
gegen den Zarismus, damit er zusammenstürzte und der Bourgeoisie Platz machte.“
Die neue Regierung sei lediglich der „bloße Sachwalter der Milliarden-‚Firmen‘:
‚England und Frankreich‘.“
(W. I. Lenin: Briefe
aus der Ferne. In Lenin. Stalin. Das Jahr 1917. Ausgewählte Werke. Berlin 1949,
S. 13)
Angriff auf die Zarenpolizei, März 1917 (gemeinfrei) |
Das
Ergebnis der Revolution war also zunächst eine noch unentschiedene
Konstellation der Klassenkräfte, in der es neben der formalen „Hauptregierung“
unter dem Fürsten Lwow und Co. eine „Nebenregierung“ in Gestalt des Petrograder
Sowjets gab, die zwar über keine Organe der Staatsmacht verfügte, die sich aber
auf die Mehrheit des Volkes und auf die bewaffneten Arbeiter und Bauern
stützte. Diese spezifische Mächte- und Klassenkonstellation nannten die
Bolschewiki die „Doppelherrschaft“. Der Verlauf der folgenden Monate bis zur
siegreichen nächsten Etappe, deren Höhepunkt die Oktoberrevolution werden
sollte, wurde durch den Kampf zwischen diesen beiden Machtzentren geprägt.
Von
Hans-Peter Brenner
aus „UZ – unsere zeit – Zeitung der DKP“ vom 17. Februar 2017
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