Samstag, 13. September 2014

100 Jahre Erster Weltkrieg: W. I. Lenin "Verlogener Patriotismus"

John Heartfield, „Krieg und Leichen - die letzte Hoffnung der Reichen“
Aktuell wie eh' und je': Im Frühherbst 1914 analysierte Lenin die Ursachen für den Krieg in Europa und skizzierte Strategien der russischen Sozialdemokratie (Teil 1)

"Der europäische Krieg, den die Regierungen und bürgerlichen Parteien aller Länder jahrzehntelang vorbereitet haben, ist ausgebrochen. 

Das Anwachsen der Rüstungen, die äußerste Zuspitzung des Kampfes um die Märkte in der Epoche des jüngsten, des imperialistischen Entwicklungsstadiums des Kapitalismus in den fortgeschrittenen Länder, die dynastischen Interessen der rückständigsten, der osteuropäischen Monarchien mußten unvermeidlich zu diesem Krieg führen und haben zu ihm geführt.

Territoriale Eroberungen und Unterjochung fremder Nationen, Ruinierung der konkurrierenden Nation, Plünderung ihrer Reichtümer, Ablenkung der Aufmerksamkeit der werktätigen Massen von den inneren politischen Krisen in Rußland, Deutschland, England und anderen Ländern, Entzweiung und nationalistische Verdummung der Arbeiter und Vernichtung ihrer Vorhut, um die revolutionäre Bewegung des Proletariats zu schwächen – das ist der einzige wirkliche Inhalt und Sinn, die wahre Bedeutung des gegenwärtigen Krieges.

Die Sozialdemokratie hat vor allem die Pflicht, diese wahre Bedeutung des Krieges aufzudecken und die von den herrschenden Klassen, den Gutsbesitzern und der Bourgeoisie, zur Verteidigung des Krieges verbreiteten Lügen, Sophismen und »patriotischen« Phrasen schonungslos zu entlarven.

An der Spitze der einen Gruppe der kriegführenden Nationen steht die deutsche Bourgeoisie. Sie betrügt die Arbeiterklasse und die werktätigen Massen, indem sie behauptet, sie führe den Krieg, um die Heimat, die Freiheit und die Kultur zu verteidigen, um die vom Zarismus unterdrückten Völker zu befreien und um den reaktionären Zarismus zu vernichten. In Wirklichkeit war aber gerade diese Bourgeoisie, die vor den preußischen Junkern mit Wilhelm II. an der Spitze katzbuckelt, stets der treueste Bundesgenosse des Zarismus und ein Feind der revolutionären Bewegung der Arbeiter und Bauern in Rußland. In Wirklichkeit wird diese Bourgeoisie, wie immer der Krieg ausgehen möge, gemeinsam mit den Junkern alle ihre Anstrengungen darauf richten, die Zarenmonarchie gegen die Revolution in Rußland zu unterstützen.

In Wirklichkeit unternahm die deutsche Bourgeoisie einen Raubfeldzug gegen Serbien, weil sie sich dieses Land unterwerfen und die nationale Revolution der Südslawen ersticken wollte, und gleichzeitig warf sie die Hauptmasse ihrer Streitkräfte gegen die freieren Länder, Belgien und Frankreich, um den reicheren Konkurrenten auszuplündern. Die deutsche Bourgeoisie, die das Märchen auftischt, sie führe einen Verteidigungskrieg, hat in Wirklichkeit den von ihrem Standpunkt aus günstigsten Zeitpunkt für den Krieg gewählt, um ihre letzten Errungenschaften in der Kriegstechnik auszunutzen und den von Rußland und Frankreich bereits vorgesehenen und beschlossenen neuen Rüstungen zuvorzukommen.

An der Spitze der anderen Gruppe der kriegführenden Nationen steht die englische und französische Bourgeoisie, die die Arbeiterklasse und die werktätigen Massen betrügt, indem sie behauptet, sie führe Krieg, um die Heimat, die Freiheit und die Kultur gegen den deutschen Militarismus und Despotismus zu verteidigen. In Wirklichkeit aber hat diese Bourgeoisie für ihre Milliarden schon seit langem die Truppen des russischen Zarismus, der reaktionärsten und barbarischsten Monarchie Europas, zum Überfall auf Deutschland gedungen und bereitgestellt.

In Wirklichkeit ist das Ziel, für das die englische und französische Bourgeoisie kämpft, die Eroberung der deutschen Kolonien und die Ruinierung der konkurrierenden Nation, die sich durch raschere ökonomische Entwicklung auszeichnet. Um dieses edlen Zieles willen helfen die »fortschrittlichen«, »demokratischen« Nationen dem barbarischen Zarismus, Polen, die Ukraine usw. noch stärker niederzuhalten, die Revolution in Rußland noch stärker abzuwürgen.

Die beiden Gruppen der kriegführenden Länder stehen einander hinsichtlich Plünderungen, Grausamkeiten und endlosen Kriegsgreueln durchaus nicht nach, um jedoch das Proletariat hinters Licht zu führen und seine Aufmerksamkeit abzulenken von dem einzig wirklichen Befreiungskrieg, nämlich vom Bürgerkrieg gegen die Bourgeoisie sowohl des »eigenen« Landes als auch der »fremden« Länder, um dieses hohen Zieles willen bemüht sich die Bourgeoisie eines jeden Landes, mit verlogenen patriotischen Phrasen die Bedeutung »ihres« nationalen Krieges zu preisen und zu versichern, daß sie den Gegner nicht deshalb besiegen wolle, um ihn auszuplündern und Territorien zu erobern, sondern um alle anderen Völker – nur ihr eigenes nicht – zu »befreien«.

