Rosa Luxemburg,
Revolution und Demokratie
Die
Oktoberrevolution und die Sowjetunion, die aus diesem Ereignis hervorging,
bleiben die größten historischen Erfolge der Linken, solange das Wort „links“
als politischer Begriff den Sinn behält, den es an seinem Ursprung hatte – in
der alten französischen Parlamentssitzordnung fand man links die Klasse, die
sich emanzipieren wollte, rechts die Herrschenden.
Wer
Oktoberrevolution und Sowjetunion bei Linken heute verleumden will, um diese
Linken zu spalten, zu verwirren und zu demoralisieren, mag versuchen, dieser
Miesmacherei einen linken Anstrich zu geben.
Nicht
selten genug soll ausgerechnet Rosa Luxemburg die gesuchte Person sein.
In
der Tat war diese große Revolutionärin, die einen der stärksten Texte gegen den
Reformismus geschrieben hat, den die Geschichte der Arbeiterbewegung kennt,
„Sozialreform oder Revolution“ (1898), schon lange vor dem Roten Oktober eine
skeptische Beobachterin der Bolschewiki. Schon 1905 schrieb sie über „russische
Parteistreitigkeiten“, also die Ergebnisse der Spaltung der russischen
Sozialdemokratie auf ihrem Londoner Kongress zwei Jahre zuvor, den Satz, bei
Lenins Fraktion, den Bolschewiki eben, zeige sich „eine etwas kosakische Art,
einen Parteizwist zu lösen“, sie seien zu grobe Taktiker und zu sture
Strategen, und man solle sich bei der Sozialdemokratie anderer Länder lieber an
den Rat des Deutschen Karl Kautsky halten, der Neutralität empfahl, was Rosa
Luxemburg „ein kluges und anerkennenswertes Wort“ nannte.
Foto: "UZ" |
Als
zwölf Jahre später der Rote Oktober stattgefunden hatte, bescheinigte sie den
Kritisierten indes zumindest, völlig richtig gehandelt zu haben, als jene
„Frieden und Landfrage“ in den Mittelpunkt ihrer vorwärtstreibenden Propaganda
wie ihrer Taten stellten.
Diese
Politik wurde durchgesetzt, so Luxemburg, gegen „die bürgerlichen Klassen, die,
von der ersten Sturmwelle der Revolution überspült, sich bis zur
republikanischen Staatsform hatten mit fortreißen lassen“, dann aber alsbald
begannen, „nach rückwärts Stützpunkte zu suchen und im Stillen die
Konterrevolution zu organisieren“.
War
die „kosakische Art“ bei der Marxistin Luxemburg 1905 noch eine Metapher für
die Handlungsweise der Bolschewiki gewesen, so bekamen es diese Bolschewiki nun
mit wirklichen, konterrevolutionären Kosaken zu tun, die im Tross des
Putschisten L. G. Kornilow schon vor dem Roten Oktober „auf Petrograd
vorrückten, um die Revolution niederzuwerfen und eine Militärdiktatur zu
errichten“. Hätten sie Erfolgt gehabt, wäre, so Luxemburg, „das Schicksal der
Demokratie, der Republik selbst besiegelt gewesen“.
Daran,
dass Lenins angeblich linke, aber weniger konsequente Konkurrenz innerhalb der
russischen Sozialdemokratie sich für die Verteidigung der Revolution gegen jene
Kosaken und andere Konterrevolutionäre nicht zu interessieren schien, daran
konnte man, schrieb nun die Revolutionärin, „das Utopische und im Kern
Reaktionäre der Taktik ermessen, von der sich die russischen Sozialisten der
Kautskyschen Richtung, die Menschewiki, leiten ließen.“
Eine
Leninistin war sie mit diesen Worten trotzdem nicht geworden. Denn ihre Kritik
an Lenins Partei blieb scharf. Sie erschöpft sich nicht in dem Satz von der
Freiheit, welche immer die Freiheit des Andersdenkenden sei, auf den sie meist
reduziert wird.
Was
diese Kritik vielmehr eigentlich ablehnt, ist der nicht nur bei der
sozialistischen, sondern schon bei der bürgerlichen Linken im Kampf gegen den
Feudalismus vorfindbare Hang revolutionärer Organisationen, in Zeiten knapp
errungener Siege und existenzieller Bedrohung hierarchisch zu verhärten.
