Donnerstag, 13. April 2017

Definitionsmacht

Westen will den Regime-Change in Syrien

Redakteure von Nachrichtenagenturen sind Profis. Zu den reflexartigen Handlungen in diesem Beruf gehört es, einer Straftat oder einem Verdächtigen, die noch nicht gerichtlich abgeurteilt sind, das Adjektiv »mutmaßlich« voranzustellen. Soviel Verbeugung vor der Unschuldsvermutung als einem Grundprinzip des Rechtsstaates ist bisher selbst im Eifer des Nachrichtengefechts noch üblich. So gab die Agentur Reuters am Dienstag die übereinstimmende Auffassung des US-Präsidenten und der Bundeskanzlerin wieder, den syrischen Präsidenten »für seinen mutmaßlichen Giftgasangriff zur Verantwortung zu ziehen«.

Wer sich da verantworten soll, ist klar: nicht der Westen dafür, dass er nachweislich über Jahre Kopfabschneiderbanden wie Al-Nusra und den »Islamischen Staat« aufgerüstet und auf das letzte laizistische Regime des Nahen Ostens losgelassen hat, sondern der nach wie vor international anerkannte Präsident Syriens für eine Tat, die ihm eben jene Terrorpatrone aus Washington und London zur Last legen, ohne dafür bisher andere Beweise als die vorgelegt zu haben, die ihre eigenen regionalen Söldner produziert haben.

Nun wusste schon Götz von Berlichingen, dass die Herren von Nürnberg niemanden hängen konnten, den sie nicht hatten. Vor die »Reichsexekution« im Namen der vom Westen für sich beanspruchten »Schutzverantwortung« haben die Umstände aber gesetzt, dass der syrische Präsident einen mächtigen Verbündeten hat: Russland. Bei aller Rabulistik können die westlichen Politiker nicht wegdisputieren, dass das russische Militär auf die Bitte Baschar Al-Assads im Land stationiert ist und seine Anwesenheit damit völkerrechtlich legal ist. Und die Unterscheidung zwischen den harten Notwendigkeiten ziviler »Kollateralschäden« bei der Anwendung von Uranmunition und einem Kriegsverbrechen, wie es Syriens Militär vorgeworfen wird, ist im Zweifelsfall eine der Definitionsmacht.

Genau aus diesem Grund, Definitionsmacht zu erlangen, schäumt die westliche Syrien-Rhetorik derzeit über wie Brausepulver. Es geht, wie der britische Außenminister Boris Johnson offenherzig bekannte, darum, Russland »deutlich zu machen«, dass die weitere Unterstützung Assads »nicht mehr in seinem strategischen Interesse ist«. Das bedeutet im Klartext: Russland soll mit Blick auf sein übergeordnetes Interesse an einem Modus vivendi mit dem Westen die vom Völkerrecht gedeckte Unterstützung Assads einstellen und damit dem Westen den vom Völkerrecht nicht gedeckten Sturz Assads praktisch ermöglichen. Und weil dieses Ziel a priori feststeht, ist der Westen taub gegenüber der russischen Forderung nach einer internationalen Untersuchung. Es sollen Fakten geschaffen werden. Wenn sich hinterher herausstellt, dass die Vorwürfe erfunden waren, interessiert das nur noch Historiker.

Von Reinhard Lauterbach
aus junge Welt vom 12.04.2017

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