Verratener Sozialismus

Je eifriger (…) in allen Ländern Regierung und Bourgeoisie danach trachten, die Arbeiter zu entzweien und sie gegeneinander zu hetzen, je brutaler um dieses hehren Zieles willen das System des Belagerungszustands und der Militärzensur angewandt wird (das sich jetzt, im Kriege, sogar mit viel größerer Schärfe gegen den »inneren« als gegen den äußeren Feind richtet) – um so gebieterischer ist es die Pflicht des klassenbewußten Proletariats, seine Klasseneinheit, seinen Internationalismus, seine sozialistische Überzeugung gegen den zügellos wütenden Chauvinismus der »patriotischen« Bourgoisclique in allen Ländern zu verteidigen. Wollten die klassenbewußten Arbeiter auf diese Aufgabe verzichten, so hieße das, daß sie auf alle ihre freiheitlichen und demokratischen Bestrebungen verzichten würden, von den sozialistischen schon gar nicht zu sprechen.

Mit dem Gefühl tiefster Bitterkeit muß man feststellen, daß die sozialistischen Parteien der wichtigsten europäischen Länder diese ihre Aufgabe nicht erfüllt haben und daß die Haltung der Führer dieser Parteien, insbesondere der deutschen Partei, an direkten Verrat an der Sache des Sozialismus grenzt. In einer Zeit von höchster weltgeschichtlicher Bedeutung versuchen die meisten Führer der jetzigen, der Zweiten (1889 bis 1914) Sozialistischen Internationale, den Sozialismus durch den Nationalismus zu ersetzen. Ihrem Verhalten ist es zuzuschreiben, daß die Arbeiterparteien dieser Länder sich dem verbrecherischen Vorgehen der Regierungen nicht widersetzten, sondern die Arbeiterklasse aufforderten, mit den imperialistischen Regierungen gemeinsame Sache zu machen. Indem die Führer der Internationale für die Kriegskredite stimmten, die chauvinistischen (»patriotischen«) Losungen der Bourgeoisie »ihrer« Länder aufgriffen, den Krieg rechtfertigten und verteidigten, in die bürgerlichen Kabinette der kriegführenden Länder eintraten usw. usf., haben sie Verrat am Sozialismus geübt. Die einflußreichsten sozialistischen Führer und die einflußreichsten sozialistischen Presseorgange im heutigen Europa vertreten den chauvinistisch-bürgerlichen und liberalen, keineswegs aber den sozialistischen Standpunkt. Die Verantwortung für diese Schändung des Sozialismus fällt in erster Linie auf die deutschen Sozialdemokraten, die die stärkste und einflußreichste Partei der II. Internationale waren. Aber auch die Haltung der französischen Sozialisten, die in der Regierung derselben Bourgeoisie, die ihre Heimat verraten und sich mit Bismarck zur Niederwerfung der Kommune verbündet hatte, Ministerposten annehmen, läßt sich nicht rechtfertigen.

Unmittelbar vor Ausbruch des Krieges konnte Poincaré, der Präsident der französischen Republik, während seines Besuches bei Nikolaus II. mit eigenen Augen auf den Straßen von Petersburg Barrikaden sehen, die von den russischen Arbeitern errichtet worden waren. Das russische Proletariat scheute vor keinem Opfer zurück, um die ganze Menschheit von dem Schandfleck der Zarenmonarchie zu befreien. Wir müssen jedoch erklären: Wenn etwas den Untergang des Zarismus unter bestimmten Bedingungen hinausschieben kann, wenn etwas dem Zarismus im Kampf gegen die gesamte russische Demokratie helfen kann, so ist das gerade der jetzige Krieg, der dem Zarismus für seine reaktionären Ziele den Geldsack der englischen, französischen und russischen Bourgeoisie zur Verfügung gestellt hat. Und wenn etwas den revolutionären Kampf der russischen Arbeiterklasse gegen den Zarismus zu erschweren vermag, so ist es gerade das Verhalten der Führer der deutschen und der österreichischen Sozialdemokratie, das uns die chauvinistische Presse Rußlands unaufhörlich als Muster vor Augen hält.

Selbst angenommen, es habe der deutschen Sozialdemokratie so sehr an Kraft gemangelt, daß sie genötigt war, auf jederlei revolutionäre Aktion zu verzichten, so durfte sie sich auch in diesem Fall nicht dem chauvinistischen Lager anschließen, durfte sie nicht Schritte tun, aufgrund deren die italienischen Sozialisten mit Recht erklärten, daß die deutschen Sozialdemokraten das Banner der proletarischen Internationale entehren.

Unsere Partei, die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands, hat in Verbindung mit dem Krieg schon ungeheure Opfer gebracht und wird noch weitere bringen. Unsere gesamte legale Arbeiterpresse ist vernichtet. Die Mehrzahl der Arbeiterverbände ist aufgelöst, sehr viele unserer Genossen sind verhaftet und verbannt. Und dennoch hielt es unsere Parlamentsvertretung (…) für ihre unbedingte sozialistische Pflicht, die Politik der europäischen Regierungen als imperialistisch anzuprangern. Und trotz verzehnfachter Unterdrückung durch die zaristische Regierung geben die sozialdemokratischen Arbeiter in Rußland bereits die ersten illegalen Aufrufe gegen den Krieg heraus und erfüllen so ihre Pflicht gegenüber der Demokratie und der Internationale."

Wladimir Iljitsch Lenin, »Der Krieg und die russische Sozialdemokratie«, geschrieben vor dem 28. September (11. Oktober) 1914. Veröffentlicht am 1. November 1914 im Sozial-Demokrat Nr. 33, hier zitiert nach: Lenin, Werke, Band 21, Berlin/DDR 1960, S. 13ff.

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