Robert Steigerwald ist tot. Er war der Lehrer
von drei Generationen deutscher Kommunistinnen und Kommunisten. Die DKP trauert
um einen Wissenschaftler, Lehrer, Revolutionär
Der
kommunistische Philosoph Robert Steigerwald ist tot. Der 91jährige starb am
Donnerstag, dem 30. Juni 2016, gegen 16.00 Uhr im Kreis der Familie zu Hause in
Eschborn. Er hinterlässt seine Frau Annemarie Steigerwald, zwei Kinder, sieben
Enkel- und zehn Urenkelkinder. Steigerwald war Mitglied der Deutschen
Kommunistischen Partei (DKP), seit sich die Kommunisten 1968 nach dem Verbot
der KPD erneut als legale Partei konstituierten.
Die DKP
trauert um ein Mitglied, das die Programmatik der DKP geprägt hat. Der
DKP-Vorsitzende Patrik Köbele: „Robert Steigerwald wurde zum Wissenschaftler,
weil er gegen Faschismus und Krieg kämpfte, und er kämpfte in der
kommunistischen Partei für den Sozialismus, weil er unsere Gesellschaft und die
herrschende Ideologie studiert hatte.“
Robert
Steigerwald war 1945 nach kurzer Kriegsgefangenschaft in die SPD eingetreten,
die er bald wieder verließ, um sich 1948 der KPD anzuschließen. Als
Bundeskanzler Adenauer die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik durchsetzen
wollte, widersetzten sich die Kommunisten. Die Regierung ließ die KPD
verbieten, Steigerwald saß fünf Jahre im Gefängnis. Im Prozess, der mit dem
Verbot der KPD endete, gehörte Steigerwald zu der Arbeitsgruppe, die die
Prozessvertretung der KPD koordinierte.
Als Philosoph arbeitete Steigerwald zur marxistischen Dialektik und Kritik verschiedener Strömungen der herrschenden Ideologie (z.B. „Herbert Marcuses dritter Weg“, 1969), zur Verarbeitung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse durch den Marxismus (z.B. „Abschied vom Materialismus?“, 1994), er verbreitete und vermittelte die marxistische Philosophie (z.B. „Materialistische Philosophie. Eine Einführung für junge Leute“).
Als Marxisten und Leninisten kam es für ihn darauf an, die Welt zu interpretieren, um sie zu verändern – im Parteivorstand der von den Behörden verfolgten KPD und im Parteivorstand der DKP trug er dazu bei, die Politik der Partei zu entwickeln. Die FAZ sah ihn als „verstocktes Schlachtross“, weil er auch nach der sogenannten Wende bei der philosophischen Überzeugung blieb, dass die Widersprüche des Kapitalismus dazu drängen, durch den Sozialismus gelöst zu werden.
Pressemitteilung des DKP-Parteivorstandes, 1. Juli 2016
Theoretiker der Praxis, Praktiker der Theorie
Nachruf auf Robert Steigerwald
Von Patrik Köbele, Vorsitzender der DKP
Steigerwald Gerns Mies |
Der
Marxismus-Leninismus ist eine Wissenschaft. Eine Wissenschaft, die den
arbeitenden Menschen in den Mittelpunkt stellt und in der Arbeiterklasse die
Kraft sieht, die eine neue Welt aufbauen kann. Eine Wissenschaft, die die Welt
interpretiert, um sie zu verändern – um alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen
der Mensch ein erniedrigtes Wesen ist und eine Gesellschaft der Solidarität,
eine sozialistische Gesellschaft, zu schaffen.
Robert
Steigerwald hat das Wesen der marxistisch-leninistischen Weltanschauung in
seinem Werk als Philosoph, in seinem Leben als Kommunist und Mitglied unserer
Partei und in seiner Haltung als Kämpfer und Freund, Lehrer und Genosse
verkörpert.
Robert
Steigerwald wurde zum Wissenschaftler, weil er gegen Faschismus und Krieg
kämpfte, und er kämpfte in der kommunistischen Partei für den Sozialismus, weil
er unsere Gesellschaft und die herrschende Ideologie studiert hatte. Das hieß:
Er war im eigentlichen Sinne ein kommunistischer Intellektueller – ein
Theoretiker der Praxis, ein Praktiker der Theorie.
