“Dreckige Asylanten”, “Hurensohn-Lokführer”,
“Sozialschmarotzer” – Der Klassenhass des kleinen Mannes auf den kleinen Mann
Schon
damals, als das Kommentieren in sozialen Medien und Meinungsspalten
auflagenstarker Zeitungen noch nicht die Hauptbeschäftigung der
Kartoffelwutbürger war, hat mich ein Phänomen sehr verstört, das sich seitdem –
zumindest in meiner subjektiven Wahrnehmung – noch stark verschärft hat.
“Arabella”,
“Britt” und “Andreas Türck” bespielten das schon am frühen Nachmittag vor dem
Fernseher gefangene Publikum mit belanglosen Themen, die konfrontativ zwischen
möglichst skurrilen Gestalten ausgefochten wurden. In schöner Regelmäßigkeit
griff eine dieser Gossensendungen das Thema “Sozialschmarotzer” auf und führte
dann genüsslich – oft unter an Gladiatorenspiele erinnerndem Geschrei des
Publikums – einen oder mehrere besonders “schlimme” Typen vor, die “unseren
Staat missbrauchen” oder auf “Kosten der Steuerzahler” leben.
Arbeitslosigkeit
wurde, hier ganz im neoliberalen Konsens, in diesen Sendungen grundsätzlich als
individuelles Geschick verstanden, das seine Wurzeln entweder in der “Faulheit”
der Erwerbslosen oder deren “Unwilligkeit” habe, weshalb die
Langzeitarbeitslosen nicht nur als verabscheuungswürdig, sondern vor allem auch
als Schädlinge porträtiert wurden, die “uns”, die wir im Schweiße unseres
Angesichts malochen, das Blut aus den Adern saugen. So weit, so reaktionär. Und
eigentlich kaum verwunderlich.
Verwunderlich
war für mich etwas anderes, nämlich die Reaktion des braven bierseligen
Nachbars Horst. Er war ja selber arbeitslos. Man hätte also erwarten sollen,
dass er Britt und Arabella und Türck und all die anderen Elendsgestalten dieser
neoliberalen Propagandashows zum Teufel wünschte und mit den Klischees des
faulen unfähigen Couchpotatoes aufräumt. Aber nein, das Gegenteil war der Fall.
Er schimpfte böse auf die “faulen Ratten”, die sich auf Staatskosten einen
schönen Lenz machen und geriet geradezu in Rage.
Horst –
so konnte ich danach, als ich mehr auf dieses Phänomen zu achten begann – war
mit seiner im Grunde seinen eigenen Interessen widersprechenden Position nicht
alleine. Ich erinnerte mich an meine Jugend in einem durchweg proletarischen
Milieu, in dem man diejenigen, die mit tiefergelegten VWs über den Dorfplatz
rasten, verächtlich “Prolos” nannte. Später, an der Universität, wurden die zu
“Prolls”, die sich nicht fein zu benehmen wussten. Und in Berlin traf ich mehr
als einmal Arbeiter, die sich über die “Assis” ausließen, die sozial noch
tiefer standen als sie selbst.
“Haha,
der ist so arm”
Jener
“Klassenhass”, für dessen Schüren Rosa Luxemburg im Jahr 1906 wieder einmal
eingesperrt worden war, erschien mir immer ein sehr logisches und gutes Ding.
Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht hatten den Arbeitern erklärt, dass
diejenigen, die sie ausbeuteten, nicht ihre Freunde sind und die Proleten, die
vom Verkauf ihrer Arbeitskraft zu leben hatten, ihr Joch nur überwinden
könnten, wenn sie diese andere Klasse, die Bourgeoisie bekämpfen. Der
“Klassenhass”, wenn man dieses realistische Bewusstsein der eigenen Lage so
nennen will, entspricht der wirklichen Interessenlage der Lohnabhängigen.
Umgekehrt war es mir auch nie unverständlich, wieso die Bourgeoisie auf
Arbeiter herabblickt, sie herabwürdigt, beschimpft oder als gefährlich
wahrnimmt. Denn auch das entspricht ja der Klassenlage, dieser Klasse, die
nicht meine ist. Warum Klassen, die ob ihrer Lage in dem gesellschaftlichen
System Kapitalismus entgegengesetzte Interessen haben, einander nicht mögen,
kann niemanden verwundern.
