»Genosse Lenin säubert die Erde von Unrat.« Plakat 1920 |
Aktuell wie eh' und je': Im Frühherbst 1914
analysierte Lenin die Ursachen für den Krieg in Europa und skizzierte
Strategien der russischen Sozialdemokratie (Teil 2 und Schluss)
Wenn
die Vertreter der revolutionären Sozialdemokratie in Gestalt der Minderheit der
deutschen Sozialdemokraten und der besten Sozialdemokraten in den neutralen
Ländern ein brennendes Gefühl der Scham über diesen Zusammenbruch der II.
Internationale empfinden; wenn in England wie in Frankreich Sozialisten ihre
Stimme gegen den Chauvinismus der Mehrheit der sozialdemokratischen Parteien
erheben; wenn die Opportunisten beispielsweise in den Spalten der längst auf
nationalliberalem Boden stehenden deutschen Sozialistischen Monatshefte mit
vollem Recht ihren Sieg über den europäischen Sozialismus feiern – dann
erweisen die zwischen dem Opportunismus und der revolutionären Sozialdemokratie
hin und her schwankenden Elemente (wie das »Zentrum« in der
Sozialdemokratischen Partei Deutschlands), die den Zusammenbruch der II.
Internationale zu verschweigen oder mit diplomatischen Phrasen zu bemänteln
suchen, dem Proletariat den allerschlimmsten Dienst.
Die
Opportunisten haben sich hinweggesetzt über die Beschlüsse des Stuttgarter1,
des Kopenhagener2 und des Basler3 Kongresses, die die Sozialisten aller Länder
verpflichteten, den Chauvinismus unter allen Umständen zu bekämpfen, die die
Sozialisten verpflichteten, jeden von der Bourgeoisie und den Regierungen
begonnenen Krieg mit verstärkter Propagierung des Bürgerkriegs und der sozialen
Revolution zu beantworten. Der Zusammenbruch der II. Internationale ist der
Zusammenbruch des Opportunismus, der auf dem Boden der besonderen Verhältnisse
in der abgelaufenen (der sogenannten friedlichen) geschichtlichen Epoche
hochgezüchtet worden und in den letzten Jahren zur faktischen Herrschaft in der
Internationale gelangt war. Die Opportunisten haben diesen Zusammenbruch seit
langem vorbereitet, indem sie die sozialistische Revolution verneinten und sie
durch den bürgerlichen Reformismus ersetzten; indem sie den Klassenkampf und
seinen zu bestimmten Zeitpunkten notwendigen Umschlag in den Bürgerkrieg
leugneten und die Zusammenarbeit der Klassen predigten; indem sie unter der
Flagge des Patriotismus und der Vaterlandsverteidigung den bürgerlichen
Chauvinismus predigten und die bereits im Kommunistischen Manifest dargelegte
Grundwahrheit des Sozialismus, daß die Arbeiter kein Vaterland haben,
ignorierten oder bestritten; indem sie sich im Kampf gegen den Militarismus auf
einen spießbürgerlich-sentimentalen Standpunkt beschränkten, anstatt
anzuerkennen, daß die Proletarier aller Länder gegen die Bourgeoisie aller
Länder einen revolutionären Krieg führen müssen; indem sie aus der notwendigen
Ausnutzung des bürgerlichen Parlamentarismus und der bürgerlichen Legalität
einen Fetischkult dieser Legalität machten und die unumgängliche Pflicht, in
Krisenzeiten illegale Formen der Organisation und Agitation zu schaffen, der Vergessenheit
preisgaben. Die natürliche »Ergänzung« des Opportunismus, die – ebenso
bürgerliche und dem proletarischen, d. h. marxistischen Standpunkt feindliche –
anarcho-syndikalistische Richtung, tat sich während der jetzigen Krise durch
ein nicht minder schmähliches, selbstzufriedenes Nachplappern der Losungen des
Chauvinismus hervor.
Man
kann gegenwärtig die Aufgaben des Sozialismus nicht erfüllen und den wahren
internationalen Zusammenschluß der Arbeiter nicht verwirklichen, ohne mit dem
Opportunismus entschieden zu brechen und die Massen über die Unvermeidlichkeit
seines Fiaskos aufzuklären.
Die
Aufgabe der Sozialdemokratie eines jeden Landes muß in erster Linie der Kampf
gegen den Chauvinismus des betreffenden Landes sein. In Rußland hat dieser Chauvinismus
restlos den bürgerlichen Liberalismus (die »Kadetten«) und zum Teil die
Volkstümler bis zu den Sozialrevolutionären und »rechten« Sozialdemokraten
einschließlich erfaßt. (Insbesondere muß das chauvinistische Auftreten von
Leuten wie J. Smirnow, P. Maslow und G. Plechanow angeprangert werden – ein
Auftreten, auf das sich die »patriotische« Bourgeoispresse alsbald stürzte, um
es weidlich auszubeuten.)
