Mittwoch, 6. Februar 2019

Abgeschrieben: »Das ist der Rückfall in eine koloniale Praxis«


Anhänger von Maduro demonstrieren in Caracas (2.2.2019), Foto: junge Welt
Venezuela: Fragen des Völkerrechts spielen offenbar geringe Rolle, obwohl Verstöße offensichtlich sind. 

Wir veröffentlichen daher hier ein Interview der Tageszeitung „junge Welt“ mit dem Völkerrechtler Norman Paech* und einen Kommentar des Deutschlandfunks.

Seit Tagen beherrscht die Lage in Venezuela die Schlagzeilen. Mit welchen Gedanken schlagen Sie morgens die Zeitung auf?

Seit Jahren ist Venezuela immer irgendwo im Fokus der Berichterstattung, wenn es darum geht, über die ökonomische Misere dort oder die Schwierigkeiten der Regierung zu sprechen. Insofern haben wir es jetzt nur mit einem Kulminationspunkt einer Entwicklung zu tun, der voraussehbar war.

Zunächst waren auch in bürgerlichen Medien Vokabeln wie »Staatsstreich« zu vernehmen, als sich Juan Guaidó am 23. Januar selbst zum »Übergangspräsidenten« erklärte. Davon ist mittlerweile weniger zu hören.

Ursprünglich war man auf dem richtigen Pfad. Wir haben es hier mit einem vollkommen unzulässigen und rechtswidrigen Putsch zu tun, auch nach der venezolanischen Verfassung. Damals kannte man Guaidó wohl nicht und wusste nur wenig über die Hintergründe: Es geht um einen seit langer Zeit geplanten »Regime change«, der in den USA und in interessierten Kreisen verfolgt wird. Jetzt, wo ein eventueller Erfolg in Sicht ist, hat man sich wieder auf die Schleimspur der US-Regierung begeben. Man spricht nicht mehr darüber, was doch eigentlich in den westlichen Wertvorstellungen eine große Rolle spielen sollte: das Völkerrecht und die Souveränität von Staaten.

Diese Woche haben mehrere Staaten, darunter die BRD, nachgezogen und Guaidó als legitimen Interimspräsidenten anerkannt. Andere tun das nicht. Was hat es mit der Praxis der Anerkennung auf sich?

In der Diplomatie und im Völkerrecht hat jede Regierung das Recht, eine andere anzuerkennen oder auch nicht. In Venezuela ist es aber anders: Hier wird sich nicht darauf beschränkt, der Regierung von Präsident Nicolás Maduro die Anerkennung zu verweigern, sondern hier geht es klar darum, diese zu ersetzen. Das ist die Unterstützung eines Umsturzes und nach allen Regeln der UN-Charta ein unerlaubter Eingriff in die Souveränität eines Staates.

Wenn dem so ist, wo bleibt der Aufschrei derjenigen, die sonst das Völkerrecht hochhalten?

Ich wundere mich darüber, dass in der deutschen Presse nur sehr wenig Kritik an dem Vorgehen, dem sich nun auch die Bundesregierung angeschlossen hat, zu hören ist. Denken Sie nur daran, was im Fall der Krim zu vernehmen war. Oder denken Sie daran, was derzeit als Satire durchs Internet geistert: Russlands Präsident Wladimir Putin würde eine selbsternannte Präsidentin Marine Le Pen in Frankreich anerkennen, vor dem Hintergrund der Proteste der »Gelbwesten« und des Ausnahmezustandes, den die französische Regierung unter Emmanuel Macron durch die großen Polizeieinsätze zu verantworten hat. Die Reaktion auf ein solches Szenario wäre sicher eine völlig andere als bei Venezuela. Man würde sich schnell an das Völkerrecht erinnern.

Begründet wurde die Anerkennung Guaidós damit, Maduro habe ein Ultimatum zur Ausrufung neuer Präsidentschaftswahlen verstreichen lassen.

Das ist der Rückfall in eine koloniale und imperiale Praxis: Regierungen werden dazu aufgefordert, sich zu unterwerfen, wodurch sie letztlich in den Vasallenstatus zurückkehren. Man muss sagen, dass wir es hier mit einer absoluten diplomatischen Frechheit zu tun haben. Es war realistischerweise nicht zu erwarten, dass Maduro diesem Ultimatum folgt. Das wäre einer totalen Aufgabe gleichgekommen.

