Wenn bürgerliche Journalisten einmal ohne
Zwänge Ihrer Geldgeber darüber schreiben dürfen was sie wissen und denken, dann
werden Wahrheiten, die bereits einmal Allgemeinwissen waren, auch schnell
wieder formuliert.
So geschehen unlängst auf „spiegel online“:
Jakob Augstein, seines Zeichens Verleger der Wochenzeitung „Freitag“, schrieb
in seiner wöchentlichen Kolumne beim online-magazins des Spiegel einen fast
schon revolutionären Beitrag, der Zusammenhänge aufzeigt, welche jede/r interessierte
Mensch wissen könnte, wenn er oder sie sich nur ein bisschen mit den Fakten
beschäftigen würde.
Daher dokumentieren wir diesen Artikel an
dieser Stelle.
So sinnvoll die dort genannten Einzelschritte
im Übergang auch seien mögen, so viel sinnvoller wäre es doch das Übel
konsequent bei der Wurzel zu packen und die Forderung laut zu erheben, das
ganze kapitalistische System abzuschaffen und durch ein gerechteres zu
ersetzen: Den Sozialismus!
Eine
Kolumne von Jakob Augstein
Der Westen bekämpft den islamistischen
Terrorismus. Warum nicht den eigenen? Die Zahl der Menschen, die uns zum Opfer
fallen, ist viel höher. Alle zehn Sekunden verhungert ein Kind. Es ist unsere
Schuld.
"Wir
können nicht zur Seite schauen, wenn Mord und Vergewaltigung an der
Tagesordnung sind", hatte Verteidigungsministerin von der Leyen zu
Jahresbeginn gesagt. Große Koalition, große Worte. 2014 sollte für die
Deutschen zum Jahr der Verantwortung werden. Die Losung lautet jetzt:
Mitmachen. Im Kampf gegen den Terrorismus zum Beispiel. Aber nicht gegen jeden
Terrorismus. Die Islamisten müssen uns fürchten. Die Kapitalisten nicht. Dabei
verbreiten sie eine ganz eigene Art von Terror, grausam, mit vielen Opfern.
Polemik? Übertreibung? Schön wär's.
2100
Kalorien, 805 Millionen, zwölf Milliarden, zehn Sekunden: Im Westen begegnen
wir dem Hunger als Zahlen: So viel braucht ein Mensch zum Leben, so viele
Menschen haben zu wenig zu essen, so viele Menschen könnte die Erde heute
ernähren - und so lange dauert es, bis wieder ein Kind unter fünf Jahren an
Hunger stirbt. Drei Millionen jedes Jahr. Das ist die Statistik der
Welthungerhilfe, veröffentlicht Anfang der Woche. Aber die Wahrheit liegt
hinter den Zahlen. "Hunger ist kein stiller Tod, kein langsames Verlöschen.
Das Ende ist grausam, die Agonie ist schrecklich", sagt Jean Ziegler, der
alte Kämpfer, der ein halbes Leben dem Engagement gegen den Hunger und seine
Schuldigen gewidmet hat. Die Schuldigen - das sind wir.
Foto: spiegel online / Getty Images |
Geld stinkt nicht. Aber es kann töten
Hunger
ist kein Naturgesetz. Er ist menschengemacht. Er kann dort entstehen, wo die
Menschen leiden. Korrupte Regierungen, unfähige Verwaltungen, der Westen ist
dann mal mehr, mal weniger verwickelt. Aber viel häufiger entsteht er weit
entfernt von den elenden Hütten. Bei uns. Hunger ist kein Unfall. Er ist eine
Folge des Systems. Im August hat Indien die Gespräche für ein neues
Welthandelsabkommen beendet. Die indische Regierung wollte nicht darauf
verzichten, Grundnahrungsmittel für die Ärmsten zu subventionieren. Nach den
Regeln des Westens ist das ein Eingriff in die Kräfte des Marktes. Aber in
Indien hungern 200 Millionen Menschen.
Wenn
Nahrungsmittel an der Börse gehandelt werden, dann freuen sich die Anleger über
Gewinnchancen. Aber für die Menschen in den elenden Städten können steigende
Preise den Tod bedeuten. Es machen nicht mehr alle mit bei diesem schmutzigen
Geschäft. Ausgerechnet unsere größten, die Deutsche Bank und die Allianz,
wollen auf den Handel mit Agrarfinanzprodukten nicht verzichten. Geld stinkt
nicht. Aber es kann töten.
Regierungen entmachten sich selbst
Der
Westen hat sich eine Welt gebaut, die tödlichen Regeln folgt. Es sind die
Regeln des sogenannten "Washington Konsens": Privatisierung, totale
Mobilität und Entstaatlichung. Das Ziel ist der Traum der Neoliberalen:
stateless global governance, globale Steuerung ganz ohne Staat. Wir sind auf
dem Weg dorthin. Die Konzerne erteilen den Staaten Befehle.
- Guatemala deckelt die Strompreise - ein US-Energieunternehmen wird mit 21 Millionen entschädigt.
- Ägypten erhöht den Mindestlohn - ein französischer Müllkonzern klagt - das Verfahren läuft noch.
- Und jetzt muss sich sogar die Bundesrepublik Deutschland wegen einer politischen Entscheidung vor einem internationalen Schiedsgericht mit einem multinationalen Konzern herumschlagen: Vattenfall fordert Milliarden, weil der Atomausstieg das eigene Geschäft schädige.
Man kann
die Toten nicht verrechnen, man kann Moral nicht wiegen, und die Empörung nicht
in Portionen verteilen. Aber wenn wir die Bilder der Hinrichtungen durch die
IS-Kämpfer sehen, die öffentlich gemachten Enthauptungen von Bürgern aus dem
Westen, dann entbrennt unser Zorn - und wir sind bereit, Militär und Milliarden
in Gang zu setzen. Warum entbrennt unser Zorn nicht, wenn wir die Bilder
sterbender Kinder sehen? Weil die Dinge nicht zu ändern sind? Aber das stimmt
ja nicht. Wir reden uns die Unabänderlichkeit dieses Schreckens ein, um unserer
eigenen Verantwortung zu entkommen.
Was tun?
Die
Regierungen sind nicht machtlos. Sie entmachten sich selbst. Deutschland könnte
noch heute damit beginnen, den Hunger in der Welt wirkungsvoll zu bekämpfen. Es
ist ganz einfach.
- Wir müssten uns beim Weltwährungsfonds für eine Entschuldung der ärmsten Länder einsetzen.
- Wir müssten Agrartreibstoffe mit hohen Zöllen und Steuern belegen.
- Wir müssten die Spekulation mit Nahrungsmitteln an der Börse verbieten.
Es wäre
von großer symbolischer und materieller Bedeutung wenn das größte Land Europas
diesen Weg ginge. Warum tun wir es nicht?
"Ich
erinnere uns alle daran: Nicht nur durch Tun, sondern auch durch Unterlassen
können wir uns schuldig machen, wenn die Möglichkeit des Handelns
besteht." Das hat Frank-Walter Steinmeier gesagt. War ihm die ganze
Tragweite des Satzes bewusst?
http://www.spiegel.de/politik/deutschland/jakob-augstein-kolumne-hunger-gehoert-bekaempft-a-997476.html
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