Zur Krise der Arbeiterbewegung
Die
„soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts” wird in den Sozialwissenschaften
gegenwärtig als die von „Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung” verhandelt (so der
Titel eines einschlägigen Sammelbandes). Das sogenannte
,Normalarbeitsverhältnis’ als eine relativ gut entlohnte, unbefristete
Vollzeit-Festanstellung mit Kündigungsschutz und Integration in die
betriebliche Mitbestimmung weicht tendenziell flexiblen und ungeschützten, eben:
prekären Beschäftigungsverhältnissen. Dazu wächst der „Bodensatz” einer
chronischen Massenarbeitslosigkeit, die begleitet wird von einem Abbau der
sozialen Sicherungssysteme. Und: Im Gegensatz zur Zeit der kurzen
Prosperitätsphase bis zur Mitte der 70er Jahre haben wir es heute vor allem mit
einer „Ausweitung der Prekarität in beruffachliche Arbeitsmärkte der
Mittelklasse und in die Sektoren männlich dominierter Erwerbstätigkeit” zu tun
(Vogel 2009:192).
Somit
gelten die weit ausgreifenden Prozesse der Prekarisierung als der eigentliche
Kern der „sozialen Frage” der Gegenwart. Dabei müsse jedoch festgestellt
werden, „dass die Konfliktformation, die mit der zeitgenössischen
Prekarisierung korrespondiert, sich deutlich von der des industriellen
Klassenkonflikts” unterscheide: „Vom Abstieg bedrohte Arbeiter und Angestellte
haben Sozialeigentum1 zu verteidigen, dessen Besitz prekär Beschäftigten
wiederum als Privileg erscheinen muss” (Castel/Dörre 2009: 383). Es gehe also
nicht mehr um Konflikte zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, zwischen „Oben”
und „Unten”, könnte man folgern, sondern zwischen „Drinnen” und „Draußen”.
Folglich sei auch das „Projekt der Emanzipation der Arbeiter” keine Perspektive
mehr für die Lösung des Problems sozialer Ungleichheit (so z. B. Kronauer
2002:16).
Die
„soziale Frage” wird damit nur noch auf der Ebene sozialer Erscheinungen
verhandelt: Die ungleiche Verteilung von Lebensbedingungen und -chancen
zwischen den Lohnabhängigen und damit ihre Spaltung in (noch) Festangestellte,
Prekäre und gänzlich Ausgeschlossene gerät in den Fokus. Wenn man sich jedoch
nur auf diese Phänomene beschränkt, „ist es nicht möglich zu sagen, woher sie
kommen und nach welchen Gesetzen sie sich entwickeln” (Charlamenko 2003: 68).
Dazu wird es nötig, auf die Ebene der gesellschaftlichen Beziehungen zu
blicken, auf deren Grundlage sich diese vielfältigen – mit Lenin gesprochen –
„tatsächlichen sozialen Ausdrucksformen des Klassenantagonismus, der den
Produktionsverhältnissen innewohnt” (LW 1: 132), entwickeln. Im „Kapital” hatte
Marx bereits darauf hingewiesen, dass die ..Prekarität” der Existenzbedingungen
der Arbeiterklasse mit der „Produktivkraft der Arbeit” ansteigt (MEW 23: 647).
Eine Folge dieser Gesetzmäßigkeit ist bekanntlich das Anwachsen einer
„industriellen Reservearmee”. Marx unterscheidet die „flüssige, latente und
stockende” Existenzform dieser „relativen Übervölkerung” (670), wobei letztere
-als „Teil der aktiven Arbeiterarmee”, der nur unregelmäßig beschäftigt ist – exakt
die Lage der heute als „Prekariat” klassifizierten Lohnabhängigen beschreibt:
„Ihre Lebenslage”, schreibt er, „sinkt unter das durchschnittliche Normalniveau
der arbeitenden Klasse, und gerade dies macht sie zur breiten Grundlage eigner
Exploitationszweige des Kapitals. Maximum der Arbeitszeit und Minimum des
Salairs charakterisieren sie.” Ihr Umfang dehne sich, „wie mit Umfang und
Energie der Akkumulation die ,Überzähligmachung’ fortschreitet” (673). – Auch
das, was heute als ..abgehängtes Prekariat” oder „Unterschicht” Eingang in die
sozialpolitische Diskussion gefunden hat, findet sich bereits bei Marx als eben
der „tiefste Niederschlag der relativen Übervölkerung” (ebd.).
