Verteilung von Wohnraum als revolutionärer
Demokratismus: Im Oktober 1917 äußerte sich Lenin zu der Auffassung, das
Proletariat sei zur Staatsverwaltung nicht fähig
Das
Proletariat, sagt man uns, werde den Staatsapparat nicht in Gang setzen können.
Russland
wurde nach der Revolution des Jahres 1905 von 130.000 Gutsbesitzern regiert,
und zwar mittels endloser Vergewaltigungen und Drangsalierung von 150 Millionen
Menschen, deren ungeheure Mehrzahl zu Zuchthausarbeit und zu einem Hungerdasein
gezwungen wurde.
Und da
sollen 240.000 Mitglieder der Partei der Bolschewiki nicht imstande sein,
Russland zu regieren, es im Interesse der Armen und gegen die Reichen zu
regieren! (…) Darüberhinaus besitzen wir ein »Wundermittel« (…), die
Heranziehung der Werktätigen, die Heranziehung der armen Bevölkerung zur
täglichen Arbeit an der Verwaltung des Staates. Um klarzumachen, wie leicht
dieses Wundermittel angewendet werden kann und wie unfehlbar es wirkt, wollen
wir ein möglichst einfaches und anschauliches Beispiel nehmen.
Der
kapitalistische Staat setzt eine Arbeiterfamilie, die ihren Ernährer verloren
und die Miete nicht bezahlt hat, auf die Straße. Es erscheint der
Gerichtsvollzieher, der Polizist oder Milizionär, ja ein ganzes Aufgebot. Ist
die Exmittierung in einem Arbeiterviertel durchzuführen, so wird eine
Kosakenabteilung benötigt. Warum? Weil der Gerichtsvollzieher und der
»Milizionär« sich weigern, ohne sehr starke militärische Bedeckung hinzugehen.
Sie wissen, dass das Schauspiel der Exmittierung bei der ganzen umwohnenden Bevölkerung,
bei Tausenden und aber Tausenden an den Rand der Verzweiflung getriebenen
Menschen eine so ungeheure Erbitterung, einen solchen Hass gegen die
Kapitalisten und gegen den kapitalistischen Staat hervorruft, dass der
Gerichtsvollzieher und das Milizaufgebot jeden Augenblick in Stücke gerissen
werden könnten. (…)
Bildungszirkel zur Beseitigung des Analphabetismus, Foto jW archiv |
Der
proletarische Staat muss eine Familie, die äußerste Not leidet, zwangsweise in
die Wohnung eines Reichen einquartieren. Nehmen wir an, unsere Abteilung
Arbeitermiliz bestehe aus 15 Personen (…). Die Abteilung erscheint in der
Wohnung des Reichen, besichtigt sie und findet für zwei Männer und zwei Frauen
fünf Zimmer vor: »Bürger, Sie werden sich für diesen Winter auf zwei Zimmer
beschränken müssen, die anderen zwei stellen Sie für zwei Familien bereit, die
jetzt im Keller wohnen. Vorübergehend, bis wir mit Hilfe von Ingenieuren (Sie
sind wohl selbst Ingenieur?) gute Wohnungen für alle gebaut haben, müssen Sie
unbedingt zusammenrücken. Ihr Telefon wird zehn Familien zur Verfügung stehen.
Dadurch werden etwa 100 Arbeitsstunden an Laufereien durch die Läden usw.
erspart. (…)«
Wir sind
keine Utopisten. Wir wissen: Nicht jeder ungelernte Arbeiter und jede Köchin
sind imstande, sofort an der Verwaltung des Staates mitzuwirken. Darin stimmen
wir sowohl mit den Kadetten (liberale Konstitutionell-Demokratische Partei) als
auch mit der Breschkowskaja (Jekaterina Breschko-Breschkowskaja, 1844–1934,
Sozialrevolutionärin) und mit (Irakli) Zereteli (1881–1959, Menschewik, von Mai
bis August 1917 Minister in der russischen provisorischen Regierung) überein.
Wir unterscheiden uns jedoch von diesen Bürgern dadurch, dass wir den
sofortigen Bruch mit dem Vorurteil verlangen, als ob nur Reiche oder aus
reichen Familien stammende Beamte imstande wären, den Staat zu verwalten,
gewohnheitsmäßige, tägliche Verwaltungsarbeit zu leisten. Wir verlangen, dass
die Ausbildung für die Staatsverwaltung von klassenbewussten Arbeitern und
Soldaten besorgt und dass sie unverzüglich in Angriff genommen werde, d. h., dass
unverzüglich begonnen werde, alle Werktätigen, die ganze arme Bevölkerung, in
diese Ausbildung einzubeziehen.
Wir
wissen, dass die Kadetten gleichfalls bereit sind, dem Volk Demokratismus
beizubringen. Kadettendamen sind bereit, den Dienstmädchen nach besten
englischen und französischen Quellen Vorträge über die Gleichberechtigung der
Frau zu halten. Ferner wird bei der nächsten musikalisch umrahmten Kundgebung
vor Tausenden von Menschen auf der Bühne eine Abküsserei veranstaltet werden
(…) und das dankbare Volk wird durch diesen Anschauungsunterricht erfahren, was
republikanische Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit ist. (…)
Unserer
Meinung nach ist zur Linderung der unerhörten Nöte und Leiden des Krieges,
ebenso wie zur Heilung der schrecklichen Wunden, die der Krieg dem Volk
geschlagen hat, ein revolutionärer Demokratismus, sind revolutionäre Maßnahmen
notwendig, eben von der Art wie die als Beispiel geschilderte Verteilung von
Wohnräumen im Interesse der Armen.
Wladimir
Iljitsch Lenin: Werden die Bolschewiki die Staatsmacht behaupten?
Veröffentlicht im Oktober 1917 in der Zeitschrift Prosweschtschenije. Hier
zitiert nach Wladimir Iljitsch Lenin: Werke, Band 26. Dietz Verlag, Berlin1961,
Seiten 95–97
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