Montag, 7. Oktober 2019

70 Jahre DDR: Am Menschen orientiert


Wir sind es leid! 

Die Propaganda-Lügen der Herrschenden machen wir nicht mit, denn wir wissen wofür sie diese brauchen: Sie sollen den Menschen, die immer mehr begreifen, dass dieses kapitalistische System ihnen die Zukunft raubt, den Blick auf die wirkliche Alternative nehmen – auf den Sozialismus.

Wir halten es (nicht nur) am 70. Jahrestag der DDR mit dem deutschen Dramatiker, Lyriker, Erzähler und Essayist Peter-Hacks und rufen laut aus: "Wessen sollten wir uns rühmen, wenn nicht der DDR?"

Staatlich verordnete Armut durch Agenda 2010, kaum bezahlbarer Wohnraum, monatelanges Warten auf einen Facharzttermin, zu wenig Möglichkeiten wohnortnaher, qualifizierter Kinderbetreuung, fehlende Ausbildungsplätze und BAföG-Anträge, die schon durch ihren schieren Umfang dafür sorgen, dass weniger Anträge gestellt werden, als es Berechtigte gäbe – von diesen Bedingungen ist der Alltag der Menschen in Deutschland geprägt.

Das Leben der Menschen in der BRD ist – wie alles – dem Profit untergeordnet. Warum für einen KiTa-Platz um die Ecke sorgen, wenn die Berufstätige auch trotz eines Wegs von einer halben Stunde pünktlich bei der Arbeit erscheint oder Mütter mit Teilzeitjobs, Kindern und Haushalt jonglieren können? Warum vernünftige Verkehrskonzepte planen, wenn man auch durch den Berufsverkehr zur Arbeit kommt?

Wie kann das Leben, der Alltag, aussehen, wenn nicht der Profit, sondern die Bedürfnisse der Menschen im Vordergrund stehen?

In der DDR waren 92 Prozent der Frauen erwerbstätig. Sie konnten es sein, weil es betriebliche Kinderbetreuung gab, Wäschereien, in denen auf dem Weg zur Arbeit die Wäsche abgegeben werden konnte und, falls alle Stricke rissen, auch mal einen „Haushaltstag“ frei genommen werden konnte – ohne damit den Jahresurlaub zu verkürzen. In einem einheitlichen Bildungswesen lernten Kinder von der Krippe bis zur Berufsausbildung und dem Studium, die Erziehung der Kinder war gesellschaftliche Aufgabe, nicht privates Problem.

Mehr als nur Arbeit: Junge Facharbeiterin (Foto: UZ-Archiv)
Die in der BRD oft verlachten Plattenbauten lösten nicht nur die dringenden Probleme des Wohnraums, sondern folgten einem Konzept, das die Siedlungen (anders als Hochhaus-Ghettos im Westen) zu tatsächlichen Lebensräumen machten. Zentral dabei war, dass es in Plattenbaubezirken Sozialeinrichtungen wie Kindergärten, Jugendclubs, die HO-Gaststätte und Einkaufsmöglichkeiten gab – für die Bewohner zu Fuß bequem erreichbar.

Kulturelle Teilhabe – in der heutigen BRD für viele nicht mehr zu bezahlen – war wesentliches Merkmal des Alltagslebens in der DDR. Staatlich subventionierte Bücher, Theater und Opernhäuser gehörten dazu genauso wie Kulturhäuser in Wohnbezirken, Betriebssportvereine und die „Woche des Buches“.

Mehr-Klassen-Medizin, in der der eine sofort dran kommt und der andere Monate wartet, gab es in der DDR nicht. Mit einem System von Polikliniken, in denen die unterschiedlichen Ärzte und Fachärzte gebündelt waren, stand der Bevölkerung medizinische Versorgung verschiedener Fachrichtung zur ambulanten Behandlung zur Verfügung.


Friedensmacht

Vor 70 Jahren wurde die DDR gegründet

Militärtransporte quer durch die Republik, um NATO-Manöver an der Grenze zu Russland durchführen zu können? Kündigung des INF-Vertrages durch die USA, Krieg in Europa? Seit 1990 fehlt es an einer militärischen Gegenmacht, die dem Imperialismus seine Grenzen aufzeigt. Die DDR war eine solche Gegenmacht. Sie war ein bewaffneter Friedensstaat.