Foto: junge Welt |
Es
handelt sich also bei den Phänomenen der „sozialen Frage des 21. Jahrhunderts”
um solche, die eigentlich der kapitalistischen Produktionsweise strukturell
immanent sind and aus der „relativen Übervölkerung” erwachsen. Ihr Umfang
steigt mit der Produktivität der Arbeit und der wachsenden Zahl der
Lohnabhängigen im Zuge der weiteren Durchsetzung und Verallgemeinerung des
Lohnarbeitsverhältnisses. Dass damit nicht nur die Verunsicherung, sondern eben
auch die Armut in der Arbeiterklasse wächst -genau darum geht es im
„allgemeinen Gesetz der kapitalistischen Akkumulation” (673 f.), wonach eine
immer wachsende Masse von Produktionsmitteln, dank dem Fortschritt in der
Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit, mit einer progressiv abnehmenden
Ausgabe von Menschenkraft in Bewegung gesetzt werden kann”, was sich unter
kapitalistischen Bedingungen eben als „Prekarität”, „Abstieg” und „Ausgrenzung”
niederschlägt. – Dass sich dieses Gesetz nicht immer in „Reinform” entfaltet,
steht auf einem anderen Blatt, das in der kapitalistischen Expansionsphase der
Nachkriegszeit „geschrieben” wurde.
Während
in dieser besonderen und kurzen Prosperitätsphase die Zusammensetzung und die
Verwertungsanforderungen des Kapitals zu einer intensiven Mobilisierung der
Arbeitskraft geführt hatten, die die relative Übervölkerung stark eindämmte,
expandiert seit Mitte der 70er Jahre durch Überakkumulation und
Produktivitätssteigerung wieder eine industrielle Reservearmee – und damit auch
die „stockende Form” sowie der „tiefste Niederschlag der relativen
Übervölkerung”. Diese Erscheinungen sind dabei ebenfalls die „Resultate
politischer Reformvorstellungen und gesetzgeberischer Gestaltungsziele” (Vogel
2009:193), die „auf die Kraft und Energie der Zersplitterung” setzen (192). Sie
sind faktisch das Ergebnis einer sich konturierenden Überakkumulationskrise
(vgl. Hammerbauer 2000), in der das Kapital – seinen wachsenden Einfluss auf
den Staatsapparat nutzend – versucht, seinen Verwertungsschwierigkeiten u. a.
durch eine Steigerung der relativen (d. h.: Erhöhung der Produktivität) sowie
der absoluten Mehrwertproduktion (d. h.: Verlängerung der Arbeitszeit bzw.
Senkung der Lohnkosten) beizukommen. Diese Intensivierung der Ausbeutung der
Ware Arbeitskraft drückt sich sozialstrukturell in einer stärkeren
Differenzierung sowie Polarisierung der Lohnabhängigen aus.
Zersetzung oder Wandel der Arbeiterbewegung?
Neben
dieser akkumulations- und krisenbedingten sozialen Differenzierung gibt es noch
weitere Aspekte, die allesamt formationsspezifische Wandlungsprozesse in der
Struktur der Lohnarbeit und damit in der ungleichen Verteilung von
Lebensbedingungen und -Chancen der Lohnabhängigen bewirken. Auch sie gehen
zurück auf die Profitmaximierungsstrategien des Kapitals, die „einen
fortwährenden strukturierenden Einfluss auf die qualitativen und quantitativen
Angebots- und Nachfrageverhältnisse des Arbeitsmarktes sowie auf die jeweils
konkreten betrieblichen Nutzungsmodalitäten der Arbeitskräfte und deren
kooperative Organisationsformen” ausüben (Krams 1996: 26). Genannt seien hier
stellvertretend lediglich stoffliche Aspekte, wie die Ausdifferenzierung der
Qualifikationsanforderungen (z. B. im Zuge der wissenschaftlich-technischen
Revolution), die Veränderung der sektoralen Verteilung der Arbeitskräfte (z. B.