Die Waffe kehren
Bei der
jetzigen Lage kann vom Standpunkt des internationalen Proletariats nicht
bestimmt werden, die Niederlage welcher der beiden Gruppen von kriegführenden
Nationen das kleinere Übel für den Sozialismus wäre. Aber für uns russische
Sozialdemokraten kann es keinem Zweifel unterliegen, daß vom Standpunkt der
Arbeiterklasse und der werktätigen Massen aller Völker Rußlands die Niederlage
der Zarenmonarchie, der reaktionärsten und barbarischsten Regierung, die
weitaus die meisten Nationen und größten Bevölkerungsmassen Europas und Asiens
unterjocht hat, das kleinere Übel wäre. Die nächste politische Losung der europäischen
Sozialdemokratie muß die Gründung der republikanischen Vereinigten Staaten von
Europa sein, wobei die Sozialdemokraten im Unterschied zur Bourgeoisie, die
alles mögliche zu »versprechen« bereit ist, nur um das Proletariat in den
allgemeinen Strom des Chauvinismus hineinzureißen, die Arbeiter darüber
aufklären werden, daß diese Losung durch und durch verlogen und sinnlos ist,
wenn die deutsche, die österreichische und die russische Monarchie nicht auf
revolutionärem Wege beseitigt werden.
In Rußland
haben angesichts der großen Rückständigkeit dieses Landes, das seine
bürgerliche Revolution noch nicht vollendet hat, die Aufgaben der
Sozialdemokratie nach wie vor die drei Grundbedingungen einer konsequenten
demokratischen Umwälzung zu sein: demokratische Republik (bei voller
Gleichberechtigung und Selbstbestimmung aller Nationen), Konfiskation der
Gutsbesitzerländereien und Achtstundentag.
In
allen fortgeschrittenen Ländern dagegen stellt der Krieg die Losung der
sozialistischen Revolution auf die Tagesordnung; diese Losung wird um so
dringlicher, je schwerer die Lasten sind, die der Krieg dem Proletariat
aufbürdet und je aktiver dessen Rolle bei der Neuschaffung Europas, nach den
Schrecken der modernen »patriotischen« Barbarei und angesichts der gigantischen
technischen Errungenschaften des Großkapitalismus, werden muß. Der Umstand, daß
die Bourgeoisie die Gesetze der Kriegszeit dazu benutzt, das Proletariat völlig
mundtot zu machen, stellt das Proletariat vor die unumgängliche Aufgabe,
illegale Formen der Agitation und Organisation zu schaffen. Mögen die
Opportunisten um den Preis des Verrats an ihren Überzeugungen die legalen
Organisationen
»hüten«,
die revolutionären Sozialdemokraten werden die organisatorischen Erfahrungen
und Verbindungen der Arbeiterklasse dazu benutzen, der Krisenepoche
entsprechende illegale Formen des Kampfes für den Sozialismus zu schaffen und
die Arbeiter nicht mit der chauvinistischen Bourgeoisie ihres Landes, sondern
mit den Arbeitern aller Länder zusammenzuschließen. Die proletarische
Internationale ist nicht untergegangen und wird nicht untergehen. Die
Arbeitermassen werden trotz aller Hindernisse eine neue Internationale
schaffen. Der heutige Triumph des Opportunismus wird nicht von langer Dauer
sein. Je mehr Opfer der Krieg fordern wird, desto klarer werden die
Arbeitermassen den Verrat sehen, den die Opportunisten an der Arbeitersache
begehen, desto besser werden sie die Notwendigkeit erkennen, daß man die Waffe
gegen die Regierungen und die Bourgeoisie eines jeden Landes kehren muß.
Die
Umwandlung des gegenwärtigen Krieges in den Bürgerkrieg ist die einzig richtige
proletarische Losung. Das zeigt die Erfahrung der Kommune, das ist im Basler
Manifest (1912) vorgesehen, und das ergibt sich aus den ganzen Bedingungen des
imperialistischen Krieges zwischen hochentwickelten bürgerlichen Ländern. Wie
groß die Schwierigkeiten dieser Umwandlung zur gegebenen Zeit auch sein mögen –
die Sozialisten werden niemals ablehnen, die Vorarbeiten in der bezeichneten
Richtung systematisch, unbeugsam und energisch auszuführen, da der Krieg zur
Tatsache geworden ist.
Nur so
wird das Proletariat imstande sein, sich aus seiner Abhängigkeit von der
chauvinistischen Bourgeoisie frei zu machen und in der einen oder anderen Form,
mehr oder minder rasch, entschlossene Schritte auf dem Weg zur wirklichen
Freiheit der Völker und auf dem Wege zum Sozialismus zu tun.
Es lebe
der internationale Bruderbund der Arbeiter gegen den Chauvinismus und
Patriotismus der Bourgeoisie aller Länder!
Es lebe
die vom Opportunismus befreite proletarische Internationale!
Anmerkungen:
1 Der Stuttgarter Kongreß der II.
Internationale tagte vom 18. bis 24. August 1907.
2 Der Kopenhagener Kongreß der II.
Internationale fand vom 28. August bis 3. September statt.
3 Der Basler Kongreß der II. Internationale
tagte am 24. und 25. November 1912.
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