Donnerstag, 27. Oktober 2016

Freiheit? Demokratie? – Radikalenerlass und Berufsverbote

Die meisten Menschen der nachgewachsenen Generationen kennen den sogenannten Radikalenerlass und die massenhaften Berufsverbote, die in den 1970er und -80er Jahren gegen Beamte des öffentlichen Dienstes ausgesprochen wurden, bestenfalls nur noch vom Hörensagen. Die Opfer wurden bis heute nicht rehabilitiert.

Das Thema ist so gut wie tabu. Der hier verlinkte Beitrag des ZDF ist eine Ausnahme. Er ruft ein Kapitel bundesdeutscher Geschichte in Erinnerung, das bis heute nachwirkt. Sehenswert!

Hier der Link:

Berufsverbote: Betroffene rehabilitieren und Radikalenerlass abschaffen!

3,5 Millionen Überprüfungen durch den „Verfassungsschutz“, 11000 Berufsverbotsverfahren, 2200 Disziplinarverfahren, 1250 Ablehnungen von Bewerbungen sowie 265 Entlassungen aus dem Öffentlichen Dienst, so lautet die jeder Demokratie hohnsprechende Bilanz als Folge des sogenannten Radikalenerlasses von Januar 1972. Willy Brandt galt als Initiator dieser innenpolitischen Repression die außenpolitische Entspannungspolitik konterkarierend. Später bezeichnete der Kanzler der neuen Ostpolitik den Ministerpräsidentenbeschluss als Fehler, freilich ohne die politischen Konsequenzen geschweige denn die Notwendigkeit der Rehabilitierung zu thematisieren.
Parallel zu den Berufsverboten im Öffentlichen Dienst begann die Verdrängung gewerkschaftlich und sozialistisch engagierter Journalisten aus privaten und öffentlichen Medien in Presse, Rundfunk oder Fernsehen. Obwohl im Öffentlichen Dienst ein verfassungsrechtlicher Schutz vor politischer Diskriminierung besteht, auf den sich die Beschäftigten berufen können, wurden Auftrittsverbote gegen Künstler in den öffentlich-rechtlichen Medien verfügt, u.a. gegen den kürzlich verstorbenen Ossietzky-Mitherausgeber Dietrich Kittner. Bis zu höchsten Gerichten wie dem BVerwG und BVerfG wurde der Schutz vor politischer Diskriminierung gebeugt. Eine ganze Generation sah sich konfrontiert mit dem staatlichen Druck der Einschüchterung und Entpolitisierung.

Folgen dieser Entdemokratisierung wirken bis heute in den beruflichen und familiären Biographien nach. So etwa verwehrte die niedersächsische Landesregierung unter Ernst Albrecht dem Lehrer Matthias Wietzer 1978 die Einstellung in den Schuldienst nach dreistündiger „Anhörung“ im Niedersächsischen Innenministerium u.a. wegen seiner Aktivitäten für den Marxistischen Studentenbund Spartakus (MSB) und die DKP sowie einer Spende über 20 DM im Jahr 1973 an die Zeitung „UZ“. Nach jahrelangem politischen Kampf und fünf Gerichtsverfahren um seine Einstellung erfolgte erst 1991 die Übernahme in den Schuldienst. Nun arbeitet er seit 22 Jahren an der Brinker Schule im niedersächsischen Langenhagen und bekam 2009 eine Dankesurkunde der Niedersächsischen Landesregierung „für 25-jährige gewissenhafte Pflichterfüllung“. Eine behördliche Stelle teilte ihm allerdings später auf Anfrage mit, dass er bei Erreichen der Altersgrenze 2017 bei weiterer Vollzeittätigkeit einen Ruhegehaltsanspruch von 53,88 % erreichen werde, was einem reduzierten Pensionsanspruch von ca. 500 Euro monatlich entspricht und somit eine lebenslange Abstrafung darstellt. Nicht wenige der Betroffenen wird es noch härter treffen, ihnen droht das Absinken in die Altersarmut.

Nach 1989/90 wurde im Osten des Landes die Abwicklung real-sozialistischer Ökonomie durch die Verfügung flächendeckender Berufsverbote ergänzt, deren Geschichte nicht einmal in Ansätzen geschrieben ist. Die politische Überwachung funktioniert seitdem so dicht, wie es sich Geheimdienste der 70er und 80er Jahre kaum zu träumen wagten. In Zeiten, da in vielen Arbeitsverhältnissen alle Sicherheiten aufgekündigt wurden, leben 12 Millionen arbeitsfähige Menschen in Deutschland mit Einkommen unter 700 Euro. So kann sich eine Berufsverbotspraxis verdeckt durchsetzen. Die Angst, nach der Befristung den Arbeitsplatz zu verlieren oder unter einer Vielzahl von Bewerbern erst gar nicht zum Einstellungsgespräch geladen zu werden, aktiviert die Schere im Kopf, erzeugt enormen Anpassungsdruck. Da kann die Frage, den „Ossietzky“ zu abonnieren oder besser nicht, als Existenzfrage gewertet werden.

Einer Gruppe ehemals Betroffener gelang es 2012 aus Anlass des 40. Jahrestages des Ministerpräsidentenbeschlusses die Bewegung gegen Berufsverbote in verschiedenen Regionen der alten BRD wieder zu beleben. Die GEW hat auf Bundes- und Landesebene Unterstützung signalisiert, in Bremen und Niedersachsen erzielten parlamentarische Initiativen erste Betroffenheit. Ob die zentralen Anliegen dieser Demokratiebewegung, den Ministerpräsidentenbeschluss zu streichen, die Betroffenen politisch und materiell zu rehabilitieren gelingt, werden die weiteren Aktivitäten der regionalen und bundesweiten Initiativen zeigen. (…)

Von Udo Paulus

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