Besonders hohes Armutsrisiko für Alleinerziehende, Foto: junge Welt |
Studie: Wer arm aufwächst, kann kaum auf
besseres Leben hoffen. Erwerbslose, Migranten, Alleinerziehende, Kinderreiche
besonders betroffen
Die
Klassengesellschaft lebt. Bekannt ist seit langem, dass die Zahl armer Kinder
in Deutschland wächst. Die Bundesregierungen der vergangenen Jahre unternahmen
dagegen jeweils nichts.
Immerhin beschert dieser verfestigte Zustand in einem
Land, dessen Wirtschaft einen Exportrekord nach dem anderen vorweist, so
manchen »Experten« eine gute Auftragslage. Die Bertelsmann-Stiftung, bekannt u.
a. für ihr Mitwirken an der »Agenda 2010«, zeigt nun in einer am Montag
veröffentlichten Langzeitstudie: Armut gebiert Armut. Für Kinder, die in einer
davon betroffene Familie aufwachsen, sei es in der Bundesrepublik sehr schwer,
dieser strukturellen Mittellosigkeit zu entfliehen.
Die
Studie basiert auf Datenerhebungen aus den Jahren von 2011 bis 2015. Ihr
zufolge lebt mehr als ein Fünftel aller Kinder (gut 21 Prozent) in der
Bundesrepublik in ständiger Armut. Das heißt: Ihre Eltern haben stets weniger
als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung. Weitere zehn Prozent der
unter 15jährigen erlebten wiederkehrende Perioden akuten Geldmangels. Schwerer
als andere habe es etwa der Nachwuchs von Eltern mit niedriger beruflicher
Qualifikation.
Ein
großer Teil dieser Minderjährigen lebt demnach in Einelternfamilien. Laut
aktueller Daten, die die Bundesregierung auf Anfrage der Abgeordneten Sabine
Zimmermann (Die Linke) herausgegeben hat, fallen inzwischen 43,6 Prozent der
Alleinerziehenden unter diese Armutsschwelle. Vor zehn Jahren waren es rund 39
Prozent. Ein besonders hohes Risiko, in nicht gesicherten Verhältnissen
aufzuwachsen, haben der Studie zufolge auch Kinder und Jugendliche in Familien
mit Migrationshintergrund. Diese Gruppe stelle 46 Prozent der Betroffenen.
Überproportional (sozial) »abgehängt« seien zudem Minderjährige mit mindestens
zwei Geschwistern.
Die
»sozialen Milieus« seien in Deutschland sehr undurchlässig, resümieren die Autoren
dazu. Der Nachwuchs habe kaum eine Chance. Nur in seltenen Fällen gelinge es
Betroffenen, später in die Mittelschicht aufzusteigen. Springers Welt online
erkannte darin zynisch »eine Art Unterschichtsmentalität«, die »dem Kind ein
Leben lang anhaftet«.
In der Hartz-IV-Falle
Als
besonders stabil erweise sich die prekäre Situation im Hartz-IV-Bezug, warnen
die Autoren. Das betrifft insgesamt fast zwei Millionen Kinder und Jugendliche
im Land mit der weltweit viertgrößten Volkswirtschaft. Diese jungen Menschen
würden gemeinsam mit ihren Eltern in ein System des »Forderns und Förderns«
gepresst, »in das sie nicht hineingehören«. Es orientiere sich am untersten
Einkommensrand der Gesellschaft. »Dort gehören Unterversorgung und Ausgrenzung
bereits vielfach zum Alltag dazu«, mahnen die Autoren. Die Kinder seien in
dieser Lage jedoch gefangen und hätten keine Möglichkeit, sich daraus zu
befreien. Dabei würden gerade in dieser Lebensphase »die Grundlagen für das
weitere Leben mit Blick auf Bildung, Entwicklung, Gesundheit, aber auch
Demokratieverständnis gelegt«. Die Gesellschaft komme hier ihrer Verantwortung,
allen Kindern einen guten Start zu ermöglichen, nicht konsequent nach.
Wie wenig
der Gesetzgeber Minderjährige und junge Erwachsene im Hartz-IV-System
tatsächlich schützt, zeigt zum Beispiel eine Sonderauswertung der Bundesagentur
für Arbeit (BA) für das Onlineportal O-Ton Arbeitsmarkt vom vergangenen
November. Danach lebten im Jahr 2015 bei einem Drittel aller sanktionierten
Hartz-IV-Bezieher Kinder im Haushalt, rund 30 Prozent davon waren
alleinerziehend. In jedem Monat des Jahres hatten Jobcenter im Schnitt 2.600
Eltern, davon 220 Alleinerziehende, sogar vollständig sanktioniert. Das heißt:
Die Familien mussten mindestens drei Monate lang von Lebensmittelgutscheinen
existieren.
Doch auch
vor den Minderjährigen selbst machen Jobcenter nicht halt. Wer das 15.
Lebensjahr vollendet und die Schule bereits verlassen hat, muss laut
Gesetzgeber dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Hält er dabei eine Regel
nicht ein, droht ihm umgehend eine 100-Prozent-Sanktion. Nach jW vorliegenden
BA-Zahlen waren im vergangenen Jahr monatlich rund 2.300 Jugendliche im Alter
zwischen 15 und 17 und 6.600 Volljährige unter 20 Jahren von einer drakonischen
Hartz-IV-Strafe betroffen.
Die
Chancen dafür, dass die kommende Bundesregierung die in der Studie erhobenen
Forderungen befolgt, dürften indes gering sein. Die Autoren verlangen,
tatsächliche Bedarfe für Kinder empirisch zu erfassen. Ein so berechnetes,
steuerfinanziertes »Teilhabegeld«, das einkommensabhängig abzuschmelzen sei,
müsse die Hartz-IV-Regelsätze ersetzen. Außerdem sei ein »erreichbares,
kompetentes und unbürokratisches Unterstützungssystem für Kinder und Familien«
nötig, um das Abrutschen in akute Notlagen zu verhindern. Stiftungsvorstand
Jörg Dräger konstatierte: »Kinderarmut ist in Deutschland ein Dauerzustand; wer
einmal arm ist, bleibt lange arm«. Es gelinge immer weniger Eltern, sich aus
prekären Situationen zu befreien. Die künftige Familien- und Sozialpolitik
müsse, forderte er, »die Vererbung von Armut durchbrechen«.
Von Susan
Bonath
Aus „junge Welt“ vom 24.10.2017
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