Montag, 11. Juli 2016

Die DKP trauert um Robert Steigerwald

Robert Steigerwald ist tot. Er war der Lehrer von drei Generationen deutscher Kommunistinnen und Kommunisten. Die DKP trauert um einen Wissenschaftler, Lehrer, Revolutionär

Der kommunistische Philosoph Robert Steigerwald ist tot. Der 91jährige starb am Donnerstag, dem 30. Juni 2016, gegen 16.00 Uhr im Kreis der Familie zu Hause in Eschborn. Er hinterlässt seine Frau Annemarie Steigerwald, zwei Kinder, sieben Enkel- und zehn Urenkelkinder. Steigerwald war Mitglied der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), seit sich die Kommunisten 1968 nach dem Verbot der KPD erneut als legale Partei konstituierten.

Die DKP trauert um ein Mitglied, das die Programmatik der DKP geprägt hat. Der DKP-Vorsitzende Patrik Köbele: „Robert Steigerwald wurde zum Wissenschaftler, weil er gegen Faschismus und Krieg kämpfte, und er kämpfte in der kommunistischen Partei für den Sozialismus, weil er unsere Gesellschaft und die herrschende Ideologie studiert hatte.“

Robert Steigerwald war 1945 nach kurzer Kriegsgefangenschaft in die SPD eingetreten, die er bald wieder verließ, um sich 1948 der KPD anzuschließen. Als Bundeskanzler Adenauer die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik durchsetzen wollte, widersetzten sich die Kommunisten. Die Regierung ließ die KPD verbieten, Steigerwald saß fünf Jahre im Gefängnis. Im Prozess, der mit dem Verbot der KPD endete, gehörte Steigerwald zu der Arbeitsgruppe, die die Prozessvertretung der KPD koordinierte.


Als Philosoph arbeitete Steigerwald zur marxistischen Dialektik und Kritik verschiedener Strömungen der herrschenden Ideologie (z.B. „Herbert Marcuses dritter Weg“, 1969), zur Verarbeitung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse durch den Marxismus (z.B. „Abschied vom Materialismus?“, 1994), er verbreitete und vermittelte die marxistische Philosophie (z.B. „Materialistische Philosophie. Eine Einführung für junge Leute“).


Als Marxisten und Leninisten kam es für ihn darauf an, die Welt zu interpretieren, um sie zu verändern – im Parteivorstand der von den Behörden verfolgten KPD und im Parteivorstand der DKP trug er dazu bei, die Politik der Partei zu entwickeln. Die FAZ sah ihn als „verstocktes Schlachtross“, weil er auch nach der sogenannten Wende bei der philosophischen Überzeugung blieb, dass die Widersprüche des Kapitalismus dazu drängen, durch den Sozialismus gelöst zu werden.
Pressemitteilung des DKP-Parteivorstandes, 1. Juli 2016


Theoretiker der Praxis, Praktiker der Theorie
Nachruf auf Robert Steigerwald
Von Patrik Köbele, Vorsitzender der DKP

Steigerwald Gerns Mies
Der Marxismus-Leninismus ist eine Wissenschaft. Eine Wissenschaft, die den arbeitenden Menschen in den Mittelpunkt stellt und in der Arbeiterklasse die Kraft sieht, die eine neue Welt aufbauen kann. Eine Wissenschaft, die die Welt interpretiert, um sie zu verändern – um alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes Wesen ist und eine Gesellschaft der Solidarität, eine sozialistische Gesellschaft, zu schaffen.

Robert Steigerwald hat das Wesen der marxistisch-leninistischen Weltanschauung in seinem Werk als Philosoph, in seinem Leben als Kommunist und Mitglied unserer Partei und in seiner Haltung als Kämpfer und Freund, Lehrer und Genosse verkörpert.

Robert Steigerwald wurde zum Wissenschaftler, weil er gegen Faschismus und Krieg kämpfte, und er kämpfte in der kommunistischen Partei für den Sozialismus, weil er unsere Gesellschaft und die herrschende Ideologie studiert hatte. Das hieß: Er war im eigentlichen Sinne ein kommunistischer Intellektueller – ein Theoretiker der Praxis, ein Praktiker der Theorie.