Luxemburg
war Realistin genug, zu wissen, dass sich dieser Hang nur dann komplett
abschaffen lässt, wenn man bei der revolutionären Linken auf die Arbeitsteilung
und deren zentrale Organisation (die ja der Klassenfeind auch hat, dadurch wird
nun mal alles effektiver) schlechthin verzichtet.
Das
empfahl sie zwar niemandem, ihre Einwände aber nähern sich diesem Punkt nicht
selten, weil sie formale Kriterien etwa der Demokratie (zum Beispiel allgemeine
Wahlen oder Pressefreiheit) darin mitunter über den Klasseninhalt der
jeweiligen Konstellation stellt.
Am
deutlichsten geschah das in einer berühmten Passage, die beklagt, die
Bolschewiki hätten „an Stelle der aus allgemeinen Volkswahlen hervorgegangenen
Vertretungskörperschaften die Sowjets als die einzige wahre Vertretung der
arbeitenden Massen hingestellt. Aber mit dem Erdrücken des politischen Lebens
im ganzen Lande muss auch das Leben in den Sowjets immer mehr erlahmen.
Foto: "junge Welt" Archiv |
Wo
das heute zitiert wird, suggeriert man gern, Rosa Luxemburg habe formal
mehrstimmige Politik gegen formal einstimmige immer und überall in Stellung
gebracht und sei damit ungefähr für das eingetreten, was man im Gegensatz zu
ihrer Wendung „Diktatur im bürgerlichen Sinne“ als „Demokratie im bürgerlichen
Sinne“ bezeichnen könnte.
Dass
es ihr in Wirklichkeit nicht um solche Formen, nicht um die Kriterien des
Liberalismus für Demokratie ging, sondern um den Klasseninhalt der Politik,
sieht man am deutlichsten da, wo man ihr Handeln, Reden und Schreiben im
Zusammenhang derjenigen revolutionären Auseinandersetzung studieren kann, die
sie nicht wie die russische nur kommentierte, sondern aktiv mitgestaltet hat.
Im
Dezember 1918 schrieb sie, die formal und bürgerlich-demokratische „Ausnutzung
des Parlaments zu sogenannten positiven Errungenschaften“ sei für Deutsche
jetzt ein „althergebrachtes Schema“, das es in der revolutionären Situation zu
verlassen gelte: „Jetzt stehen wir mitten in der Revolution, und die
Nationalversammlung ist eine gegenrevolutionäre Festung, die gegen das
revolutionäre Proletariat aufgerichtet wird. Es gilt also, diese Festung zu
berennen und zu schleifen.“
Besagte
Festung war wählbar als Ergebnis eines Meinungskampfes, also genau das, was
Rosa Luxemburg bei ihrer Kritik an den Bolschewiki bei diesen vermisste. Jetzt
aber attackierte sie Mahnungen anderer, die formelle bürgerliche Demokratie
nicht zu verspielen, als Aberglaube eines Menschenschlags, der „dem
parlamentarischen Kretinismus huldigt“ und „Revolution und Sozialismus durch
Parlamentsmehrheiten entscheiden will“.
Was
sie in der Schlacht zu ahnen begann, war die unangenehme Wahrheit, dass
diejenige Seite, die während der Schlacht abstimmt, diese Schlacht nur
verlieren kann.
Wer
ist also die wahre Rosa Luxemburg? Ist das die Verteidigerin des Wahlzettels
als Gütesiegel formaler Demokratie oder die Verächterin der Ergebnisse von
Wahlen mit bürgerlichem Klasseninhalt im revolutionären Kampf?
Politische
Positionen sind keine fixen Größen. Man versteht sie nur im Zusammenhang von
Für und Wider. Gemessen am Ideal war Rosa Luxemburg eine Kritikerin des
Bolschewismus, gemessen am realen Angebot der Alternativen ihrer Zeit hingegen
stand sie auf derselben Seite, nämlich gegen alle, die der Revolution empfahlen,
auf den Moment zu warten, da alles nach dem Ideal zu regeln sein würde, nach
dem „althergebrachten Schema“.
Das
ging bei ihr nicht nur gegen demokratische, sondern auch gegen ökonomische
Schemagläubige, wie in ihrem unvergesslichen Brief an Luise Kautsky vom 24.
