Bei einer
der größten Demonstrationen der vergangenen Jahre in Deutschland haben in
Berlin am Sonnabend nach Veranstalterangaben 250.000 Menschen gegen die
geplanten »Freihandelsabkommen« der EU mit den USA und Kanada, TTIP und CETA,
protestiert. Die Polizei korrigierte ihre ursprüngliche Angabe von 60.000 im
Laufe des Tages auf 150.000 Teilnehmer.
Die Demonstranten hatten sich am Vormittag am Hauptbahnhof auf dem
Washingtonplatz versammelt. Der platzte schon vor dem offiziellen
Demonstrationsbeginn aus allen Nähten, der Bahnhof musste zwischenzeitlich
wegen Überfüllung geschlossen werden, S-Bahnen fuhren durch. Deshalb begann der
Abmarsch deutlich vor dem eigentlich geplanten Beginn. Es waren so viele
Menschen unterwegs, dass Zehntausende noch nicht losgelaufen waren, als die
Spitze der Demonstration bereits das Ziel, die Siegessäule, erreicht hatte. Nie
zuvor seien in Europa mehr Menschen zu diesem Thema auf die Straße gegangen,
sagten die Veranstalter.
Getragen
wurde der Protest von Parteien, Umwelt- und Verbraucherschützern,
Sozialverbänden und Gewerkschaften. Auch die DKP und die SDAJ beteiligten sich
mit einem eigenen Block.
TTIP-Demo schreckt auf
»Hysterisch«, »antiamerikanisch«,
»fundamentalistisch«: Politiker, Unternehmer und Medien beschimpfen Gegner von
»Freihandelsabkommen«
Die
Befürworter des transatlantischen Freihandelsabkommens TTIP sehen ihre Felle
davonschwimmen. Während sich Vizekanzler und Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel
(SPD) wegduckt, profiliert sich die untote FDP als letzte Hoffnung des
»Freihandels«. Am Vortag der Großdemonstration gegen TTIP in Berlin schrieb
FDP-Chef Christian Lindner in der Freitagausgabe der Saarbrücker Zeitung: »Die
TTIP-Gegner sorgen sich um Demokratie, Rechtsstaat, Umwelt- und
Verbraucherschutz. Alles unbegründet.« Der Chefkolumnist des Berliner
Boulevardblatts B.Z., Gunnar Schupelius, bezeichnet den Protestaufruf als
»fundamentalistisch, auch nationalistisch und etwas hysterisch«. Ins gleiche
Horn bläst das unternehmernahe »Institut der deutschen Wirtschaft«. Die
»Skeptiker« würden »ungerechtfertigte Panikmache« verbreiten. Das Institut
zieht einen Vergleich zur Einführung des EU-Binnenmarkts in den 90er Jahren:
»Mittlerweile haben sich die gesamtwirtschaftlichen Effekte als eindeutig
positiv erwiesen.«
»Eindeutig
positiv«? Für das deutsche Großkapital offensichtlich. Für mehr als 48 Prozent
der Jugendlichen in Spanien und Griechenland ganz bestimmt nicht. Sie sind
erwerbslos – auch eine Folge des Binnenmarktes. Denn durch ihn konnten die
deutschen Konzerne die anderen EU-Länder mit Waren überschwemmen, die Staaten
in die Verschuldungsfalle treiben und schließlich über Berlin und Brüssel zu
milliardenschweren »Rettungsprogrammen« zwingen – Von denen profitierten wieder
deutsche Banken und Konzerne.
Am
Donnerstag warf die Verbraucherschutzorganisation Foodwatch der CDU vor,
systematisch unrichtige Informationen über TTIP zu verbreiten. So würden ihre
Vertreter regelmäßig insbesondere die wirtschaftlichen Potentiale des Abkommens
zu positiv darstellen: »Parteibroschüren enthalten falsche Angaben, Abgeordnete
überzeichnen die Chancen von TTIP gegenüber den Bürgern und im Bundestag.«
Außerdem habe mit Michael Grosse-Brömer ein hochrangiger CDU-Politiker aus
einer Studie zitiert, »die es gar nicht gibt«.
Die
Aufregung der TTIP-Lobbyisten ist verständlich. Am Mittwoch übergaben Gegner
des Abkommens der EU-Kommission in Brüssel 3,3 Millionen Unterschriften für den
Aufruf »Stop TTIP«. Damit hat dieser zwar mehr Unterzeichner als jede andere
»Europäische Bürgerinitiative« bisher, doch die Behörde will sie nicht
offiziell als solche anerkennen. Täte sie es, müsste sie das Thema beraten –
mehr nicht. Weiter gehen die politischen Beteiligungsrechte der Bürger in der
EU nicht.
Die Hoffnungen
der TTIP-Gegner richten sich deshalb auf den Ratifizierungsprozess. In fast
allen EU-Staaten müssten die Parlamente dem Vertrag zustimmen, und in der
Hälfte sind Referenden möglich. Deshalb gaben am Freitag mehrere
niederländische Organisationen den Startschuss zur Unterschriftensammlung für
ein Plebiszit gegen TTIP und CETA, das Freihandelsabkommen mit Kanada. Ein
solches »Veto-Referendum« gegen bereits beschlossene Gesetze oder
internationale Verträge ist möglich, wenn zuvor mindestens 300.000 Menschen
innerhalb von sechs Wochen eine entsprechende Initiative unterstützt haben. Zu
einer Abstimmung käme es, sobald die Regierung in Den Haag einem der Verträge
zustimmt. Das Ergebnis eines Referendums wäre zwar rechtlich nicht bindend. Es
würde der niederländischen Politik jedoch schwerfallen, TTIP und CETA gegen ein
Votum des Volkes durchzusetzen.
Von André Scheer
Aus „junge Welt“ vom 10.10.2015
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