„Deindustrialisierung”, „Dienstleistungsgesellschaft”) oder der betrieblichen
Arbeitsorganisation (z. B. Umstrukturierung, Rationalisierung, Leiharbeit). Sie
führen dazu, dass – im Zuge des Zwangs zur permanenten Umwälzung und
Effektivierung der Produktions- und Absatzmethoden – sich die „tatsächlichen
sozialen Ausdrucksformen” auch der Arbeiterklasse verändern – und damit die
Verteilung der sozialen Ungleichheit. Im Manifest hatten Marx und Engels
bereits darauf hingewiesen, dass sich der Kapitalismus gerade durch die
„fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller
gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung” auszeichne.
„Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen
Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten,
ehe sie verknöchern können” (MEW 4: 465). – Folgt daraus aber, dass hingegen
der „moderne Kapitalismus […] die soziale Basis der Arbeiterbewegung zersetzt
und aufgelöst” hätte, wie es in den Thesen des Sekretariats des Parteivorstands
der DKP heißt (PV-Thesen: 28)1 Die „moderne Produktion” vereine die
Arbeiterklasse nicht mehr, sondern spalte sie, indem sie „ihre Milieus
aufgelöst [hat], die verbunden waren mit Wohnen in Arbeitervierteln,
gemeinsamen Freizeitmöglichkeiten, einer „Arbeiterkultur usw.” (25).
Diese
Sicht befindet sich durchaus im „Trend” des aktuellensozialwissenschaftlichen
„Diskurses”: So spricht der marxistische Politikprofessor Frank Deppe ebenfalls
von „tiefgreifenden Veränderungen in der Klassenstruktur”, die „die soziale
Basis der alten Arbeiterorganisationen unterminiert” hätten (Deppe 2010: 11).
„Die alte Vorstellung von der Klasseneinheit (die dazu noch stellvertretend
durch eine Partei repräsentiert wird) dürfte wohl endgültig der Geschichte
angehören” und ebenso „die Perspektive einer Rekonstruktion von Arbeitermacht’
(mit Blick auf das Industrieproletariat als dem Kern der Arbeiterklasse)” (13),
so Deppe auf einem Bildungsseminar der IG Metall. Auch der international
renommierte Gewerkschaftsforscher und „Postdemokratie”-Diagnostiker Colin
Crouch führt die Krise der Arbeiterbewegung (neben dem Scheitern des
Keynesianismus in den 70er Jahren) auf den „historischen Niedergang” der
industriellen Arbeiterklasse zurück und konstatiert stattdessen den Aufstieg
einer neuen geschichtsbe-stimmenden „globalen Finanzklasse” (Crouch 2010:355
f.- Übers.: T. L.). Und der marxistische Soziologe Lothar Peter wirft endlich
-angesichts „der Prozesse kapitalistischer Modernisierung, Pluralisierung und
Individualisierung” (Peter 2010: 142) – den Klassenbegriff komplett über Bord,
da die „Gesamtheit derer, die in der einen oder anderen Weise abhängig
beschäftigt sind, […] in eine Vielzahl von Gruppen” zerfalle (143 f.).