November 1918: „Freust Du Dich über die Russen? Natürlich werden sie sich in
diesem Hexensabbat nicht halten können – nicht, weil die Statistik eine zu
rückständige ökonomische Entwicklung in Russland aufweist, wie Dein gescheiter
Gatte ausgerechnet hat, sondern weil die Sozialdemokratie in dem
hochentwickelten Westen aus hundsjämmerlichen Feiglingen besteht, die, ruhig
zusehend, die Russen sich verbluten lassen. Aber ein solcher Untergang ist
besser als ‚leben bleiben für das Vaterland!‘, es ist eine weltgeschichtliche
Tat, deren Spur in Äonen nicht untergehen wird.“
Was
die Versuche, Rosa Luxemburg gegen den Roten Oktober und die Sowjetunion zu
instrumentalisieren, unterschlagen müssen, ist zweierlei: 1. Sie hätte
zweifellos gern Erfahrungen damit gemacht, die revolutionäre Gewalt, die sie
befürwortete, anders zu gebrauchen als die Bolschewiki. Aber dazu kam es nicht,
weil der Verrat der SPD die deutsche Revolution nicht so weit gelangen ließ wie
die russische.
2.
Ihre Kritik an Lenin ist keine formell antidiktatorische oder
gegenadministrative, sondern eine klassenspezifische und damit ein Spezialfall
der Bestätigung des dem Marxismus wohlbekannten Gefälles zwischen Anspruch
(Programm) und Gelegenheit (Klassenkampf): „Es wäre in der Tat“, so schrieb
sie, „eine wahnwitzige Vorstellung, dass bei dem ersten welthistorischen
Experiment mit der Diktatur der Arbeiterklasse, und zwar unter den denkbar
schwersten Bedingungen: mitten im Weltbrand und Chaos eines imperialistischen
Völkermordens in der eisernen Schlinge der reaktionärsten Militärmacht Europas,
unter völligem Versagen des internationalen Proletariats, dass bei einem
Experiment der Arbeiterdiktatur unter so abnormen Bedingungen just alles, was
in Russland getan und gelassen wurde, der Gipfel der Vollkommenheit gewesen
sei.
Umgekehrt
zwingen die elementaren Begriffe der sozialistischen Politik und die Einsicht
in ihre notwendigen historischen Voraussetzungen zu der Annahme, dass unter so
fatalen Bedingungen auch der riesenhafteste Idealismus und die sturmfeste
revolutionäre Energie nicht Demokratie und nicht Sozialismus, sondern nur
ohnmächtige, verzerrte Anläufe zu beiden zu verwirklichen imstande seien.“
Waren
jene Anläufe wirklich „verzerrt“? Gemessen am Ideal gewiss, das hat auch Lenin
persönlich immer wieder gesagt und geschrieben.
Waren
sie aber wirklich „ohnmächtig“? Rosa Luxemburg hatte Angst um die russische
Revolution, sah sie schon verbluten, sah sie begraben vom Feind. Sie hat nicht
mehr erlebt, wie die Sowjetunion sich nach innen und außen festigte, wie sie
Hitlers scheinbar unaufhaltsamen Vormarsch aufhalten konnte.
Rosa
Luxemburg hat auch nicht mehr erlebt, wie aus dem Roten Oktober schließlich
eine sozialistische Staatengemeinschaft hervorging, zu der auch eine Deutsche
Demokratische Republik gehörte, in der unter anderem Rosa Luxemburgs Werke
gedruckt wurden.
Der
Sozialismus kann nicht ganz ohnmächtig gewesen sein, der die anspruchsvollste
Kritik an ihm selbst, die sich überhaupt denken lässt, seiner Mit- und Nachwelt
zur Lektüre und praktischen Auswertung übergeben konnte.
Die
Erinnerung an Rosa Luxemburg war in diesem Sozialismus lebendig. Derselbe
Sozialismus fehlt allen, die für Freiheit und Gerechtigkeit, gegen Ausbeutung,
Unterdrückung, Ausgrenzung, Einschließung und jedes andere gesellschaftliche
Unrecht kämpfen, heute so sehr, wie ihnen Rosa Luxemburg fehlt.
Von Dietmar Dath
aus „unsere zeit (UZ) – Zeitung der DKP“ vom 12. Januar 2018
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