Samstag, 27. September 2014

100 Jahre Erster Weltkrieg: W. I. Lenin "Sieg des Opportunismus"

»Genosse Lenin säubert die Erde von Unrat.« Plakat 1920
Aktuell wie eh' und je': Im Frühherbst 1914 analysierte Lenin die Ursachen für den Krieg in Europa und skizzierte Strategien der russischen Sozialdemokratie (Teil 2 und Schluss)

Wenn die Vertreter der revolutionären Sozialdemokratie in Gestalt der Minderheit der deutschen Sozialdemokraten und der besten Sozialdemokraten in den neutralen Ländern ein brennendes Gefühl der Scham über diesen Zusammenbruch der II. Internationale empfinden; wenn in England wie in Frankreich Sozialisten ihre Stimme gegen den Chauvinismus der Mehrheit der sozialdemokratischen Parteien erheben; wenn die Opportunisten beispielsweise in den Spalten der längst auf nationalliberalem Boden stehenden deutschen Sozialistischen Monatshefte mit vollem Recht ihren Sieg über den europäischen Sozialismus feiern – dann erweisen die zwischen dem Opportunismus und der revolutionären Sozialdemokratie hin und her schwankenden Elemente (wie das »Zentrum« in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands), die den Zusammenbruch der II. Internationale zu verschweigen oder mit diplomatischen Phrasen zu bemänteln suchen, dem Proletariat den allerschlimmsten Dienst.

Man muß diesen Zusammenbruch im Gegenteil offen zugeben und seine Ursachen begreifen, damit man einen neuen, festeren sozialistischen Zusammenschluß der Arbeiter aller Länder herbeiführen kann.

Die Opportunisten haben sich hinweggesetzt über die Beschlüsse des Stuttgarter1, des Kopenhagener2 und des Basler3 Kongresses, die die Sozialisten aller Länder verpflichteten, den Chauvinismus unter allen Umständen zu bekämpfen, die die Sozialisten verpflichteten, jeden von der Bourgeoisie und den Regierungen begonnenen Krieg mit verstärkter Propagierung des Bürgerkriegs und der sozialen Revolution zu beantworten. Der Zusammenbruch der II. Internationale ist der Zusammenbruch des Opportunismus, der auf dem Boden der besonderen Verhältnisse in der abgelaufenen (der sogenannten friedlichen) geschichtlichen Epoche hochgezüchtet worden und in den letzten Jahren zur faktischen Herrschaft in der Internationale gelangt war. Die Opportunisten haben diesen Zusammenbruch seit langem vorbereitet, indem sie die sozialistische Revolution verneinten und sie durch den bürgerlichen Reformismus ersetzten; indem sie den Klassenkampf und seinen zu bestimmten Zeitpunkten notwendigen Umschlag in den Bürgerkrieg leugneten und die Zusammenarbeit der Klassen predigten; indem sie unter der Flagge des Patriotismus und der Vaterlandsverteidigung den bürgerlichen Chauvinismus predigten und die bereits im Kommunistischen Manifest dargelegte Grundwahrheit des Sozialismus, daß die Arbeiter kein Vaterland haben, ignorierten oder bestritten; indem sie sich im Kampf gegen den Militarismus auf einen spießbürgerlich-sentimentalen Standpunkt beschränkten, anstatt anzuerkennen, daß die Proletarier aller Länder gegen die Bourgeoisie aller Länder einen revolutionären Krieg führen müssen; indem sie aus der notwendigen Ausnutzung des bürgerlichen Parlamentarismus und der bürgerlichen Legalität einen Fetischkult dieser Legalität machten und die unumgängliche Pflicht, in Krisenzeiten illegale Formen der Organisation und Agitation zu schaffen, der Vergessenheit preisgaben. Die natürliche »Ergänzung« des Opportunismus, die – ebenso bürgerliche und dem proletarischen, d. h. marxistischen Standpunkt feindliche – anarcho-syndikalistische Richtung, tat sich während der jetzigen Krise durch ein nicht minder schmähliches, selbstzufriedenes Nachplappern der Losungen des Chauvinismus hervor.

Man kann gegenwärtig die Aufgaben des Sozialismus nicht erfüllen und den wahren internationalen Zusammenschluß der Arbeiter nicht verwirklichen, ohne mit dem Opportunismus entschieden zu brechen und die Massen über die Unvermeidlichkeit seines Fiaskos aufzuklären.

Die Aufgabe der Sozialdemokratie eines jeden Landes muß in erster Linie der Kampf gegen den Chauvinismus des betreffenden Landes sein. In Rußland hat dieser Chauvinismus restlos den bürgerlichen Liberalismus (die »Kadetten«) und zum Teil die Volkstümler bis zu den Sozialrevolutionären und »rechten« Sozialdemokraten einschließlich erfaßt. (Insbesondere muß das chauvinistische Auftreten von Leuten wie J. Smirnow, P. Maslow und G. Plechanow angeprangert werden – ein Auftreten, auf das sich die »patriotische« Bourgeoispresse alsbald stürzte, um es weidlich auszubeuten.)