Hier
offenbart sich insgesamt ein großes Missverständnis, denn die soziale Spaltung
der Lohnabhängigen ist keine Besonderheit des 21. Jahrhunderts. Eine
historische Besonderheit war vielmehr die relativ homogene „proletarische
Lebensführung”, die zur Herausbildung jener kulturellen Milieus geführt hat,
die hier als Vergleichsmaßstab dienen: Auf einem Stand der Produktivkraftentwicklung,
der das heutige Niveau einer „Individualisierung” und „Pluralisierung der
Lebensstile” noch gar nicht vorstellbar machte, dienten diese proletarischen
Kontaktnetze und Kommunikationszusammenhänge vor allem der Kompensation
„nackter” Elendserfahrungen und erleichterten so die kollektive
Interessenartikulation und Organisierung (im Sinne einer zu ergreifenden
„Gelegenheit”, nicht etwa als ein Automatismus).2 Es handelt sich dabei jedoch
lediglich um ein „historisch-spezifisches Durchgangsstadium im Freisetzungsprozess
der Individuen aus traditionellen sozialen Bindungen und Prägungen” (Krauss
1996: 47), das sich in West-Europa etwa mit der Prosperitätsdynamik in der
Nachkriegszeit aufzulösen begann. Die neuerdings als notwendig erachtete
Distanzierung von einer „Klasseneinheit” (Deppe) bzw. von der ,„objektiven
Einheit’ der Arbeiterklasse” (PV-Thesen: 28) resultiert paradoxerweise gerade
aus einer unhistorischen Verabsolutierung genau dieser frühproletarischen
Erscheinungsform der Arbeiterklasse. Dahinter scheint ein sozial
homogenisierender Klassenbegriff zu stehen, der die sich geschichtlich
entfaltende Dialektik von abstrakter Verallgemeinerung und konkreter
Ausdifferenzierung der Lohnarbeit ausblendet. Am deutlichsten wird dies bei dem
(an Max Weber orientierten) Begriff der ..sozialen Klasse”, auf den sich
zumindest Lothar Peter ausdrücklich bezieht (Peter 2010: 134)? Die dortige
Fokussierung auf einen engen Zusammenhang zwischen den objektiven Lage- und
subjektiven Lebensführungs- sowie inhaltlich-konkreten Bewusstseinsmerkmalen
als Definitionskriterium „nimmt dem wissenschaftlichen Klassenbegriff durch
Überfrachtung seine analytische Schärfe, führt zu einer Konfusion der
Problemebenen und tendiert dahin, die Existenz von Klassen an historisch-spezifische
Formen soziokultureller Vergemeinschaftung und Lebensführung (z. B.
präfordistisches proletarisches Milieu) zu binden” (Krauss 1996:33).
Dialektik der Lohnarbeit
Was
solchen Ansätzen fehlt, ist zunächst eine Differenzierung unterschiedlicher
Analyse-Ebenen. Begriffe wie „soziale Basis” oder ..soziale Klasse” tragen
schon allein deswegen wenig zum Verständnis bei, weil sie unterschiedliche,
wenn auch in einem Wechselverhältnis stehende Realitätsdimensionen miteinander
vermengen – nämlich: die unmittelbar sozialen Beziehungen zwischen den Menschen
einerseits und die tieferen, allgemeinen gesellschaftlichen Beziehungen
andererseits, wie sie die Produktionsverhältnisse als die „Struktur der
Gesellschaft” darstellen. Jelena Charlamenko schildert in ihrem Aufsatz „Zur
Aktualität der Klassentheorie bei der Analyse sozialer Verhältnisse” sehr
einleuchtend, wie sich im Laufe der Menschheitsgeschichte die gesellschaftliche
Produktion als solche zunächst zu einer besonderen Sphäre aus den sozialen,
politischen etc. Verhältnissen herausbildete, sodass erst mit der Entfaltung
der kapitalistischen Industrialisierung die Gesellschaft beginnt „sich auf
eigener Grundlage zu entwickeln, nach eigenen Gesetzen. Entsprechend gelangen
auch die Klassenverhältnisse erstmals zur Reife und erlangen ihnen adäquate [d.
h. den Klassencharakter der Gesellschaft nicht verzerrende – Anm.: T. L.], im
eigentlichen Sinne soziale Ausdrucksformen” (Charlamenko 2003: 70).
Diese
maximale Transparenz der sozialen Verhältnisse bleibt jedoch ein Spezialfall
der Frühphase der Industrialisierung. Die weitere Entwicklung führt vor allem
dazu, dass mit der Herausbildung neuer sozialer Erscheinungsformen (z. B. der
„Arbeiteraristokratie”) die Transparenz immer weiter verzerrt wird. Heute
schließlich klaffen soziale Erscheinung und gesellschaftliches Sein so weit
auseinander, dass die Transparenz gar nicht mehr gegeben ist.