Theoretiker
der Praxis, Praktiker der Theorie – das war er, als er seine Forschungen zum
Frankfurter Schüler Herbert Marcuse und zu dessen Hegel-Verständnis damit
verband, auf philosophischer Ebene unser Verhältnis zur antiautoritären Studentenbewegung
zu untersuchen, deren Theoretiker Marcuse war. Robert bekämpfte Marcuses
falsche Auffassungen, um den Marxismus in der Studentenbewegung zu verbreiten,
und er suchte auch in der Philosophie nach Anknüpfungspunkten, nach
Gemeinsamkeiten, die zu Gemeinsamkeiten auf der Straße werden könnten.
Er war es
als Lehrer der Arbeiterbewegung, der unsere wissenschaftliche Weltanschauung
vermittelt, weitergegeben, gemeinsam mit uns erarbeitet hat. Ich selbst bin ein
Ergebnis dessen. Man mag streiten, ob das ein gelungenes Ergebnis ist, aber
meine Hinführung zur marxistischen Philosophie begann mit Roberts Buch zur
Einführung in dieselbe. Gelernt haben wir von ihm: Wenn wir die
wissenschaftliche Weltanschauung anschaulich und verständlich machen wollen,
geht es nicht darum, die Worte der alten Bücher zu wiederholen. Es geht darum,
die Begriffe der Klassiker in Worte zu fassen, die am Infostand und im
Pausenraum verstanden werden.
Theoretiker
der Praxis und Praktiker der Theorie war Robert in seiner programmatischen
Arbeit für KPD und DKP. Die Überlegungen zur antimonopolistischen Strategie,
zur antimonopolistischen Demokratie sind eine große programmatische und
strategische Leistung. Diese Überlegungen greifen die praktische Erfahrung auf,
die die Arbeiterklasse in den Revolutionen des letzten Jahrhunderts gemacht
hat, und sie machen das Wissen von den Widersprüchen des Monopolkapitalismus
zur Richtschnur unserer täglichen Arbeit. Robert hat über Jahrzehnte die
programmatischen Schriften unserer Partei geprägt – diese Partei hat ihm
unendlich viel zu verdanken.
Die
kommunistische Partei ist ein Werkzeug, um die Welt zu erkennen und sie zu
verändern. Die Partei ist der Ort, an dem die alltäglichen Erfahrungen
verallgemeinert und eine Strategie und Taktik für die Veränderung der Welt im
Interesse der Klasse und damit der Menscheit erarbeitet wird. Eine solche
Partei braucht Menschen wie Robert, und Robert brauchte diese Partei.
Für das
Verhältnis von Partei und Klasse finden wir bei den Klassikern unterschiedliche
Formulierungen: „Hineintragen von Klassenbewusstsein“ ist eine, „Sozialismus
und Arbeiterbewegung verbinden“ eine andere Formulierung für dieselbe Sache.
Robert – der aus einer Arbeiterfamilie stammt, der an der Frankfurter
Universität, der Parteihochschule der SED und im Gefängnis Adenauers studierte
– war ein Beispiel dafür, wie die Kombination von Proletariat und
wissenschaftlicher Weltanschauung zur Herausbildung einer allseitig
entwickelten Persönlichkeit beitragen kann. Er hat das Wesen der marxistisch-leninistischen
Weltanschauung verkörpert.
Robert Steigerwald Kurzbiographie
Foto: junge Welt |
Steigerwald
trat in die SPD ein, gründete deren Jugendverband „Die Falken“ mit und wurde in
den Vorstand der „Falken“ für die Westzonen berufen. Ihm stand eine
Parteikarriere in der SPD offen. Er begann, sich mit marxistischer Theorie zu
befassen, „ich habe die Theorie aufgesaugt“, sagte er 2015 im Gespräch mit der
DKP-Zeitung „Unsere Zeit“. Steigerwald geriet in Widerspruch zur Politik der
SPD. 1947 suchte er das Gespräch mit Kurt Schumacher und fragte ihn, auf
welcher Seite die SPD stehen würde, wenn es – wie damals zu befürchten war –
zum Krieg zwischen Westmächten und Sowjetunion kommen würde. Schumacher
antwortete: Auf der Seite des Labour-regierten Englands.