Theoretiker der Praxis, Praktiker der Theorie – das war er, als er seine Forschungen zum Frankfurter Schüler Herbert Marcuse und zu dessen Hegel-Verständnis damit verband, auf philosophischer Ebene unser Verhältnis zur antiautoritären Studentenbewegung zu untersuchen, deren Theoretiker Marcuse war. Robert bekämpfte Marcuses falsche Auffassungen, um den Marxismus in der Studentenbewegung zu verbreiten, und er suchte auch in der Philosophie nach Anknüpfungspunkten, nach Gemeinsamkeiten, die zu Gemeinsamkeiten auf der Straße werden könnten.

Er war es als Lehrer der Arbeiterbewegung, der unsere wissenschaftliche Weltanschauung vermittelt, weitergegeben, gemeinsam mit uns erarbeitet hat. Ich selbst bin ein Ergebnis dessen. Man mag streiten, ob das ein gelungenes Ergebnis ist, aber meine Hinführung zur marxistischen Philosophie begann mit Roberts Buch zur Einführung in dieselbe. Gelernt haben wir von ihm: Wenn wir die wissenschaftliche Weltanschauung anschaulich und verständlich machen wollen, geht es nicht darum, die Worte der alten Bücher zu wiederholen. Es geht darum, die Begriffe der Klassiker in Worte zu fassen, die am Infostand und im Pausenraum verstanden werden.

Theoretiker der Praxis und Praktiker der Theorie war Robert in seiner programmatischen Arbeit für KPD und DKP. Die Überlegungen zur antimonopolistischen Strategie, zur antimonopolistischen Demokratie sind eine große programmatische und strategische Leistung. Diese Überlegungen greifen die praktische Erfahrung auf, die die Arbeiterklasse in den Revolutionen des letzten Jahrhunderts gemacht hat, und sie machen das Wissen von den Widersprüchen des Monopolkapitalismus zur Richtschnur unserer täglichen Arbeit. Robert hat über Jahrzehnte die programmatischen Schriften unserer Partei geprägt – diese Partei hat ihm unendlich viel zu verdanken.

Die kommunistische Partei ist ein Werkzeug, um die Welt zu erkennen und sie zu verändern. Die Partei ist der Ort, an dem die alltäglichen Erfahrungen verallgemeinert und eine Strategie und Taktik für die Veränderung der Welt im Interesse der Klasse und damit der Menscheit erarbeitet wird. Eine solche Partei braucht Menschen wie Robert, und Robert brauchte diese Partei.

Für das Verhältnis von Partei und Klasse finden wir bei den Klassikern unterschiedliche Formulierungen: „Hineintragen von Klassenbewusstsein“ ist eine, „Sozialismus und Arbeiterbewegung verbinden“ eine andere Formulierung für dieselbe Sache. Robert – der aus einer Arbeiterfamilie stammt, der an der Frankfurter Universität, der Parteihochschule der SED und im Gefängnis Adenauers studierte – war ein Beispiel dafür, wie die Kombination von Proletariat und wissenschaftlicher Weltanschauung zur Herausbildung einer allseitig entwickelten Persönlichkeit beitragen kann. Er hat das Wesen der marxistisch-leninistischen Weltanschauung verkörpert.


Robert Steigerwald Kurzbiographie

Foto: junge Welt
Robert Steigerwald (24. März 1925 – 30. Juni 2016) wurde in Frankfurt am Main geboren und wuchs in einer kommunistischen Arbeiterfamilie auf. Nach dem Abitur wurde er zur faschistischen Wehrmacht eingezogen und zum Piloten ausgebildet. Nach kurzem Kriegseinsatz ging er freiwillig in US-amerikanische Gefangenschaft, aus der im Mai 1945 floh und nach Frankfurt zurückkehrte. Ein sozialdemokratischer Onkel erklärte ihm, was der Unterschied zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten sei: Beide hätten dasselbe Ziel, die Sozialdemokraten wollten es auf demokratischem, die Kommunisten auf diktatorischem Weg erreichen.

