Lenin: Die Staatsmacht – Hauptfrage der
Revolution
Der
Herbst begann. Mehr als ein halbes Jahr war seit der Februarrevolution
vergangen. Auf die Juliereignisse, als Hunderttausende in den Zentren des
Landes, vor allem in der Hauptstadt Petrograd „Alle Macht den Sowjets“ und den
Sturz der Provisorischen Regierung gefordert hatten (vgl. UZ vom 21.7.2017),
hatte die Provisorische Regierung mit der Einschränkung vieler erst in der
Februarrevolution errungener demokratischer Rechte, mit Zeitungsverboten,
Verhaftungen revolutionärer Arbeiter, Soldaten und aufständischer Bauern
reagiert, vor allem mit der Verfolgung der Bolschewiki. Der Ministerpräsident
Fürst Lwow, Mitglied der Partei der Konstitutionellen Demokraten („Kadetten“),
trat zurück.
Die
Provisorische Regierung wurde umgebildet. Alexander Kerenski (Partei der
Sozialrevolutionäre) übernahm am 25. Juli (7. 8. nach dem neuen Kalender) 1917
zusätzlich zum Kriegs- und Marineministerium den Vorsitz der Regierung. Doch
die grundlegenden Probleme blieben ungelöst: Der Krieg forderte nach wie vor
viele Opfer. Es herrschte Massenarbeitslosigkeit. Eine Hungersnot drohte. Die
Versprechungen der Provisorischen Regierung auf eine Bodenreform wurden nicht
umgesetzt.
Der
Putsch Kornilows – von Kerenski nach den Juliereignissen zum Oberbefehlshaber
der russischen Armee ernannt – am 27. August (9.9.1917), der Truppen mit der
„Wilden Division“ an der Spitze gegen die Hauptstadt führte, und sein Scheitern
brachten jedoch eine Wende. Der Kornilow-Putsch demonstrierte, so Lenin Mitte
September, „für Russland das …, was die Geschichte in allen Ländern bewiesen
hat, nämlich, dass die Bourgeoisie das Vaterland verrät und zu jedem Verbrechen
bereit ist, nur um ihre Herrschaft über das Volk aufrechtzuerhalten und ihre
Profite zu schützen“. (LW, Bd. 25, S. 320)
Obgleich
selbst verfolgt und in der Illegalität – auf seine Verhaftung hatte die
Provisorische Regierung eine Kopfprämie ausgesetzt –, bereitete Lenin im Sommer
und Frühherbst die Partei der Bolschewiki weiter theoretisch und praktisch auf
den nun näher kommenden entscheidenden Kampf vor. Dabei gab es unter den Bolschewiki
durchaus unterschiedliche Auffassungen über die nächsten Schritte. Doch schon
auf dem VI. Parteitag der SDAPR(B) wurde Ende Juli/Anfang August auf Lenins Rat
hin der Kurs auf den bewaffneten Aufstand beschlossen. Wann dieser erfolgen
sollte, ließ sich gleichwohl nicht genau bestimmen. Denn es kam darauf an, dass
die revolutionären Volksmassen, wie Lenin Ende Juli in seinem Aufsatz „Zu den
Losungen“ schrieb, nicht nur „vom Proletariat geführt werden, sondern auch,
dass sie den Parteien der Sozialrevolutionäre und Menschewiki, die die Sache
der Revolution verraten haben, den Rücken kehren“.(Ebenda, S. 184) Diese
Situation war nun eingetreten.
Am 6.
September (19.9.) notierte Lenin im Nachwort zu seiner Schrift „Die Lehren der
Revolution“: „Ende August brachte … der Aufstand Kornilows eine neue Wendung
der Revolution mit sich, indem er dem ganzen Volk anschaulich zeigte, dass die
Kadetten im Bunde mit den konterrevolutionären Generalen danach trachten, die
Sowjets auseinanderzujagen und die Monarchie wiederherzustellen.“ (Ebenda, S.