Die Waffe kehren

Bei der jetzigen Lage kann vom Standpunkt des internationalen Proletariats nicht bestimmt werden, die Niederlage welcher der beiden Gruppen von kriegführenden Nationen das kleinere Übel für den Sozialismus wäre. Aber für uns russische Sozialdemokraten kann es keinem Zweifel unterliegen, daß vom Standpunkt der Arbeiterklasse und der werktätigen Massen aller Völker Rußlands die Niederlage der Zarenmonarchie, der reaktionärsten und barbarischsten Regierung, die weitaus die meisten Nationen und größten Bevölkerungsmassen Europas und Asiens unterjocht hat, das kleinere Übel wäre. Die nächste politische Losung der europäischen Sozialdemokratie muß die Gründung der republikanischen Vereinigten Staaten von Europa sein, wobei die Sozialdemokraten im Unterschied zur Bourgeoisie, die alles mögliche zu »versprechen« bereit ist, nur um das Proletariat in den allgemeinen Strom des Chauvinismus hineinzureißen, die Arbeiter darüber aufklären werden, daß diese Losung durch und durch verlogen und sinnlos ist, wenn die deutsche, die österreichische und die russische Monarchie nicht auf revolutionärem Wege beseitigt werden.

In Rußland haben angesichts der großen Rückständigkeit dieses Landes, das seine bürgerliche Revolution noch nicht vollendet hat, die Aufgaben der Sozialdemokratie nach wie vor die drei Grundbedingungen einer konsequenten demokratischen Umwälzung zu sein: demokratische Republik (bei voller Gleichberechtigung und Selbstbestimmung aller Nationen), Konfiskation der Gutsbesitzerländereien und Achtstundentag.

In allen fortgeschrittenen Ländern dagegen stellt der Krieg die Losung der sozialistischen Revolution auf die Tagesordnung; diese Losung wird um so dringlicher, je schwerer die Lasten sind, die der Krieg dem Proletariat aufbürdet und je aktiver dessen Rolle bei der Neuschaffung Europas, nach den Schrecken der modernen »patriotischen« Barbarei und angesichts der gigantischen technischen Errungenschaften des Großkapitalismus, werden muß. Der Umstand, daß die Bourgeoisie die Gesetze der Kriegszeit dazu benutzt, das Proletariat völlig mundtot zu machen, stellt das Proletariat vor die unumgängliche Aufgabe, illegale Formen der Agitation und Organisation zu schaffen. Mögen die Opportunisten um den Preis des Verrats an ihren Überzeugungen die legalen Organisationen

»hüten«, die revolutionären Sozialdemokraten werden die organisatorischen Erfahrungen und Verbindungen der Arbeiterklasse dazu benutzen, der Krisenepoche entsprechende illegale Formen des Kampfes für den Sozialismus zu schaffen und die Arbeiter nicht mit der chauvinistischen Bourgeoisie ihres Landes, sondern mit den Arbeitern aller Länder zusammenzuschließen. Die proletarische Internationale ist nicht untergegangen und wird nicht untergehen. Die Arbeitermassen werden trotz aller Hindernisse eine neue Internationale schaffen. Der heutige Triumph des Opportunismus wird nicht von langer Dauer sein. Je mehr Opfer der Krieg fordern wird, desto klarer werden die Arbeitermassen den Verrat sehen, den die Opportunisten an der Arbeitersache begehen, desto besser werden sie die Notwendigkeit erkennen, daß man die Waffe gegen die Regierungen und die Bourgeoisie eines jeden Landes kehren muß.

Die Umwandlung des gegenwärtigen Krieges in den Bürgerkrieg ist die einzig richtige proletarische Losung. Das zeigt die Erfahrung der Kommune, das ist im Basler Manifest (1912) vorgesehen, und das ergibt sich aus den ganzen Bedingungen des imperialistischen Krieges zwischen hochentwickelten bürgerlichen Ländern. Wie groß die Schwierigkeiten dieser Umwandlung zur gegebenen Zeit auch sein mögen – die Sozialisten werden niemals ablehnen, die Vorarbeiten in der bezeichneten Richtung systematisch, unbeugsam und energisch auszuführen, da der Krieg zur Tatsache geworden ist.

Nur so wird das Proletariat imstande sein, sich aus seiner Abhängigkeit von der chauvinistischen Bourgeoisie frei zu machen und in der einen oder anderen Form, mehr oder minder rasch, entschlossene Schritte auf dem Weg zur wirklichen Freiheit der Völker und auf dem Wege zum Sozialismus zu tun.

Es lebe der internationale Bruderbund der Arbeiter gegen den Chauvinismus und Patriotismus der Bourgeoisie aller Länder!

Es lebe die vom Opportunismus befreite proletarische Internationale!

Anmerkungen:

1 Der Stuttgarter Kongreß der II. Internationale tagte vom 18. bis 24. August 1907.

2 Der Kopenhagener Kongreß der II. Internationale fand vom 28. August bis 3. September statt.

3 Der Basler Kongreß der II. Internationale tagte am 24. und 25. November 1912.


Wladimir Iljitsch Lenin, »Der Krieg und die russische Sozialdemokratie«, geschrieben vor dem 28. September (11. Oktober) 1914. Veröffentlicht als Papier des Zentralkomitees der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands am 1. November 1914 im Sozial-Demokrat Nr. 33, hier zitiert nach Lenin: Werke, Band 21. Berlin/DDR 1960, S. 17 ff.

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