Steigerwald trat in die SPD ein, gründete deren Jugendverband „Die Falken“ mit und wurde in den Vorstand der „Falken“ für die Westzonen berufen. Ihm stand eine Parteikarriere in der SPD offen. Er begann, sich mit marxistischer Theorie zu befassen, „ich habe die Theorie aufgesaugt“, sagte er 2015 im Gespräch mit der DKP-Zeitung „Unsere Zeit“. Steigerwald geriet in Widerspruch zur Politik der SPD. 1947 suchte er das Gespräch mit Kurt Schumacher und fragte ihn, auf welcher Seite die SPD stehen würde, wenn es – wie damals zu befürchten war – zum Krieg zwischen Westmächten und Sowjetunion kommen würde. Schumacher antwortete: Auf der Seite des Labour-regierten Englands.

Steigerwald verließt die SPD und trat 1948 in die KPD ein. Der Hessische Rundfunk, bei dem Steigerwald als Jugendredakteur tätig war, entließ ihn daraufhin. Steigerwald hatte bereits während seiner Arbeit beim Radio Geschichte und Philosophie studiert. Die Jahre 1949 und 1950 verbrachte er an der Parteihochschule „Karl Marx“ der SED in Kleinmachnow, anschließend lehrte er dort ein halbes Jahr lang Philosophie.

1951 kehrte er in die Bundesrepublik zurück und beteiligte sich am Widerstand gegen die Remilitarisierung und Bildung der Bundeswehr. Weil er die von der AdenauerRegierung verbotene Volksbefragung über die Wiederbewaffnung mit organisierte, wurde er 1953 zum ersten Mal verhaftet. 1956 verurteilte ihn der Bundesgerichtshof zu dreieinhalb Jahren Haft als „Rädelsführer“ in einer „staatsgefährdenden Organisation“. Insgesamt saß Steigerwald wegen seiner politischen Tätigkeit als Kommunist fünf Jahre in Straf- und Untersuchungshaft.

In der Haft ließ er sich zum Schriftsetzer ausbilden und nutzte die Zeit zum weiteren Studium des Marxismus-Leninismus. 1951 hatte die Bundesregierung den Antrag gestellt die KPD zu verbieten. Es dauerte bis 1956, bis das Bundesverfassungsgericht das Verbotsurteil fällte, das die Grundlage für die erneute Verfolgung der Kommunisten werden sollte. Steigerwald war der letzte noch Lebende, der an diesem Prozess beteiligt war: Er arbeitete in der Arbeitsgruppe des Parteivorstandes der KPD mit, die die juristische Verteidigung koordinierte und gegen Begründung des Verbots argumentierte.

Dass seine Partei nun verboten war hielt Steigerwald nicht davon ab, nach der Haftentlassung die Arbeit wieder aufzunehmen. Er leitete die Abteilung Theorie und Marxistische Bildung beim Vorstand der illegalen Partei. 1963 beteiligte er sich daran, die legale Zeitschrift „Marxistische Blätter“ zu gründen. Später wurde er ihr Chefredakteur und blieb bis zu seinem Tod Mitherausgeber.

Für die wissenschaftliche Arbeit fand er in der DDR, frei von der Verfolgung der Adenauer-Behörden, die besseren Bedingungen vor – 1968 wurde er in der DDR bei Manfred Buhr mit der Arbeit „Herbert Marcuses dritter Weg“ promoviert (1978 Promotion B zum Dr. sc.). In dieser Schrift kritisiert er die Theorie des zur „Frankfurter Schule“ gehörenden Philosophen Herbert Marcuse, der damals großen Einfluss in der Studentenbewegung hatte. Die Schrift hatte insofern praktisch-politische Bedeutung, als die auch dazu diente, das Verhältnis der Marxisten zu der Ideologie der „antiautoritären“ Studentenbewegung zu bestimmen.

In den 70er und 80er Jahren trat Steigerwald an vielen Universitäten auf – oft auf Einladung des MSB Spartakus –, er diskutierte und stritt mit „antiautoritären“ Studierenden, vertrat marxistische Positionen und suchte gleichzeitig Gemeinsamkeiten zwischen Kommunisten und Studentenbewegung.  Steigerwald setzt sich umfassend mit Marcuses Dialektikverständnis auseinander – insbesondere anhand Marcuses Schriften über Georg Friedrich Wilhelm Hegel, so dass die Schrift über den unmittelbaren Gegenstand hinaus ein Beitrag zur marxistischen Philosophie und zur Auseinandersetzung mit und Einordnung der Frankfurter Schule ist.