244) Der Kornilow-Putsch hatte bei vielen Menschen im Land die letzten
Illusionen zerstört. Die Streiks in den Industriezentren des Landes wurden zu
Massenbewegungen. Die Bauernunruhen wurden zum regelrechten Bauernaufstand. Soziale
Konflikte entluden sich auch in Mittelasien, im Kaukasus, in den Westteilen des
Landes. In nationaler Gestalt (Vgl. Bollinger, Oktoberrevolution. Aufstand
gegen den Krieg 1917–1922). Die Matrosen der Baltischen Flotte standen jetzt
geschlossen hinter den Bolschewiki, ebenso die Soldaten der Reserveregimenter
und die Mehrheit der Garnisonen des Landes.
Sitzung des Petrograder Sowjets |
„Es war
unübersehbar: es herrschte eine gesamtnationale Krise eine entscheidende
Voraussetzung für die erfolgreiche sozialistische Revolution. Auch die Mehrheit
der Sowjets stand jetzt auf den Positionen der Bolschewiki. Am 31. August nahm
der Petrograder Sowjet, am 5. September auch der Moskauer Sowjet zum ersten Mal
eine bolschewistische Resolution zur Machtfrage an. Mehr als 250 Sowjets im
ganzen Land standen jetzt hinter der Losung ‚Alle Macht den Sowjets!’ – in
Kiew, Charkow, Kasan, Ufa, Minsk, Taschkent, Samara, Brjansk, im Ural und im
Donbass.“ (Roswitha Czollek; Lothar Kölm: Roter Oktober. Zeitenwende im
Protokoll, Berlin 1977).
Lenin
betonte im Entwurf der Resolution „Zur gegenwärtigen politischen Lage“, der
jedoch auf der entsprechenden Sitzung des ZK im September dann nicht beraten
wurde: „Der ganze Gang der Ereignisse, alle ökonomischen und politischen
Verhältnisse, alle Vorgänge in der Armee schaffen in immer rascherem Tempo die
Voraussetzung zur erfolgreichen Eroberung der Macht durch die Arbeiterklasse,
die Frieden, Brot und Freiheit bringt und den Sieg der Revolution des
Proletariats auch in anderen Ländern beschleunigen wird.“ (LW, 25, S. 326)
Lenins
Arbeiten, insbesondere „Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen
muss“ sowie seine Schrift „Staat und Revolution“, die er in der Illegalität in
den Monaten August und September 1917 schrieb, aber auch Artikel wie „Eine der
Kernfragen der Revolution“ dienten nun der unmittelbaren Vorbereitung der
proletarischen Revolution. Fragen des Sturzes der alten Staatsmacht und der
Gestaltung der neuen Macht traten in den Vordergrund der Überlegungen Was tritt
an die Stelle der alten Staatsmacht? Historische Erfahrungen gab es kaum –
außer denen der Pariser Kommune von 1871. Er betrat also „Neuland“.
Dabei
knüpfte er unmittelbar an die Staats- und Demokratievorstellungen von Karl Marx
und Friedrich Engels sowie ihre Analysen der Kommune an, die von den Theoretikern
der II. Internationale lange sträflich vernachlässigt worden waren. In „Staat
und Revolution“ wollte er – neben „der Wiederherstellung der wahren Marxschen
Lehre vom Staat“ – die theoretische Grundlage für die unmittelbar bevorstehende
Revolution „verbunden mit einer Abrechnung mit dem Kautskyanertum“ geben.
(Ebenda, S. 397 f.)