Steigerwald
verließt die SPD und trat 1948 in die KPD ein. Der Hessische Rundfunk, bei dem
Steigerwald als Jugendredakteur tätig war, entließ ihn daraufhin. Steigerwald
hatte bereits während seiner Arbeit beim Radio Geschichte und Philosophie studiert.
Die Jahre 1949 und 1950 verbrachte er an der Parteihochschule „Karl Marx“ der
SED in Kleinmachnow, anschließend lehrte er dort ein halbes Jahr lang
Philosophie.
1951
kehrte er in die Bundesrepublik zurück und beteiligte sich am Widerstand gegen
die Remilitarisierung und Bildung der Bundeswehr. Weil er die von der
AdenauerRegierung verbotene Volksbefragung über die Wiederbewaffnung mit
organisierte, wurde er 1953 zum ersten Mal verhaftet. 1956 verurteilte ihn der
Bundesgerichtshof zu dreieinhalb Jahren Haft als „Rädelsführer“ in einer
„staatsgefährdenden Organisation“. Insgesamt saß Steigerwald wegen seiner
politischen Tätigkeit als Kommunist fünf Jahre in Straf- und Untersuchungshaft.
In der
Haft ließ er sich zum Schriftsetzer ausbilden und nutzte die Zeit zum weiteren
Studium des Marxismus-Leninismus. 1951 hatte die Bundesregierung den Antrag
gestellt die KPD zu verbieten. Es dauerte bis 1956, bis das
Bundesverfassungsgericht das Verbotsurteil fällte, das die Grundlage für die
erneute Verfolgung der Kommunisten werden sollte. Steigerwald war der letzte
noch Lebende, der an diesem Prozess beteiligt war: Er arbeitete in der
Arbeitsgruppe des Parteivorstandes der KPD mit, die die juristische
Verteidigung koordinierte und gegen Begründung des Verbots argumentierte.
Dass
seine Partei nun verboten war hielt Steigerwald nicht davon ab, nach der
Haftentlassung die Arbeit wieder aufzunehmen. Er leitete die Abteilung Theorie
und Marxistische Bildung beim Vorstand der illegalen Partei. 1963 beteiligte er
sich daran, die legale Zeitschrift „Marxistische Blätter“ zu gründen. Später
wurde er ihr Chefredakteur und blieb bis zu seinem Tod Mitherausgeber.
Für die
wissenschaftliche Arbeit fand er in der DDR, frei von der Verfolgung der
Adenauer-Behörden, die besseren Bedingungen vor – 1968 wurde er in der DDR bei
Manfred Buhr mit der Arbeit „Herbert Marcuses dritter Weg“ promoviert (1978
Promotion B zum Dr. sc.). In dieser Schrift kritisiert er die Theorie des zur
„Frankfurter Schule“ gehörenden Philosophen Herbert Marcuse, der damals großen
Einfluss in der Studentenbewegung hatte. Die Schrift hatte insofern
praktisch-politische Bedeutung, als die auch dazu diente, das Verhältnis der
Marxisten zu der Ideologie der „antiautoritären“ Studentenbewegung zu
bestimmen.
In den
70er und 80er Jahren trat Steigerwald an vielen Universitäten auf – oft auf
Einladung des MSB Spartakus –, er diskutierte und stritt mit „antiautoritären“
Studierenden, vertrat marxistische Positionen und suchte gleichzeitig
Gemeinsamkeiten zwischen Kommunisten und Studentenbewegung. Steigerwald setzt sich umfassend mit Marcuses
Dialektikverständnis auseinander – insbesondere anhand Marcuses Schriften über
Georg Friedrich Wilhelm Hegel, so dass die Schrift über den unmittelbaren
Gegenstand hinaus ein Beitrag zur marxistischen Philosophie und zur
Auseinandersetzung mit und Einordnung der Frankfurter Schule ist.