Mit Blick auf die Parallelen zu anderen Fällen: Ist Kolonialismus der treffende Ausdruck, wenn es um die Beschreibung der Kontinuität dieser Politik geht?

Soweit würde ich nicht gehen. In der Vergangenheit hatte man sich doch immer wieder an das Völkerrecht gehalten, wenn es auch Ausnahmen gegeben hat. Die politisch-ökonomische Unterwanderung von Staaten wurde oft im Hintergrund gehalten. Das ist im jetzigen Fall völlig anders, wo offen und dreist seitens der USA mit militärischen Maßnahmen gedroht wird. Das ist reine Kanonenbootpolitik.

Wozu braucht es das Völkerrecht überhaupt noch, wenn es eh keine konsequente Anwendung findet?

Unsere Straftatbestände von Betrug bis Mord werden tagtäglich verletzt – hier stellt niemand die Frage, ob man sich von dem Recht verabschieden soll. Meine Antwort ist klar: Dieses Völkerrecht wird gebraucht. Man muss es immer wieder herstellen.

*Norman Paech ist emeritierter Professor für Völkerrecht und war von 2005 bis 2009 Bundestagsabgeordneter für Die Linke

Interview: Jan Greve


DLF-Kommentar zu USA, EU und Venezuela: »Rückfall in kolonialistische Zeiten«

Deutschlandradio-Reporter Sebastian Engelbrecht kommentierte am Montag abend im DLF die Anerkennung des venezolanischen Parlamentspräsidenten Juan Guaidó als Interimspräsidenten des Landes:

Es ist ein Rückfall in kolonialistische Zeiten. (…) Man reibt sich die Augen: Sind die Zeiten einer paternalistischen Politik Europas gegenüber den Staaten auf der südlichen Halbkugel nicht ein- für allemal vorbei? Schamlos mischt sich der deutsche Außenminister Heiko Maas in die inneren Angelegenheiten Venezuelas ein – und beruft sich dabei auf die Werte der Demokratie, auf das Leid der Venezolaner, die hungern und gesundheitlich schlecht versorgt werden.

Die Bundesregierung handelt im Einvernehmen mit Spanien, Frankreich und Großbritannien, den großen Kolonialmächten des Kontinents. Zuvor hatten die europäischen Staaten Maduro gar ein Ultimatum gestellt. (…)

Es fragt sich, mit welchem Recht Deutschland und seine europäischen Partner so handeln. Sie missachten die Souveränität Venezuelas, indem sie in einem internen Machtkampf Partei ergreifen. Dabei wähnen sie sich auf der sicheren Seite, nachdem die USA bereits zwei Wochen zuvor Guaidó aus der Ferne zum Präsidenten inthronisiert haben. Diese opportunistische Politik der Europäer folgt einer finsteren Tradition: Jahrzehntelang haben sich die USA in Mittel- und Südamerika in innere Angelegenheiten anderer Staaten eingemischt. Sie stützten Militärdiktaturen, etwa in Chile und Argentinien – ebenso wie autoritäre Regime in El Salvador und Guatemala.

Dass Venezuela freie Präsidentschaftswahlen braucht, ist unbestritten. Dass Maduro das Land in eine aussichtslos erscheinende Krise manövriert hat, ebenso. Dennoch bleibt der Kampf um die Macht in Venezuela eine Angelegenheit der Venezolaner. (…)

Was ist der Grund der einseitigen Parteinahme der USA, Deutschlands und einiger europäischer Staaten für Guaidó? Die Bekenntnisse zur Unterstützung der Demokratie und zur Verbesserung der humanitären Situation erscheinen wie eine Camouflage der eigenen Interessen. Venezuela gilt als das ölreichste Land der Erde. Hier haben alle beteiligten Exkolonialmächte auf lange Sicht ein Interesse an guten Beziehungen und an einem gefügigen Präsidenten.

Glücklicherweise folgt Italien nicht der Linie der ehemaligen europäischen Kolonialmächte. Ein Denkanstoß aus dem eigenen Lager.

Aus „junge Welt“ vom 06.02.2019

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