Drei Autoren – Dieter W. Feuerstein, Uli Brockmeyer und Arnold Schölzel – schreiben über ihre Sicht auf und ihre Tätigkeit für die DDR.

Militärische Gegenmacht

Die DDR hat Krieg verhindert. Ihr Erbe ist für die Friedensbewegung enorm wichtig

Von Arnold Schölzel*

Am 9. November 2014 waren die deutschen Großmedien und die etablierten Parteien der alten Bundesrepublik vollauf damit beschäftigt, das, was sie „Mauerfall“ nennen, was aber eine Grenzöffnung war, zu feiern. An diesem 25. Jahrestag stellten junge Leute auf dem Berliner Alexanderplatz ein Transparent auf, das fast über den halben Platz reichte. Auf ihm war zu lesen: „Diese Grenze wurde aufgehoben, damit wir gemeinsam wieder in den Krieg ziehen.“

Die Initiatoren fanden Vergnügen an der Aktion, gründeten den Verein „Unentdecktes Land“ und stellten das Transparent am 3. Oktober 2015 und am 13. August 2016 erneut in Berlin auf.

Knapper als in diesem Satz lässt sich kaum zusammenfassen, was die DDR in der deutschen Geschichte bedeutete. Ich halte seine Propagierung für eine der besten Aktionen für Frieden in den vergangenen Jahren.

Er gibt eine konkrete Erfahrung wieder: Ein sozialistischer Staat benötigt keinen Krieg, ist aber vom ersten Tag seiner Existenz an dazu gezwungen, sich bewaffnet zu verteidigen, Grenzen zu ziehen. Eine kapitalistische Umgebung bedeutet Konterrevolution und Krieg.

Das war die Erfahrung der Sowjetunion. Armeegeneral Heinz Keßler (1920–2017), von 1985 bis 1989 DDR-Verteidigungsminister, erinnerte 2016 daran, dass diese Lehre schon vor dem Sieg über den Faschismus für ein künftiges Deutschland gezogen wurde: „In meiner Diskussionsrede auf der Gründungskonferenz des Nationalkomitees ‚Freies Deutschland’ (NKFD) in Krasnogorsk am 12./13. Juli 1943 habe ich leidenschaftlich vor allem im Interesse der deutschen Jugend appelliert: ‚Wir wollen ein Deutschland, wo die Voraussetzung geschaffen ist, dass es nie wieder einen solchen Krieg gibt.’“

Bei Planung und Bau neuer Siedlungen... (Foto UZ-Archiv)
Dieses Zitat stammt aus einer Broschüre mit dem Titel „Soldaten für den Frieden“, die mich ähnlich wie „Unentdecktes Land“ beeindruckt hat. Das Heft wurde 2017 von der „Initiativgemeinschaft zum Schutz der sozialen Rechte ehemaliger Angehöriger der bewaffneten Organe und der Zollverwaltung der DDR e. V.“ (ISOR) und dem „Verband zur Pflege der Traditionen der Nationalen Volksarmee und der Grenztruppen der DDR“ herausgegeben. Es enthält den titelgebenden Appell führender DDR-Militärs und lesenswerte Beiträge, in denen sie begründen, was sie zu dessen Unterzeichnung bewogen hat.

In dem 2015 zum 70. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus zuerst veröffentlichten Appell heißt es, dass „das Kriegsgeschehen wiederum Europa erreicht hat“. Die Strategie der USA ziele offensichtlich darauf ab, „Russland als Konkurrenten auszuschalten und die Europäische Union zu schwächen“. Die NATO sei immer näher an die Grenzen Russlands herangerückt und mit dem „Versuch, die Ukraine in die EU und in die NATO aufzunehmen, sollte der Cordon sanitaire von den baltischen Staaten bis zum Schwarzen Meer geschlossen werden, um Russland vom restlichen Europa zu isolieren“. Zusammenfassend heißt es: „Die forcierte Militarisierung Osteuropas ist kein Spiel mit dem Feuer – es ist ein Spiel mit dem Krieg!“ Gewarnt wird, hier beginne bereits „ein Verbrechen an der Menschheit“.