Sowjetmacht
„Die
Hauptfrage jeder Revolution ist zweifellos die Frage der Staatsmacht. Welche
Klasse die Macht in den Händen hat, das entscheidet alles“, schrieb Lenin in
seinem Artikel „Eine der Kernfragen der Revolution“, der am 14. September
(27.9.) 1917 im „Rabotschi Put“ erschien und unmittelbar auch an seine
Überlegungen in „Staat und Revolution“ anknüpfte (LW, 25, S. 378). Bereits Ende
März 1917, einige Tage vor seinem Aufbruch aus dem Schweizer Exil nach Russland
hatte er – sich ausdrücklich auf Marx berufend – erstmals die Orientierung
ausgegeben, dass in Russland die alte Staatsmaschinerie durch „die unmittelbare
Macht bewaffneter und organisierter Arbeiter“ abgelöst werden müsse und
formuliert: „Das ist der Staat, den wir brauchen. Das sind, ihrem Wesen nach,
die Kommune von 1871 und die Arbeiterdelegiertenräte von 1905 und 1917. Auf
diesem Fundament müssen wir weiter bauen.“ (LW, 23, S. 372)
Er sah
den entscheidenden Ansatzpunkt in den Sowjets, die sich in der
Februarrevolution überall spontan gebildet hatten. Sie waren für ihn das
Mittel, den nach der Februarrevolution in Russland nach wie vor bestehenden
Ausbeuterstaat zu stürzen, ihre Macht sollte an die Stelle der bisherigen
Staatsmacht treten.
Nun
schrieb er in „Eine der Kernfragen der Revolution“: „Bisher liegt in Russland
die Staatsmacht faktisch noch in den Händen der Bourgeoisie, die nur gezwungen
ist, Teilzugeständnisse zu machen (um schon am nächsten Tag zu beginnen, sie
wieder zurückzunehmen), Versprechungen zu machen (um sie nicht zu erfüllen) und
auszuklüngeln, wie sie ihre Herrschaft auf jede nur mögliche Art und Weise
bemänteln kann (um dem Volk mit einer scheinbar ‚ehrlichen Koalition’ Sand in
die Augen zu streuen) usw. usf. In Worten haben wir eine demokratische,
revolutionäre Volksregierung, in Wirklichkeit eine volksfeindliche,
antidemokratische, konterrevolutionäre bürgerliche Regierung …“
Und er
erklärte, dass es nun nicht um einen Personenwechsel gehe, um eine „Regierung
aus den Parteien der Sowjetmehrheit“, sondern um eine völlig neue Staatsform,
die Sowjetmacht. Das bedeutete zugleich „die radikale Umgestaltung des ganzen
alten Staatsapparats, dieses Bürokratenapparats, der alles Demokratische hemmt,
das bedeutet, diesen Apparat zu beseitigen und durch einen neuen, einen Apparat
des Volkes zu ersetzen, d. h. durch den wahrhaft demokratischen Apparat der
Sowjets, d. h. der organisierten und bewaffneten Mehrheit des Volkes, der
Arbeiter, Soldaten und Bauern, das bedeutet, der Mehrheit des Volkes Initiative
und Selbständigkeit zu gewähren, nicht nur bei der Wahl von Deputierten,
sondern auch bei der Verwaltung des Staates, bei der Durchführung der Reformen
und Umgestaltungen.“ (LW, 25, S. 380)
Bereits
in den Aprilthesen hatte Lenin zudem die „Abschaffung der Polizei, der Armee,
der Beamtenschaft, Entlohnung aller Beamten, die durchweg wählbar und absetzbar
sein müssen, nicht über den Durchschnittslohn eines guten Arbeiter hinaus“ und
die Nationalisierung des gesamten Bodens, die Verschmelzung aller Banken zu
einer Nationalbank, die Kontrolle der gesamten Produktion gefordert (LW, 24, S.
5–6) – Überlegungen, die er nun im September auch in seiner Schrift „Die
drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll“ (LW, 25, S. 327–377)
weiter konkretisierte.
Die
Erringung der Macht durch die Sowjets, der Sturz der alten Staatsmacht, die
grundlegende Umgestaltung aller Verhältnisse bedeutete für Lenin – ganz im
Sinne des „Kommunistischen Manifestes“ – nicht, wie Kritiker und Gegner ihm bis
heute unterstellen und die Revolution zum „Putsch“ umdeuten wollen, die
Usurpierung der Macht durch Einzelne oder eine kleine Gruppe, sondern die
Erringung der Demokratie für die bislang Ausgebeuteten und Unterdrückten, für
die überwältigende Mehrheit der Menschen. Doch diese Aufgabe stand noch bevor …
Von Nina
Hager
aus „unsere zeit (UZ) – Zeitung der DKP“ vom 29. September 2017
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