Mit der
wissenschaftlich-technischen Revolution wurde eine neue Stufe der
Industrialisierung bzw. der gesellschaftlichen Produktion erreicht, die den
Entwicklungswiderspruch zwischen Produktionsverhältnissen und Produktivkräften
weiter zugespitzt hat. Es hat sich somit der „Keim eines neuen, höheren
Organisationsniveaus” der gesellschaftlichen Beziehungen herausgebildet, der
(noch) „keine adäquate Erscheinung hervorbringen [kann], nur einen objektiven
Schein” (72). Damit hat sich aber nicht etwa die „Basis der Arbeiterbewegung”
zersetzt, sondern die soziale Ausdrucksform der Klasse hat sich gewandelt und
so sehr differenziert, dass mit den wachsenden sozialen Unterschieden die
Verhältnisse immer undurchschaubarer werden und den Lohnabhängigen somit „das
Klassenwesen ihrer Lage […] verborgen bleibt” (ebd.).
Was sich
hier entfaltet, ist freilich die Dialektik der Lohnarbeit selber. Die
Ausbreitung und Verallgemeinerung („Generalisierung”) des
Lohnarbeitsverhältnisses im Zuge der kapitalistischen Entwicklung geht
notwendig mit der Differenzierung ihrer Formen und damit der sozialen
Existenzweisen der Lohnabhängigen einher (vgl. KrölVWammerl 1992: 73 ff.).
Damit manifestiert sich in der Spaltung der Lohnabhängigen das
Auseinanderfallen von sozialer Erscheinung und gesellschaftlichem Sein der
Klasse. Die Pluralisierung ihrer sozialen Ausdrucksformen ist das Resultat
gerade der Vereinheitlichung ihrer gesellschaftlichen Basis, also der
Polarisierung der Klassenverhältnisse im Zuge der fortschreitenden Durchsetzung
des Lohnarbeitsverhältnisses.
Mit
dieser Dialektik geht zudem eine andere bedeutende Entwicklung einher: Wie am
Beginn dieser Arbeit dargestellt, steigt die Zahl der Lohnabhängigen notwendig
im Zuge der Produktivkraftentwicklung, was sich vor allem in der
„Überzähligmachung” (Marx), also der Vergrößerung der „industriellen
Reservearmee” äußert. Damit steigt nicht nur die Konkurrenz unter den
Lohnabhängigen, sondern infolgedessen auch gerade der Grad der „Prekarität” der
Existenzbedingungen der gesamten Klasse – jedoch nicht nur in der „stockenden
Form” der relativen Übervölkerung. Denn damit einher geht vor allem die
stärkere Entfaltung des Warencharakters der Arbeitskraft ingesamt, wie sie z.
B. in der Erosion des „Normalarbeitsverhältnisses” (NAV) zum Ausdruck kommt. So
bleibt auch die „unbefristete Vollzeitarbeit, die inzwischen oft umstandslos
als „Normalarbeitsverhältnis” gehandelt wird, weit hinter dem Sicherungsniveau
zurück, das in NAV-Kon-zepten der 1980er Jahre als selbstverständlich galt”
(Mayer-Ahuja 2006:136).
Wesentlich
ist dabei, dass das Moment der Ersetzbarkeit – als ein Merkmal des entfalteten
Warencharakters der Arbeitskraft (vgl. Jung 1972: 89, 95) – sich
verallgemeinert und damit auch Einzug in die höheren bzw. höher qualifizierten
Abteilungen der Lohnabhängigen erhalten hat (vgl. z. B. Vester u. a. 2007). So
beobachten z. B. Andreas Boes und Tobias Kämpf eine Standardisierung der
„Kopfarbeit”, die dazu führt, dass sie „nicht nur formell, sondern auch reell
zu einer Form kapitalistischer Lohnarbeit wird” (Boes/Kämpf 2007: 92). Damit
werde auch für Hochqualifizierte „die Angst vor Arbeitslosigkeit zu einem
maßgeblichen Faktor ihrer Arbeitsidentität” (95).
