„Die Akte Rosenburg“ bestätigt lang Bekanntes
Der
Alliierte Kontrollrat hatte im Artikel IV seines Gesetzes N. 4 vom 30. Oktober
1945 auf der Grundlage des Potsdamer Abkommens verfügt: „Zwecks Durchführung der
Umgestaltung des deutschen Gerichtswesens müssen alle früheren Mitglieder der
Nazipartei, die sich aktiv für deren Tätigkeit eingesetzt haben, und alle
anderen Personen, die an den Strafmethoden des Hitler-Regimes direkten Anteil
hatten, ihres Amtes als Richter und Staatsanwalt enthoben werden und dürfen
nicht zu solchen Ämtern zugelassen werden.“
Wenige
Jahre später waren im Westen Deutschlands nicht wenige Verantwortliche wie
„Mittäter“ oft schon wieder in Amt und Würden. Dazu trug auch das 131er Gesetz
aus dem Jahr 1951 bei.
Emil
Carlebach schrieb in „Hitler war kein Betriebsunfall“: „Die Bundesrepublik
wurde aufgebaut mit Leuten, die in jedem zivilisierten Lande wegen ihrer
Untaten im NS-Regime vor Gericht und ins Gefängnis gekommen wären. Und sie zogen
ihre Mittäter nach, in Justiz und Polizei, in den Beamtenapparat und in das
Parteiensystem.
Theodor Heuss, der für Hitlers Ermächtigungsgesetz gestimmt hatte und dann für das Leibblatt von Goebbels ‚Das Reich’ schrieb.
Karl Carstens,
Mitglied der NSDAP und der SA; Lübke, der vorzeitig zurücktrat, als ihm
vorgehalten wurde, dass er als Ingenieur Konstruktionszeichnungen für
Konzentrationslager angefertigt hatte.
Bundeskanzler
wurde der Altnazi Kurt Georg Kiesinger, der im Reichsrundfunk für den
Außenminister Ribbentrop (als Kriegsverbrecher hingerichtet) die antisemitische
Auslandspropaganda mit Goebbels koordinierte.“
Aber auch
viele Juristen machten Karriere:
„Ministerpräsident
wurde der ‚blutige Schwabe‘ Hans Karl Filbinger, und mit ihm, dem Kriegsrichter
Hitlers, kamen die blutbefleckten Kriegs- und Sonderrichter unbeanstandet in
die Justiz des ‚Rechtsstaates’.
Keiner von ihnen wurde … zur Verantwortung gezogen. Sie und ihresgleichen waren es, die dann den Nachwuchs für die BRD-Justiz ausbildeten …“
(Zitiert
nach der 5. Auflage, 1993)
All das
und auch, dass in den Ministerien der Bundesrepublik viele alte Nazis saßen,
ist lange bekannt – und nicht nur durch Veröffentlichungen in der DDR.
„Ungesühnte Nazijustiz – Dokumente zur NS-Justiz“ war der Titel einer
Ausstellung, die am 27. November 1959 erstmals in Karlsruhe gezeigt wurde und
von Mitgliedern des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes organisiert
worden war.
Sie wurde
danach in verschiedenen Universitätsstädten der Bundesrepublik und in
West-Berlin gezeigt. Namen wurden genannt, die Tätigkeit von Juristen während
der Zeit des Faschismus benannt. Die unter ihrer Beteiligung ergangenen
Todesurteile wurden dokumentiert. Verwiesen wurde auf die aktuelle Tätigkeit
der Betroffenen in der westdeutschen Justiz.
Das galt als „Tabubruch“. Die Studenten wurden als „Handlanger Pankows“ diffamiert. Die mehr als einhundert in der SDS-Ausstellung bloßgestellten Blutrichter kamen nicht vor Gericht: Man eröffnete ihnen stattdessen zu Beginn der sechziger Jahre den Weg in den vorzeitigen Ruhestand. Andere – vor Gericht gestellte – Täter wurden weiterhin freigesprochen und ihre Taten als Beihilfe verharmlost.
So ließ
etwa das Berliner Landgericht 1968 den Angeklagten Hans-Joachim Rehse, den
Beisitzer Roland Freislers am Volksgerichtshof, straffrei ausgehen. Rehse war
wegen der Unterzeichnung von mehr als einhundert Todesurteilen angeklagt
worden.
