Über 12 Millionen sind bereits in der Falle
„Armutsgefahr“
Comedians
aus dem Merkel/Gabriel-Kabinett bedienen weiterhin die sarkastische, eher
zynische Sparte: Es gibt keine Armut in Deutschland. Und: Afghanistan ist ein
sicheres Land.
Wie bei
einer schlechten Theateraufführung gibt es dann einzelne Claqueure. Und es gibt
scharfe Kritiker. Nach Aussage der „Tafeln“ leben „Millionen Menschen in
Einkommensarmut oder sind unmittelbar von ihr bedroht … Für den Kauf von
Lebensmitteln bleiben den Betroffenen nur wenige Euro pro Tag, die für die
Zubereitung von Frühstück, Mittag- und Abendessen ausreichen müssen. Frisches
Fleisch, Milch, Obst und Gemüse werden zu Luxusgütern, die sich die Betroffenen
nur selten leisten können.“
Die
Folgen lauten in der Kurzformel: „Wer arm ist, stirbt schneller!“ Konkret:
Mangelernährung, Krankheitsanfälligkeit, soziale Isolation, Suchtprobleme. In
der EU sind Menschen arm, die weniger als 60 Prozent des Durchschnitts
verdienen. In Deutschland sind das rund 930 Euro. Der WDR hat die Zahlen für
das größte Bundesland auf den Tisch gelegt: 20 Prozent der Bevölkerung gelten
als arm. Und daneben gibt es 3 700 Einkommensmillionäre. Jedes sechste Kind ist
nach Angaben des Kinderhilfswerkes auf „Stütze“ angewiesen.
Der
Deutsche Kinderschutzbund (DKSB) fordert, Kinderrechte ins Grundgesetz
aufzunehmen und den Staat stärker in die Pflicht zu nehmen, „wenn es um die
Wahrnehmung seiner Verantwortung für kindgerechte Lebensverhältnisse und um
gleiche Entwicklungschancen für alle Kinder und Jugendlichen geht. Angesichts
der aktuellen Debatten über eine viel zu hohe Kinderarmutsquote,
unterschiedliche Bildungschancen, ein Auseinanderdriften der Gesellschaft in
Reich und Arm und häufige Fälle von Vernachlässigung wäre dies ein wichtiges
Signal.“ In Bezug auf die UN-Kinderrechtskonvention gibt es in Deutschland
starken Nachholbedarf.
Es geht
nicht nur um das Essen von der „Tafel“ oder das Bankett der Betuchten im
Ballsaal. Beachtet werden müssen auch Kosten für Bildung, Gesundheit, Kleidung,
Transport, Kommunikation. Am Ende der unsozialen Hitliste stehen dann
Kinderreiche, Alleinerziehende, Geringverdiener, Bezieher niedriger Renten,
chronisch Kranke, Behinderte. Die Rangfolge bleibt aussagekräftig, besonders
wenn sie mit anderen Politikfeldern verglichen wird. Zum Beispiel mit der
Rüstungsproduktion und dem Rüstungsexport. Die Waffenindustrie ist stolz auf
Platz 3: In Rüstung sind wir besser als bei Kinderarmut.
Armut ist
in Deutschland eine Zentrifuge: Die Leichtgewichte werden an den Rand oder gar
aus der Umlaufbahn geschleudert, und der fette Kern verdichtet sich immer
stärker. Der Kapitalismus ist nicht in der Lage, dieses Problem zu lösen. „Die
Zeit“ erinnerte kürzlich daran, dass vor rund zehn Jahren acht Millionen
Menschen staatliche Hilfen zum Überleben benötigten: „Jeder zehnte Einwohner
bezog Hartz IV, Sozialhilfe, Asylhilfe oder andere Leistungen für die
Grundsicherung.“
Der
aktuelle „Armuts- und Reichtumsbericht“ der Bundesregierung legt Zahlen bis
2015 vor. Und siehe da: Es hat sich nichts verbessert. Acht Millionen Menschen
lebten 2015 am Existenzminimum. Werden die 60 Prozent des mittleren Einkommens
als Berechnungsgrundlage zur Armutsermittlung herangezogen, ergeben sich sogar
12,9 Millionen „Menschen in Armutsgefahr“. Trotz Wachstum, bester
Wirtschaftslage, Exportweltmeisterschaft, Exportüberschuss und geschönter
Beschäftigungsrekorde hat das Elend einen Namen: Hartz IV mit 409 Euro pro
Monat plus Miete. Das gilt auch für die Grundsicherung im Alter.
Die
Parteien der Bundesregierung geben vor, das Problem verstanden zu haben. Aber
sie verteilen Placebos wie etwa die Rentenerhöhung ab kommendem Monat: 1,90
Prozent (Westen) oder 3,59 Prozent (Osten). Die Rentendifferenz zwischen Ost
und West wurde dabei um ganze 1,6 Prozent gemindert. Es wird noch etwas dauern,
bis die Renten in Aue denen in Aachen angeglichen sind. Wer arm ist, soll sich
über Brosamen freuen. Oder die Verursacher abstrafen.
Von Uwe
Koopmann
aus „unsere zeit (UZ) – Zeitung der DKP“ vom 09. Juni 2017
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