Die deutsche Linke muss
sich entscheiden – linke Identitätspolitik oder Kampagnenfähigkeit
Oskar
Lafontaine und Sahra Wagenknecht haben sich Ende 2017 öffentlichkeitswirksam
für eine „neue linke Sammlungsbewegung“ ausgesprochen. Lafontaine forderte, die
Linkspartei müsse zur Initiatorin einer solchen Bewegung werden, die sie selbst
in Frage stellt und die „neben früheren Sozialdemokraten auch unzufriedene
Grüne ansprechen kann“.
Führende
Linkspolitiker und zahlreiche Strömungen innerhalb der Linkspartei haben den
Vorstoß kritisiert. In den Medien waren bislang zwei Deutungsmuster
vorherrschend.
Es
gibt aber auch Stimmen, die den Vorstoß der beiden Politiker höher gewichten.
Zu diesen gehören zwei Vertreter ganz unterschiedlicher Positionen in der
Linkspartei: Tom Strohschneider, bis Ende 2017 Chefredakteur des „Neuen
Deutschlands“, und der marxistische Autor Andreas Wehr.
Tom
Strohschneider stellte drei Aspekte bei Wagenknecht und Lafontaine fest.
Erstens attestierten führende Parteipolitiker ihrer eigenen Organisation, den
Anforderungen der Zeit nicht mehr zu genügen, was für sich genommen schon ein
bemerkenswerter Vorgang sei. Zweitens stünden die Aufrufe der beiden Politiker
immer im Kontext einer Kritik an der Flüchtlings- und Migrationspolitik der
Partei „Die Linke“. Darum gehe es zuvörderst um eine „für die Zukunft
einschneidende Orientierungsentscheidung – nämlich der, welchen Stellenwert man
nationalstaatlichen Formen der Politik zubilligt“.
Gegensätze: Marx und die PDL heute; Foto: junge Welt |
Drittens,
und das ist der wichtigste Punkt, gehe die Debatte weit über die Linkspartei
hinaus. Es ergäben sich neue Zusammenhänge und Widersprüche zwischen den
Parteien SPD, Grüne und „Die Linke“. Es schiebe sich eine zweite Achse ins
deutsche Parteiensystem hinein, entlang der Koordinaten „liberal/autoritär,
global/national, ökologisch/gegenwartsrabiat, multikulturell/homogenistisch“.
Man
muss hier hervorheben: Strohschneider schreibt, dass sich die deutsche
Parteienlandschaft verändere, was keine Kleinigkeit ist. Es geht demnach nicht
um einen simplen innerparteilichen Streit, sondern um die Frage, welche
Zukunftsperspektive die Linkspartei vor diesem Hintergrund hat. Strohschneider
selbst positioniert sich allerdings auf Grundlage eines bloßen Werturteils.
Denn ob der Nationalstaat einen Stellenwert für eine Politik im Interesse der
Arbeitenden hat und ob die Angehörigen der Arbeiterklasse liberalen Werten
zugeneigt sind oder nicht, ist in Wirklichkeit keine subjektive, sondern eine
objektive Frage.
Strohschneiders
linksliberales Werturteil ist aber wiederum Ausdruck eines allgemeineren
Phänomens, das Andreas Wehr in seinem Beitrag „Klarheit vor Sammlung!“
analysiert. Die arbeitende Klasse habe europaweit das Vertrauen in die
Sozialdemokratie verloren, welche sich nicht nur dem Neoliberalismus in der
Wirtschaftspolitik, sondern auch den Politikinhalten der Grünen bzw. der „neuen
sozialen Bewegungen“ öffnete.
Die
traditionelle Ausrichtung linker Politik auf gesamtgesellschaftliche Ziele, auf
die Emanzipation der Lohnabhängigen als der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung
sei dabei verloren gegangen. Wehr attestiert nicht nur der SPD, sondern auch
der Linkspartei, dass diese ihr Heil in einer „kosmopolitisch-linken
Identitätspolitik“ gesucht hätten, was einer Orientierung auf urbane
Mittelstandsmilieus entspräche.
Die
arbeitenden Menschen, die sich nach Wiederherstellung des Sozialstaats sehnten
und für die der nationale Rahmen als Schutzraum nicht geschwächt oder in einer
EU überwunden werden dürfe, wolle man hingegen der Alternative für Deutschland
(AfD) überlassen.
Wehr
zieht daraus im Unterschied zu Wagenknecht und Lafontaine die sehr weitgehende
Konsequenz: Die Krise der deutschen Linkspartei sei Teil einer westeuropäischen
Entwicklung, in der sich zeige, „dass das Modell der pluralistischen, ohne
theoretisches Zentrum arbeitenden linken Sammlungs- bzw. Bewegungspartei“ für
immer mehr Menschen „als nicht mehr der heutigen Situation angemessen angesehen
wird“.
Diesen
Parteien fehle es an Kampagnenfähigkeit, dem Vermögen ihrer Mitglieder, ihre
Partikularinteressen hinter sich zu lassen und ihre Kraft auf gemeinsame
Anliegen zu konzentrieren, so wie es die Sozialistische Partei der Niederlande
(SP) und die belgische Partei der Arbeit (PdA) im Gesundheitssektor oder die
KPÖ Steiermark in der Wohnungsfrage erfolgreich praktizierten.
Notwendig
sei daher, Klarheit über die Ziele einer möglichen neuen linken Formation zu
gewinnen. Es bedürfe dringend einer politischen Kraft, die sich dem starken
Rechtstrend entgegenstemmt, der jetzt auch Deutschland erfasst.
Hier
wird die Weggabelung deutlich, vor der die deutsche Linke derzeit steht. Es
geht um die Frage, ob von der gesellschaftlichen Tiefenströmung, die das
Parteiensystem erfasst hat, eine linke Kraft profitiert – oder eine Rechte.
Von Pablo Graubner
aus „unsere zeit (UZ) – Zeitung der DKP“ vom 23. Februar 2018
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