Wenn
hingegen bezüglich dieser Beschäftigtengruppen lediglich bemerkt wird, dass
„unternehmerisches Denken” ihre „Denk-und Handlungsmuster” bestimme und „statt
des Kampfes gegen die betriebliche Hierarchie” sie „den Kampf mit sich selbst”
führen würden (PV-Thesen: 26), dann ist das eine Verkürzung der wirklichen
Widerspruchskonstellation. Ausgeblendet wird, dass z. B. in der IT-Industrie
die Beschäftigten eine neue Qualität der Interessengegensätze wahrnehmen (und reflektieren),
die zu der Herausbildung neuer, durchaus auch „klassenkampf-orientierter”
Bewusstseinsformen führt (Boes/ Trinks 2006). – Lange Rede, kurzer Sinn: Die
zunehmende Verunsicherung der Lohnabhängigen in allen Lagen ist ein zentrales
(subjektives) Moment der „objektiven Einheit der Arbeiterklasse”. Diese
„Unsicherheit der Lebensstellung” ist es, die sie – in den Worten von Friedrich
Engels – „zu Proletariern macht” (MEW 2: 344). Sie resultiert aus der
zunehmenden Entfaltung des Warencharakters der Arbeit im Zuge der
gesellschaftlichen Verallgemeinerung des Lohnarbeitsverhältnisses, die heute –
nur scheinbar paradox – in der Sozialen Differenzierung der Klasse ihre
Ausdrucksform findet.
Auf der Suche nach dem „verlorenen“ Subjekt
Was also
ist nun mit der „alten Vorstellung von der Klasseneinheit” und der
„Rekonstruktion von Arbeitermacht”? – „Die Formierung eines einheitlich
handelnden praktisch-kritischen Kollektivsubjekts (das realhistorisch immer nur
eine Teilmenge der „Klasse an sich” gewesen ist und auch zukünftig sein dürfte)
wäre […] als mögliches […] Resultat der gesellschaftlichen
Widerspruchsentwicklung zu bestimmen” (Krauss 1996:32). Eine solche Bestimmung
eines Subjekts der Veränderung aus den konkreten gegenwärtigen Widersprüchen
heraus findet sich in den Diagnosen der Zersetzung der Arbeiterbewegung meist
nicht. Man weiß zwar, dass auf Grund „ihrer Stellung in der gesellschaftlichen
Produktion und ihrer gewerkschaftlichen Organisationskraft” die
Kernbelegschaften der Konzernbetriebe „immer noch eine Schlüsselrolle bei den
sozialen Auseinandersetzungen” einnehmen. Aber die würden ja leider nur ihre
eigenen Interessen verteidigen und dazu tendieren, zu „Trägern einer
konservativen Ideologie” zu werden (PV-Thesen:28).
In seinem
Diskussionsbeitrag bringt Hans-Peter Brenner sehr gut auf den Punkt, was hier
für ein Bild von der Arbeiterklasse gezeichnet wird: Nicht nur bei Frank Deppe4
herrscht eine Sichtweise auf die Lohnabhängigen als „vornehmlich einer unter
dem Kapitalismus leidenden Klasse [vor]. Sie ist […] nicht (oder nicht mehr)
fähig zur Besinnung auf die eigene Kraft und historische Führungsrolle”
(Brenner 2010: 6). Frank Deppe sieht folglich die Perspektive einer kollektiven
„Interessenvertretung der Subalternen” eher in „einem ,Block’ verschiedener
sozialer und politischer Kräfte” (Deppe 2010: 13). Auch Colin Crouch schlägt
vor, den Blick lieber auf die sozialen Bewegungen zu richten: Diese seien zwar,
gibt er zu, weit davon entfernt, die Machtverhältnisse zu verändern. ..But they
exist”, lautet sein Argument (Crouch2010:356).Für manche sind sie sogar ..ein
wichtiger Faktor für die Neuformierung einer Arbeiterbewegung und die
Herausbildung eines gesellschaftlichen Blockes der Veränderung” und
insbesondere die „globalisierungskritische Bewegung” sei „ein wichtiger Akteur
im Widerstand gegen die Abwälzung der Krisenlasten” (PV-Thesen: 31).