Ärgerlich
und schräg ist aber das Phänomen, dass Leute, die im Kapitalismus noch nie
etwas gewonnen haben und dementsprechend mit seiner Überwindung auch nichts zu
verlieren hätten, andere Leute hassen, die ebenfalls im Kapitalismus noch nie
etwas gewonnen haben und dementsprechend ebenfalls durch seine Überwindung
nichts zu verlieren hätten.
Als in
den 1990er Jahren der Jugoslawienkrieg durchgefochten wurde, kam in das kleine
Dorf, in dem ich damals lebte, eine einzige Flüchtlingsfamilie. Kulturell war
das Dorf ohnehin eine ziemliche Einöde, sozial waren die meisten irgendwie
abgehängt, bis auf ein paar Großbauern konnte keiner als reich gelten. Meine
damaligen Freunde, vielleicht alle im Alter von 12, 13, 14 Jahren, weigerten
sich mit den Kindern der jugoslawischen Familie zu spielen. Einerseits, das hatten
sie schon von ihren Arschlochfamilien gelernt, waren das “Tschuschen”, das
österreichische Äquivalent zum deutschen “Kanacken”. Andererseits aber waren
diese “Tschuschen” auch noch ärmer als man selber. Das ging gar nicht. Und dann
bekamen die noch die Wohnung behördlich gestellt, da konnte man dann doch ein
wenig neidisch werden. In der Kombination entwickelte sich schon bei diesen
Kindern diejenige Bewusstseinsform, die heute die Sauercrowd, die jederzeit
empörte Schicht von Wutbürgern, vor sich herträgt.
Diese
Verachtung, für den, der vermeintlich unter einem steht, sie ist heute eine der
wohl am meisten verbreitetsten Bewusstseinsformen in den sozialen Medien,
Kommentarspalten, Stammtischen, Fußballstadien, Eckkneipen und diversen
Capslock-Veranstaltungen von rechts. Man echauffiert sich über die
“Wirtschaftsflüchtlinge”, die in “unser Sozialsystem” immigrieren. Man zeichnet
einerseits das Bild von ihnen, als “unzivilisierte Wilde”, die nur gewaltsame
Ausdrucksformen kennen und deshalb eine Bedrohung für die jeweilige gute
deutsche Nachbarschaft darstellten, zum anderen porträtiert man sie als durch
den Staat, der einem selber das Nötigste verweigert, überversorgt. “Die haben
alle neue Handys. Und schaut euch die Schuhe an!!!” schreibt eine Userin auf
einer der mittlerweile zahlreichen “Nein zum Heim” – Seiten. Dieselben
Ressentiments, die in der Flüchtlingsdebatte aufkommen, finden sich beim selben
Klientel gegen “Ausländer” im allgemeinen. Der Ausländer ist wahlweise
derjenige, der einem “den Job wegnimmt” oder aber auch der, der nicht arbeitet
und sich an den Sozialsystemen nährt.
Nuancen
anders verhält es sich mit der neben den “Sozialschmarotzern” dritten und
neueren Gruppe der Lieblingsfeinde der Schmuddelschmocks: Die Lokführer. Dem
Tourette-Youtuber Julien Sewering ist – unabhängig davon, dass er sich
natürlich dennoch Roundhousekicks ins Fressbrett verdient hat – zu danken. Er
hat die reaktionäre Position, die in breiten Teilen der Bevölkerung kursiert,
in Reinform vertreten. Der Lokführer soll nicht streiken, er hat ja schon
genug. Außerdem ist er jederzeit ersetzbar und nur ein dummer Arbeiter, das
Unternehmen, das über jeden Zweifel erhaben ist, kann ihn jederzeit
austauschen, wenn er unbotmäßig ist und sollte das auch tun. Wer aufmuckt und den
deutschen Volkskörper in seiner Gestalt als “Bahnkunde” schädigt, der muss mit
der vollen Wucht des Volkszorns, bis zur “Vergasung”, rechnen. Die Lokführer
sind, so formuliert Sewering in seinem unendlichen Einfallsreichtum, eine
“Hurensohnarmee”, denn sie streiken ja, obwohl sie einen Arbeitsvertrag
unterschrieben haben. Sollen sie doch gehen, wenn ihnen das nicht passt. Wer
die Bahn nicht liebt, soll die Bahn verlassen.
Neoliberalismus
und Nationalismus
Dieses Bewusstsein
ist weit verbreitet. Ich habe in den vergangenen Tagen hunderte Kommentare
gelesen, die sich aus diesem Gedanken speisen. Ein junger Arbeiter schrieb
unter Sewerings Video: “Hammer Geiles Video, du nimmst echt kein blatt vor dem
mund, als normaler arbeiter schaut man sich diese streiks an und schüttelt nur
mit dem kopf, die denken dass sie nen harten job haben? dann waren sie noch nie
stift aufn bau bei ner 40 stunden woche und bei temperaturen um die 35 grad.”