Foto: Bundesarchiv, Bild 151–39-21/CC-BY-SA 3.0
Berlin – Volksgerichtshof, Prozess nach dem 20. Juli 1944; Hermann
Reinecke, Roland Freisler, Heinrich Lautz. |
Dass weitaus mehr alte Nazis als nur 100 auch in der Justiz der Bundesrepublik auf hohen Posten saßen, wurde im 1965 in der DDR erschienen Braunbuch nachgewiesen. Dort hieß es unter der Überschrift „Bonn schützt die Mörder“: „Entgegen den offiziellen Verlautbarungen des Bundesjustizministeriums sind heute in Westdeutschland noch über 800 Juristen der nazistischen Ausnahmegerichte tätig.
Nicht
einer der zum Teil mit über 100 Bluturteilen belasteten Nazi-Juristen wurde vor
Gericht gestellt. Diese ‚Rechtsprecher’, die ausnahmslos im Dienste der
Unmenschlichkeit, des Unrechts und der Aggression standen, sind bis in die
höchsten Positionen des westdeutschen Staats- und Justizapparates gelangt.
Westdeutsche
Gerichte stellten sogar die Ermittlungsverfahren ein, die auf Grund von
Strafanzeigen gegen Nazi-Juristen eingeleitet worden waren. Selbst von Staaten
der Antihitlerkoalition rechtskräftig verurteilte Nazi- und Kriegsverbrecher
wurden in voller Kenntnis ihrer Vergangenheit in Bonner Dienste übernommen.“
Dann
wurden Beispiele angeführt und Namen genannt. Viele Nazi-Juristen erhielten
nach dem Ausscheiden hohe Pensionen, andere machten in der Politik Karriere. Im
„Braunbuch“ wurden auch Namen jener genannt, die hohe Posten im
Bundesjustizministerium inne hatten.
Das
„Braunbuch“ wurde von der Bundesregierung als „kommunistisches Propagandawerk“
diffamiert. Eine weitere Auflage wurde 1967 auf der Frankfurter Buchmesse
beschlagnahmt. Die Bundesregierung behauptete, die erhobenen Vorwürfe träfen
nicht zu – spätere Analysen zeigten, dass die Angaben im „Braunbuch“
außerordentlich korrekt waren. Es erlebte mehrere Neuauflagen.
Als in der vergangenen Woche Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) in Berlin den Abschlussbericht einer unabhängigen wissenschaftlichen Kommission vorstellte, war die Aufregung groß, denn im Bericht der Kommission „Die Akte Rosenburg“ heißt es, dass von 170 Juristen, die zwischen 1949 und Anfang der 1970er Jahre im Bundesjustizministerium Leitungspositionen hatten, 90 Mitglieder der NSDAP gewesen waren.
Die an
der Untersuchung beteiligten Wissenschaftler zeigten sich überrascht von der
hohen Anzahl der ehemaligen NSDAP-Mitglieder in hohen Positionen des
Ministeriums, obgleich ja viele Fakten schon lange bekannt sind.
Die Spitze sei 1957 erreicht worden, so der Leiter der Historikerkommission, der Rechtswissenschaftler Christoph Safferling. „Damals waren 77 Prozent der leitenden Beamten ehemalige NSDAP-Mitglieder, vom Referatsleiter aufwärts.“ „Wie sich zeigt, war die NS-Belastung im Justizministerium womöglich die höchste unter allen Bonner Ministerien.“ („Süddeutsche Zeitung“, 10. Oktober)
„Auch
wenn jedem Hinweis nachgegangen wurde, fand eine wirklich kritische Prüfung
nicht statt; die betroffenen Personen wurden lediglich um Stellungnahmen
gebeten, die von anderen Ministeriumsmitarbeitern zusammengefasst und
ausgewertet wurden – zumeist von Josef Schafheutle, der indessen selbst schwer
belastet war. Negative Konsequenzen ergaben sich daher aus den Vorwürfen kaum
…“
KPD Plakat 1955 |
Die
frühere Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), die
die Studie ursprünglich in Auftrag gegeben hatte, stellte fest: Viele der nach
dem Krieg leitenden Mitarbeiter des Hauses hätten während der NS-Zeit als
Richter bei Sondergerichten gewirkt und seien damit verantwortlich für
Todesurteile. Später hätten sie als Abteilungsleiter, Unterabteilungsleiter
oder Referatsleiter im deutschen Justizministerium gearbeitet. So sei etwa ein
Mitarbeiter, der an den Rassengesetzen der Nazis mitgewirkt habe, später für
Familienrecht zuständig gewesen. („Deutschlandfunk“, 10.8.2016) „Entschuldigt“
wurde das damit, dass man ja schließlich zum Neuaufbau – auch der Justiz –
„erfahrene“ Fachkräfte gebraucht habe…
Von Nina
Hager
Aus„UZ – unsere zeit“ Ausgabe vom 21. Oktober 2016
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