Sonntag, 22. Oktober 2017

Staat, Arbeiter und Köchin

Verteilung von Wohnraum als revolutionärer Demokratismus: Im Oktober 1917 äußerte sich Lenin zu der Auffassung, das Proletariat sei zur Staatsverwaltung nicht fähig

Das Proletariat, sagt man uns, werde den Staatsapparat nicht in Gang setzen können.

Russland wurde nach der Revolution des Jahres 1905 von 130.000 Gutsbesitzern regiert, und zwar mittels endloser Vergewaltigungen und Drangsalierung von 150 Millionen Menschen, deren ungeheure Mehrzahl zu Zuchthausarbeit und zu einem Hungerdasein gezwungen wurde.

Und da sollen 240.000 Mitglieder der Partei der Bolschewiki nicht imstande sein, Russland zu regieren, es im Interesse der Armen und gegen die Reichen zu regieren! (…) Darüberhinaus besitzen wir ein »Wundermittel« (…), die Heranziehung der Werktätigen, die Heranziehung der armen Bevölkerung zur täglichen Arbeit an der Verwaltung des Staates. Um klarzumachen, wie leicht dieses Wundermittel angewendet werden kann und wie unfehlbar es wirkt, wollen wir ein möglichst einfaches und anschauliches Beispiel nehmen.

Der Staat muss eine bestimmte Familie zwangsweise aus ihrer Wohnung ausquartieren und eine andere darin unterbringen. Der kapitalistische Staat tut das oft genug, auch unser Staat, der proletarische oder sozialistische Staat, wird das tun.

Der kapitalistische Staat setzt eine Arbeiterfamilie, die ihren Ernährer verloren und die Miete nicht bezahlt hat, auf die Straße. Es erscheint der Gerichtsvollzieher, der Polizist oder Milizionär, ja ein ganzes Aufgebot. Ist die Exmittierung in einem Arbeiterviertel durchzuführen, so wird eine Kosakenabteilung benötigt. Warum? Weil der Gerichtsvollzieher und der »Milizionär« sich weigern, ohne sehr starke militärische Bedeckung hinzugehen. Sie wissen, dass das Schauspiel der Exmittierung bei der ganzen umwohnenden Bevölkerung, bei Tausenden und aber Tausenden an den Rand der Verzweiflung getriebenen Menschen eine so ungeheure Erbitterung, einen solchen Hass gegen die Kapitalisten und gegen den kapitalistischen Staat hervorruft, dass der Gerichtsvollzieher und das Milizaufgebot jeden Augenblick in Stücke gerissen werden könnten. (…)

Bildungszirkel zur Beseitigung des Analphabetismus, Foto jW archiv
Der proletarische Staat muss eine Familie, die äußerste Not leidet, zwangsweise in die Wohnung eines Reichen einquartieren. Nehmen wir an, unsere Abteilung Arbeitermiliz bestehe aus 15 Personen (…). Die Abteilung erscheint in der Wohnung des Reichen, besichtigt sie und findet für zwei Männer und zwei Frauen fünf Zimmer vor: »Bürger, Sie werden sich für diesen Winter auf zwei Zimmer beschränken müssen, die anderen zwei stellen Sie für zwei Familien bereit, die jetzt im Keller wohnen. Vorübergehend, bis wir mit Hilfe von Ingenieuren (Sie sind wohl selbst Ingenieur?) gute Wohnungen für alle gebaut haben, müssen Sie unbedingt zusammenrücken. Ihr Telefon wird zehn Familien zur Verfügung stehen. Dadurch werden etwa 100 Arbeitsstunden an Laufereien durch die Läden usw. erspart. (…)«

Wir sind keine Utopisten. Wir wissen: Nicht jeder ungelernte Arbeiter und jede Köchin sind imstande, sofort an der Verwaltung des Staates mitzuwirken. Darin stimmen wir sowohl mit den Kadetten (liberale Konstitutionell-Demokratische Partei) als auch mit der Breschkowskaja (Jekaterina Breschko-Breschkowskaja, 1844–1934, Sozialrevolutionärin) und mit (Irakli) Zereteli (1881–1959, Menschewik, von Mai bis August 1917 Minister in der russischen provisorischen Regierung) überein. Wir unterscheiden uns jedoch von diesen Bürgern dadurch, dass wir den sofortigen Bruch mit dem Vorurteil verlangen, als ob nur Reiche oder aus reichen Familien stammende Beamte imstande wären, den Staat zu verwalten, gewohnheitsmäßige, tägliche Verwaltungsarbeit zu leisten. Wir verlangen, dass die Ausbildung für die Staatsverwaltung von klassenbewussten Arbeitern und Soldaten besorgt und dass sie unverzüglich in Angriff genommen werde, d. h., dass unverzüglich begonnen werde, alle Werktätigen, die ganze arme Bevölkerung, in diese Ausbildung einzubeziehen.

Wir wissen, dass die Kadetten gleichfalls bereit sind, dem Volk Demokratismus beizubringen. Kadettendamen sind bereit, den Dienstmädchen nach besten englischen und französischen Quellen Vorträge über die Gleichberechtigung der Frau zu halten. Ferner wird bei der nächsten musikalisch umrahmten Kundgebung vor Tausenden von Menschen auf der Bühne eine Abküsserei veranstaltet werden (…) und das dankbare Volk wird durch diesen Anschauungsunterricht erfahren, was republikanische Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit ist. (…)
 
Unserer Meinung nach ist zur Linderung der unerhörten Nöte und Leiden des Krieges, ebenso wie zur Heilung der schrecklichen Wunden, die der Krieg dem Volk geschlagen hat, ein revolutionärer Demokratismus, sind revolutionäre Maßnahmen notwendig, eben von der Art wie die als Beispiel geschilderte Verteilung von Wohnräumen im Interesse der Armen.

Wladimir Iljitsch Lenin: Werden die Bolschewiki die Staatsmacht behaupten? Veröffentlicht im Oktober 1917 in der Zeitschrift Prosweschtschenije. Hier zitiert nach Wladimir Iljitsch Lenin: Werke, Band 26. Dietz Verlag, Berlin1961, Seiten 95–97

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