Steigerwald forschte auf dem Gebiet der marxistischen Philosophie, gleichzeitig arbeitete er dafür, den Marxismus zu verbreiten und besonders für Jugendliche aus der Arbeiterklasse verständlich zu machen. In den späten 1960er Jahren wurde er Vorsitzender des Zusammenschlusses der marxistischen Arbeiterbildungsvereine (MAB). Er war lange Vorsitzender, zuletzt Ehrenvorsitzender der Marx-Engels-Stiftung. Seine Einführung in die marxistische Philosophie, die unter verschiedenen Titeln, in mehreren Auflagen und Übersetzungen erschien, bietet einen anschaulichen Zugang zu Fragen der marxistischen Dialektik, Erkenntnistheorie und Geschichtsphilosophie.

1968, als sich das Klima in der Bundesrepublik veränderte, nutzten die Kommunisten die Möglichkeit, um trotz KPD-Verbot wieder eine legale kommunistische Partei zu bilden. Sie konstituierten sich neu als DKP. Steigerwald war daran beteiligt, von Anfang der 70er Jahre bis 1990 war er Mitglied des Parteivorstandes der DKP.

Neben der philosophischen Forschung und der Verbreitung des Marxismus war die Arbeit an der Programmatik der kommunistischen Partei ein Feld, auf dem Steigerwald jahrzehntelang tätig war. Vor allem arbeitete er den Gedanken aus, dass die Kommunisten dafür eintreten, alle gesellschaftlichen Kräfte zusammenzuschließen, deren Interessen im Widerspruch zu den größten Banken und Konzernen stehen – den Gedanken der Strategie des antimonopolistischen Bündnisses.

Die sogenannte Wende, das Ende der europäischen sozialistischen Staaten, sah Steigerwald als einen Rückschlag. Für den marxistischen Philosophen änderten sie nichts daran, dass die Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft zu ihrer Auflösung durch den Sozialismus drängen. In der Diktion der FAZ (12.2.1990) wurde er deshalb zu „eine[m] dieser alten Schlachtrösser“, die – „in ihrem verstockten Sinne ehrlich – gesagt [haben], was in der DDR vorgeht: ein konterrevolutionärer Prozess“.

Die Niederlage von 1989 brachte ihn nicht dazu, den Marxismus aufzugeben – aber dazu, die Grundfragen der marxistischen Philosophie erneut zu stellen. In seiner Arbeit „Abschied vom Materialismus“ verarbeitet er Erkenntnisse der modernen Physik und Neurowissenschaften, um den Marxismus auf die Höhe der Zeit zu bringen und dogmatische Verengungen zu überwinden. Solange es seine Gesundheit erlaubte, nahm er an der Arbeit der DKP teil, hielt Vorträge und forschte.

Ausgewählte Bibliographie

  • Materialistische Philosophie. Eine Einführung für junge Leute, verschiedene Auflagen.

  • Herbert Marcuses dritter Weg, Köln: Pahl-Rugenstein Verlag, 1969.

  • (mit Willi Gerns): Probleme der Strategie des antimonopolistischen Kampfes, Frankfurt a.M.: Verlag

  • Marxistische Blätter, 1973. Marxismuskritik heute. Probleme – Widersprüche – Widerlegungen, Frankfurt a.M.: Verlag Marxistische Blätter, 1986.

  • Sind wir Sklaven der Natur? Die Inanspruchnahme der Biologie durch den Konservatismus, Düsseldorf: Edition Marxistische Blätter, 1988.

  • Abschied vom Materialismus? Zur Antikritik heutiger Materialismuskritik, 2. überarb. Aufl., Schkeuditz: GNN, 1999.

  • Das Haus im Sandweg. Eine sozialistische Familienchronik, Essen: Neue Impulse Verlag, 2008.

  • Mit Hegel, Marx und Lenin über Marx hinaus (= Robert Steigerwald: Vermischte Schriften, Bd. 5), Berlin: Kulturmaschinen, 2013.

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