John Heartfield, „Krieg und Leichen - die letzte Hoffnung der Reichen“ |
"Der
europäische Krieg, den die Regierungen und bürgerlichen Parteien aller Länder
jahrzehntelang vorbereitet haben, ist ausgebrochen.
Das Anwachsen der
Rüstungen, die äußerste Zuspitzung des Kampfes um die Märkte in der Epoche des
jüngsten, des imperialistischen Entwicklungsstadiums des Kapitalismus in den
fortgeschrittenen Länder, die dynastischen Interessen der rückständigsten, der
osteuropäischen Monarchien mußten unvermeidlich zu diesem Krieg führen und
haben zu ihm geführt.
Die
Sozialdemokratie hat vor allem die Pflicht, diese wahre Bedeutung des Krieges
aufzudecken und die von den herrschenden Klassen, den Gutsbesitzern und der
Bourgeoisie, zur Verteidigung des Krieges verbreiteten Lügen, Sophismen und
»patriotischen« Phrasen schonungslos zu entlarven.
An der
Spitze der einen Gruppe der kriegführenden Nationen steht die deutsche
Bourgeoisie. Sie betrügt die Arbeiterklasse und die werktätigen Massen, indem
sie behauptet, sie führe den Krieg, um die Heimat, die Freiheit und die Kultur
zu verteidigen, um die vom Zarismus unterdrückten Völker zu befreien und um den
reaktionären Zarismus zu vernichten. In Wirklichkeit war aber gerade diese Bourgeoisie,
die vor den preußischen Junkern mit Wilhelm II. an der Spitze katzbuckelt,
stets der treueste Bundesgenosse des Zarismus und ein Feind der revolutionären
Bewegung der Arbeiter und Bauern in Rußland. In Wirklichkeit wird diese
Bourgeoisie, wie immer der Krieg ausgehen möge, gemeinsam mit den Junkern alle
ihre Anstrengungen darauf richten, die Zarenmonarchie gegen die Revolution in
Rußland zu unterstützen.
In
Wirklichkeit unternahm die deutsche Bourgeoisie einen Raubfeldzug gegen
Serbien, weil sie sich dieses Land unterwerfen und die nationale Revolution der
Südslawen ersticken wollte, und gleichzeitig warf sie die Hauptmasse ihrer
Streitkräfte gegen die freieren Länder, Belgien und Frankreich, um den
reicheren Konkurrenten auszuplündern. Die deutsche Bourgeoisie, die das Märchen
auftischt, sie führe einen Verteidigungskrieg, hat in Wirklichkeit den von
ihrem Standpunkt aus günstigsten Zeitpunkt für den Krieg gewählt, um ihre
letzten Errungenschaften in der Kriegstechnik auszunutzen und den von Rußland
und Frankreich bereits vorgesehenen und beschlossenen neuen Rüstungen
zuvorzukommen.
An der
Spitze der anderen Gruppe der kriegführenden Nationen steht die englische und
französische Bourgeoisie, die die Arbeiterklasse und die werktätigen Massen
betrügt, indem sie behauptet, sie führe Krieg, um die Heimat, die Freiheit und
die Kultur gegen den deutschen Militarismus und Despotismus zu verteidigen. In
Wirklichkeit aber hat diese Bourgeoisie für ihre Milliarden schon seit langem
die Truppen des russischen Zarismus, der reaktionärsten und barbarischsten
Monarchie Europas, zum Überfall auf Deutschland gedungen und bereitgestellt.
In
Wirklichkeit ist das Ziel, für das die englische und französische Bourgeoisie
kämpft, die Eroberung der deutschen Kolonien und die Ruinierung der
konkurrierenden Nation, die sich durch raschere ökonomische Entwicklung
auszeichnet. Um dieses edlen Zieles willen helfen die »fortschrittlichen«,
»demokratischen« Nationen dem barbarischen Zarismus, Polen, die Ukraine usw.
noch stärker niederzuhalten, die Revolution in Rußland noch stärker abzuwürgen.
Die
beiden Gruppen der kriegführenden Länder stehen einander hinsichtlich
Plünderungen, Grausamkeiten und endlosen Kriegsgreueln durchaus nicht nach, um
jedoch das Proletariat hinters Licht zu führen und seine Aufmerksamkeit
abzulenken von dem einzig wirklichen Befreiungskrieg, nämlich vom Bürgerkrieg
gegen die Bourgeoisie sowohl des »eigenen« Landes als auch der »fremden«
Länder, um dieses hohen Zieles willen bemüht sich die Bourgeoisie eines jeden
Landes, mit verlogenen patriotischen Phrasen die Bedeutung »ihres« nationalen
Krieges zu preisen und zu versichern, daß sie den Gegner nicht deshalb besiegen
wolle, um ihn auszuplündern und Territorien zu erobern, sondern um alle anderen
Völker – nur ihr eigenes nicht – zu »befreien«.