Steigerwald
forschte auf dem Gebiet der marxistischen Philosophie, gleichzeitig arbeitete
er dafür, den Marxismus zu verbreiten und besonders für Jugendliche aus der
Arbeiterklasse verständlich zu machen. In den späten 1960er Jahren wurde er
Vorsitzender des Zusammenschlusses der marxistischen Arbeiterbildungsvereine
(MAB). Er war lange Vorsitzender, zuletzt Ehrenvorsitzender der Marx-Engels-Stiftung.
Seine Einführung in die marxistische Philosophie, die unter verschiedenen
Titeln, in mehreren Auflagen und Übersetzungen erschien, bietet einen
anschaulichen Zugang zu Fragen der marxistischen Dialektik, Erkenntnistheorie
und Geschichtsphilosophie.
1968, als
sich das Klima in der Bundesrepublik veränderte, nutzten die Kommunisten die
Möglichkeit, um trotz KPD-Verbot wieder eine legale kommunistische Partei zu
bilden. Sie konstituierten sich neu als DKP. Steigerwald war daran beteiligt,
von Anfang der 70er Jahre bis 1990 war er Mitglied des Parteivorstandes der
DKP.
Neben der
philosophischen Forschung und der Verbreitung des Marxismus war die Arbeit an
der Programmatik der kommunistischen Partei ein Feld, auf dem Steigerwald
jahrzehntelang tätig war. Vor allem arbeitete er den Gedanken aus, dass die
Kommunisten dafür eintreten, alle gesellschaftlichen Kräfte
zusammenzuschließen, deren Interessen im Widerspruch zu den größten Banken und
Konzernen stehen – den Gedanken der Strategie des antimonopolistischen
Bündnisses.
Die
sogenannte Wende, das Ende der europäischen sozialistischen Staaten, sah
Steigerwald als einen Rückschlag. Für den marxistischen Philosophen änderten
sie nichts daran, dass die Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft zu
ihrer Auflösung durch den Sozialismus drängen. In der Diktion der FAZ
(12.2.1990) wurde er deshalb zu „eine[m] dieser alten Schlachtrösser“, die –
„in ihrem verstockten Sinne ehrlich – gesagt [haben], was in der DDR vorgeht:
ein konterrevolutionärer Prozess“.
Die Niederlage
von 1989 brachte ihn nicht dazu, den Marxismus aufzugeben – aber dazu, die
Grundfragen der marxistischen Philosophie erneut zu stellen. In seiner Arbeit
„Abschied vom Materialismus“ verarbeitet er Erkenntnisse der modernen Physik
und Neurowissenschaften, um den Marxismus auf die Höhe der Zeit zu bringen und
dogmatische Verengungen zu überwinden. Solange es seine Gesundheit erlaubte,
nahm er an der Arbeit der DKP teil, hielt Vorträge und forschte.
Ausgewählte Bibliographie
- Materialistische Philosophie. Eine Einführung für junge Leute, verschiedene Auflagen.
- Herbert Marcuses dritter Weg, Köln: Pahl-Rugenstein Verlag, 1969.
- Marxistische Blätter, 1973. Marxismuskritik heute. Probleme – Widersprüche – Widerlegungen, Frankfurt a.M.: Verlag Marxistische Blätter, 1986.
- Sind wir Sklaven der Natur? Die Inanspruchnahme der Biologie durch den Konservatismus, Düsseldorf: Edition Marxistische Blätter, 1988.
- Abschied vom Materialismus? Zur Antikritik heutiger Materialismuskritik, 2. überarb. Aufl., Schkeuditz: GNN, 1999.
- Das Haus im Sandweg. Eine sozialistische Familienchronik, Essen: Neue Impulse Verlag, 2008.
- Mit Hegel, Marx und Lenin über Marx hinaus (= Robert Steigerwald: Vermischte Schriften, Bd. 5), Berlin: Kulturmaschinen, 2013.
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