Es findet
sich jedoch keine Begründung für diese Einschätzung (z. B. in der Form einer
Analyse ihrer Machtpotenziale), die wesentlich über das „Argument” von Crouch
hinaus ginge. Es dürfte auch schwer werden, zu argumentieren, warum
ausgerechnet eine „Bewegung”, die selber Ausdruck der Krise der
Arbeiterbewegung ist, geeignet sein soll, diese wiederzubeleben.5 Es sind ja
gerade die „Schwankungen in ihrer Dynamik und strategischen Orientierungssuche”
(PV-Thesen: 31), die seit ihrer Entstehung typisch für die Entwicklung der
„Antiglobalisierungsbewegung” sind – und die vor allem zeigen, „wo das
prinzipielle Problem und die Hauptaufgabe heute liegt: in der Entwicklung einer
klassenorientierten Arbeiterbewegung” (Seretakis 2002 – Übers.: T. L.).
Um diese
wichtige Aufgabe anzugehen, führt eben kein Weg daran vorbei, ihr politisches
Subjekt (als eine Teilmenge der „Klasse gegenüber dem Kapital”) zu bestimmen.
Alternative Konstrukte, z. B. einer „Mosaik-Linken” (vgl. Urban 2009) wie sie
von Gewerkschaftern (wohl aus der Not heraus) propagiert werden, bleiben schon
allein deshalb ohne jegliche Perspektive, weil sie die bestehende
Unübersichtlichkeit und Zersplitterung der sozialen Ausdrucksform des
Klassenantagonismus lediglich wiederholen, statt sie zu durchbrechen.
Foto: ND |
Dagegen
hat Werner Seppmann einmal vorgeschlagen, sich politisch und klassentheoretisch
auf den „strukturell-handlungsrelevanten Kern” der Lohnabhängigen zu
fokussieren. In seinem neuen Buch erläutert er dies: „Prinzipiell kann die
kapitalistische Widerspruchsdynamik nur durchbrochen werden, wenn jene Gruppen
sich zu Wehr setzen, deren Lebenslagen nicht nur strukturelle Gemeinsamkeiten
besitzen (die kollektiven Reaktionsformen förderlich sind), sondern deren
Handlungsmöglichkeiten auch einen potenziellen Wirkungsgrad besitzen: Sie
müssen in der Lage sein, in das gesellschaftliche Funktionsgefüge einzugreifen,
d. h. den ökonomischen Produktions- und gesellschaftlichen Reproduktionsprozess
nachhaltig zu beeinflussen” (Seppmann 2010: 99).
Ein
Beispiel für eine Konkretisierung dieses Gedankens lässt sich den Thesen –
diesmal allerdings der griechischen Kommunisten entnehmen: Sie beobachten, dass
im Zuge von Privatisierungs- sowie Deregulierungsprozessen in den strategisch
relevanten Sektoren (Energie, Telekommunikation etc.) immer mehr
(festangestellte) Lohnabhängige in privaten und ehemals
staatlich-kontrollierten Produktionsbetrieben von „flexiblen
Arbeitsbeziehungen” (also von Unsicherheitserfahrungen) betroffen sind. Ihre
Einschätzung lautet, dass „objektiv diese Abteilungen der Arbeiterklasse […]
einfacher aufzurütteln” seien, was insbesondere für die jüngere Generation6
gelte (KKE-Thesen: #6 -Übers.: T. L.). Auch die hier konzentrierte ökonomische
Kampfkraft bleibt ein zentrales Argument für die Relevanz der
Industriearbeiterschaft. Allerdings wäre zu überlegen, ob die Abteilungen der
Hochqualifizierten (deren „Angestellten” – und „Dienstleistungs”-Tätigkeiten
oft einen produktionsbezogenen Charakter haben) nicht in diesen ökonomisch
relevanten „Kern der Arbeiterbewegung” (MEW 2: 253) einzubeziehen wären: Mit
der Entfaltung des Warencharakters auch der Arbeit dieser Repräsentanten der
neuen Industrialisierungsstufe scheint eine neue Kampfbereitschaft einher
zugehen (vgl. z. B. Krug 2010).
Schließlich
weist uns Berthold Vogel darauf hin, dass, neben der industriellen
Facharbeiterschaft, auch die Fachangestellten im öffentlichen Dienst
tiefgreifende „Formverluste der Arbeitsgesellschaft und des Wohlfahrtsstaates”
repräsentieren – und damit die „soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts”.