Verratener Sozialismus
Je
eifriger (…) in allen Ländern Regierung und Bourgeoisie danach trachten, die
Arbeiter zu entzweien und sie gegeneinander zu hetzen, je brutaler um dieses
hehren Zieles willen das System des Belagerungszustands und der Militärzensur
angewandt wird (das sich jetzt, im Kriege, sogar mit viel größerer Schärfe
gegen den »inneren« als gegen den äußeren Feind richtet) – um so gebieterischer
ist es die Pflicht des klassenbewußten Proletariats, seine Klasseneinheit,
seinen Internationalismus, seine sozialistische Überzeugung gegen den zügellos
wütenden Chauvinismus der »patriotischen« Bourgoisclique in allen Ländern zu
verteidigen. Wollten die klassenbewußten Arbeiter auf diese Aufgabe verzichten,
so hieße das, daß sie auf alle ihre freiheitlichen und demokratischen
Bestrebungen verzichten würden, von den sozialistischen schon gar nicht zu
sprechen.
Mit dem
Gefühl tiefster Bitterkeit muß man feststellen, daß die sozialistischen
Parteien der wichtigsten europäischen Länder diese ihre Aufgabe nicht erfüllt
haben und daß die Haltung der Führer dieser Parteien, insbesondere der
deutschen Partei, an direkten Verrat an der Sache des Sozialismus grenzt. In
einer Zeit von höchster weltgeschichtlicher Bedeutung versuchen die meisten
Führer der jetzigen, der Zweiten (1889 bis 1914) Sozialistischen
Internationale, den Sozialismus durch den Nationalismus zu ersetzen. Ihrem
Verhalten ist es zuzuschreiben, daß die Arbeiterparteien dieser Länder sich dem
verbrecherischen Vorgehen der Regierungen nicht widersetzten, sondern die Arbeiterklasse
aufforderten, mit den imperialistischen Regierungen gemeinsame Sache zu machen.
Indem die Führer der Internationale für die Kriegskredite stimmten, die
chauvinistischen (»patriotischen«) Losungen der Bourgeoisie »ihrer« Länder
aufgriffen, den Krieg rechtfertigten und verteidigten, in die bürgerlichen
Kabinette der kriegführenden Länder eintraten usw. usf., haben sie Verrat am
Sozialismus geübt. Die einflußreichsten sozialistischen Führer und die
einflußreichsten sozialistischen Presseorgange im heutigen Europa vertreten den
chauvinistisch-bürgerlichen und liberalen, keineswegs aber den sozialistischen
Standpunkt. Die Verantwortung für diese Schändung des Sozialismus fällt in
erster Linie auf die deutschen Sozialdemokraten, die die stärkste und einflußreichste
Partei der II. Internationale waren. Aber auch die Haltung der französischen
Sozialisten, die in der Regierung derselben Bourgeoisie, die ihre Heimat
verraten und sich mit Bismarck zur Niederwerfung der Kommune verbündet hatte,
Ministerposten annehmen, läßt sich nicht rechtfertigen.
Unmittelbar
vor Ausbruch des Krieges konnte Poincaré, der Präsident der französischen
Republik, während seines Besuches bei Nikolaus II. mit eigenen Augen auf den
Straßen von Petersburg Barrikaden sehen, die von den russischen Arbeitern
errichtet worden waren. Das russische Proletariat scheute vor keinem Opfer
zurück, um die ganze Menschheit von dem Schandfleck der Zarenmonarchie zu
befreien. Wir müssen jedoch erklären: Wenn etwas den Untergang des Zarismus
unter bestimmten Bedingungen hinausschieben kann, wenn etwas dem Zarismus im
Kampf gegen die gesamte russische Demokratie helfen kann, so ist das gerade der
jetzige Krieg, der dem Zarismus für seine reaktionären Ziele den Geldsack der
englischen, französischen und russischen Bourgeoisie zur Verfügung gestellt
hat. Und wenn etwas den revolutionären Kampf der russischen Arbeiterklasse
gegen den Zarismus zu erschweren vermag, so ist es gerade das Verhalten der
Führer der deutschen und der österreichischen Sozialdemokratie, das uns die
chauvinistische Presse Rußlands unaufhörlich als Muster vor Augen hält.
Selbst
angenommen, es habe der deutschen Sozialdemokratie so sehr an Kraft gemangelt,
daß sie genötigt war, auf jederlei revolutionäre Aktion zu verzichten, so durfte
sie sich auch in diesem Fall nicht dem chauvinistischen Lager anschließen,
durfte sie nicht Schritte tun, aufgrund deren die italienischen Sozialisten mit
Recht erklärten, daß die deutschen Sozialdemokraten das Banner der
proletarischen Internationale entehren.
Unsere
Partei, die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands, hat in Verbindung mit
dem Krieg schon ungeheure Opfer gebracht und wird noch weitere bringen. Unsere
gesamte legale Arbeiterpresse ist vernichtet. Die Mehrzahl der Arbeiterverbände
ist aufgelöst, sehr viele unserer Genossen sind verhaftet und verbannt. Und
dennoch hielt es unsere Parlamentsvertretung (…) für ihre unbedingte
sozialistische Pflicht, die Politik der europäischen Regierungen als
imperialistisch anzuprangern. Und trotz verzehnfachter Unterdrückung durch die
zaristische Regierung geben die sozialdemokratischen Arbeiter in Rußland
bereits die ersten illegalen Aufrufe gegen den Krieg heraus und erfüllen so
ihre Pflicht gegenüber der Demokratie und der Internationale."
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