(Rechtschreibung im Original). Man möchte ihm sagen: “Dann streik doch.” Allein,
er will lieber, dass auch die anderen nicht streiken. Der Stolz auf die eigene
Askese ist eine weit verbreitete Idiosynkrasie in der deutschen Arbeiterklasse,
sorgsam gepflegt von Medien, Sozialdemokraten und anderen Klassenfeinden.
Allein
auch diese Askese, so viel bekommen auch die dümmsten mit, hilft ihnen nicht zu
einem besseren Leben. Die Ideologie, man müsse nur fleißig und arbeitsam
durchhalten, und ja nicht ausscheren aus dem gezeichneten Pfad, macht das Leben
der Leute, die ihr anhängen nicht besser. Der Vorteil an diesem Weltbild ist
aber, auch die Schuldigen sind schon gefunden: Die Aufmüpfigen oder die als
“Schmarotzer” markierten, die das nationale Kollektiv, die wiedergeborene
Volksgemeinschaft, schädigen und einen dauernd daran hindern, die schwer
verdiente Frucht der eigenen Enthaltsamkeit auch irgendwann zu ernten.
Dieses
Weltbild speist sich aus zwei tragenden Elementen, die zwei mächtigsten
Bollwerke der herrschenden Klasse gegen den richtigen Klassenhass a la Rosa Luxemburg.
Das erste ist die neoliberale Ideologie der Vereinzelung und der Darstellung
der Auswirkungen kapitalistischer Vergesellschaftung als individuelles
Geschick. Die gesellschaftlichen Verhältnisse spielen keine Rolle mehr, jede
Monade ist ihres Glückes Schmied.
Das
zweite ist der Nationalismus, der Klassenverhältnisse negiert und so tut, als
ob die Nation ein aus eben diesen gleichberechtigten Monaden zusammengesetztes
Ganzes wäre, innerhalb dessen es keine Ausgebeuteten und keine Ausbeuter gibt.
“Du und dein Boss ham nix gemeinsam bis auf das Deutschlandtrikot” – diese
einfache Erkenntnis des rappenden Gegenstandpunktlesekreises KIZ ist leider das
Einfache, das schwer in die Köpfe der Trikotträger zu kriegen ist.
“Die
Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche herrschende Gedanken,
d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist,
ist zugleich ihre herrschende geistige Macht”, schrieb der Erfinder des
Salafistenbarts, Karl Marx. Ohne diese Hegemonie, also die Verbreitung von
Nationalismus und Neoliberalismus in Köpfen jenseits der Klasse von Menschen,
denen diese beiden Weltanschauungen auch wirklich was bringen, würde der
Kapitalismus nicht funktionieren. Man stelle sich für einen Moment vor, die
verschiedenen Segmente der Arbeiterklasse reichten einander und den
Flüchtlingen die Hand, die Erwerbslosen reihten sich mit ein und zusammen mit
jenen Schichten der sich akademisch Verdingenden und allen anderen, denen der
Kapitalismus nichts bringt als Gram und Not, machte man sich auf, um zu ändern,
was geändert werden muss. Dass das nicht geschieht, dafür gibt es nicht nur die
handgreifliche Repression durch Bullen und Militär. Dafür gibt es, und das ist
noch wirksamer vielleicht, die Bewußtseinsformen, die wir in den Debatten der
vergangenen Wochen immer und immer wieder beobachten können.
Ich
glaube nicht daran, dass man allen Menschen erklären kann, dass sie etwas nicht
tun sollten, weil es schlecht für jemand anderen ist. Ich glaube, bei aller
Bewunderung für den Gedanken, der solches wünscht, nicht daran, dass die Idee
das Interesse schlägt. Was man aber allen Menschen, die halbwegs bei Verstand
sind, erklären können sollte, ist, dass es dumm ist, gegen seine eigenen
Interessen zu handeln. Genau das tun aber die, die sich über
“Sozialschmarotzer”, Streikende oder Flüchtlinge aufregen. Wenn sie das nicht
begreifen können, kann man ihnen nur empfehlen, sich einen Strick und ein
Fensterkreuz zu suchen. Das ist auch gegen ihre eigenen Interessen, geht aber
schneller und beeinträchtigt andere weniger.
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