Sie gehören beide zu jenen Teilen der Klasse, „die schon etwas erreicht haben
und fürchten, Erreichtes wieder zu verlieren, oder die noch etwas erreichen
wollen und sich mit dem Vorhandenen nicht zufrieden geben” (Vogel 2009:229).
Jedoch verändert insbesondere „die Prekarität der öffentlichen Dienste […]
langfristig den normativen Haushalt der Gesellschaft und verschiebt die
Maßstäbe des guten Lebens” (268). Das heißt, dass die neuen Kämpfe z. B. der
Erzieherinnen und Erzieher nicht einfach nur „die Interessen der wachsenden
Schicht der Prekären” repräsentieren (PV-Thesen: 28), sondern in ihren Kämpfen
vermengen sich diese speziellen wirtschaftlichen Interessen mit den politischen
Interessen der gesamten Klasse. Positioniert an der Schnittstelle zum
„öffentlichen Interesse” verfügen diese Beschäftigtengruppen damit über eine
besondere politische Kampfkraft, die – während die ökonomische Kampfkraft des
klassischen Kerns der Arbeiterklasse den Produktionsprozess beeinflussen kann –
geeignet ist, in den gesellschaftlichen Reproduktionsprozess einzugreifen.
– Sie
alle, die klassische und hochqualifizierte Industriearbeiterschaft sowie die
Beschäftigten im öffentlichen Dienst, könnten somit gemeinsam den „strukturell
handlungsrelevanten Kern” der Lohnabhängigen bilden, der sich aus der
gegenwärtigen Widerspruchsdynamik herauskristallisiert und in der Lage wäre,
diese zu durchbrechen -sofern er seine speziellen Machtressourcen geschickt
einzusetzen vermag.
___________
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Wohlstandskonflikte. Soziale Fragen, die aus der Mitte kommen. Hamburg
1 Damit
sind öffentliche Dienstleistungen und soziale Sicherungssysteme gemeint, die
ein lohnarbeitsspezifisches Äquivalent zum Privateigentum darstellen würden.
2
Überhaupt ist es eine falsche Annahme, dass bestimmte „Strukturen und
Arbeitsprozesse […] kollegiales und solidarisches Verhalten quasi spontan”
fördern könnten (PV-Thesen: 25). Wie schon Untersuchungen in den frühen 70er
Jahren nachgewiesen haben, speist sich Solidarität nicht aus „endogenen
Prozessen aufgrund technologischer und sozial-struktureller Entwicklungen”,
sondern nur aus praktischen Erfahrungen, „die vor allem in verschärften
ökonomischen Kämpfen gemacht werden” (Herding/ Kirchlechner 1980:308).
3 Demnach
könne erst, wenn „grundlegende Prozesse gegenwärtiger kapitalistischer Vergesellschaftung”
zu einheitlichen Reproduktionsbedingungen, kollektiven Lebensweisen und einer
kollektiven Identität führen, eine „Neubildung von Klassen” festgestellt werden
(Peter 2010: 146). – Sehr bezeichnend ist hier außerdem, dass Klassenformierung
ausschließlich als Resultat objektiver struktureller Prozesse gedacht wird,
nicht aber als ein Ergebnis von politischen Kämpfen der Lohnabhängigen selber.
4 Brenner
bezieht sich jedoch ausschließlich auf Deppe (2010).
5 Und
seien wir doch mal ehrlich: „Wer würde nach nur 10 Jahren der Existenz noch
etwas Bewegendes von attac erwarten?” (Seppmann 2010:103)?
6 Manche
wissen über Jugendliche offenbar nur, dass sie in Universitäten und Schulen
geprägt werden (vgl. PV-Thesen: 27 f.
_________
Bei den
in diesem Artikel mehrfach angeführten “Thesen des PV” handelt es sich um ein
Konzept, das von dem ehemaligen stellvertretenden DKP-Vorsitzenden Mayer und
anderen dem 18. Parteitag der DKP
vorgelegt und von diesem abgelehnt wurde. Es ist faktisch die politische Grundlage
des Vereins “Marxistische Linke”, der heute von Mayer und anderen betrieben
wird und hinsichtlich der DKP als fraktionelle Plattform wirkt.
__________________
Von
Thomas Lühr
Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 4/2010
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