Es ist kein Zufall, dass dies von DDR-Militärs ausgeht. Das Wissen um die Folgen eines Krieges im dichtbesiedelten Europa hat mit zur Gründung der DDR beigetragen und ihre Militärpolitik geprägt. Es war das Wissen nicht nur von Kommunisten, sondern auch von bürgerlichen Politikern und von ehemaligen Wehrmachtsmilitärs, die über das NKFD an die Seite der KPD und der SED gelangten. Keßler beschrieb die Lage nach 1945 in Europa so: „Der Pulverdampf war noch nicht verzogen, da begann man im Westen des Landes im engen Zusammenwirken mit den USA mit der Wiederaufrüstung der BRD. Das konnten und durften wir nicht ohne entsprechende Gegenmaßnahmen zulassen.“

Vor allem aber: Immer wieder drängten politische und militärische Führung der BRD darauf, den Kalten Krieg in einen heißen umschlagen zu lassen. Hier sei ein Beispiel aus dem August 1960 angeführt. Damals war ein Papier bekannt geworden, in dem Generale der Bundeswehr deren Atombewaffnung forderten. Inhalt und Ton führten zu heftigen Reaktionen auch im westlichen Ausland. Im Text hieß es: „Der Bolschewismus respektiert nur die Macht, sonst nichts (…). Die Bundeswehr kann weder auf die allgemeine Wehrpflicht noch auf die Zugehörigkeit zur NATO, noch auf eine atomare Bewaffnung verzichten. Wenn die Bundeswehr diese militärischen Forderungen stellt, greift sie nicht in die Parteipolitik ein (…). Es ist aber Aufgabe der Bundeswehr, der politischen Führung rechtzeitig und klar zu sagen, welche Mittel sie zur Erfüllung ihres Auftrages braucht und was sie mit den ihr bewilligten Mitteln leisten kann.“

Diese Strategen waren unbelehrbar, wie ich 1967 als Angehöriger der Bundeswehr selbst erfahren konnte, und ihre heutigen Nachfolger, die zum Beispiel öffentlich von einem neuen Krieg wie im Kosovo träumen, sind es auch. Sie respektieren nur militärische Gegenmacht. Die fehlt in der Mitte Europas seit 1990. Wenn heute die Aktivisten von „Unentdecktes Land“ oder erfahrene Militärs ihre Stimme gegen Krieg und Kriegsvorbereitung erheben, dann hat das zwingend mit dem DDR-Erbe zu tun. Seine Pflege und Verbreitung ist aus meiner Sicht für die deutsche Friedensbewegung insgesamt enorm wichtig.

*Arnold Schölzel (Jahrgang 1947) desertierte 1967 aus der Bundeswehr, um dem Wehrdienst zu entgehen und siedelte in die DDR über. Er arbeitete zunächst als Hilfsarbeiter, studierte Philosophie an der Humboldt-Universität Berlin und promovierte 1982.
Schölzel war von 2000 bis Ende Juli 2016 Chefredakteur und bis Ende März 2019 stellvertretender Chefredakteur der Tageszeitung „junge Welt“. Er ist seit dem 1. April 2019 Chefredakteur der Monatsschrift „RotFuchs“


„Wir müssen den Gegner zum Frieden zwingen“

Warum DDR-Spione „Kundschafter für den Frieden“ waren

Von Dieter W. Feuerstein*

...standen soziale Einrichtungen im Mittelpunkt. (Foto: UZ-Archiv)
„Wie konntest du nur für ein solches Regime arbeiten?“ Ja, in der Tat, da gab es schon einiges an kulturellen und gesellschaftlichen Unterschieden zum anderen Teil Deutschlands. Nicht wenigen erschien das Leben im Westen besser, oder zumindest einfacher. Darüber, dass dort das „Einfacher“ direkt zusammen hing mit der Höhe des verfügbaren Kontostands, war vielen nicht wirklich bewusst. Wo sollten diese Erfahrungen auch herkommen? Waren die elementaren Bedürfnisse doch erfüllt. Angst vor Hunger, Obdachlosigkeit, sozialem Abseits durch Arbeitslosigkeit und weiterer „Errungenschaften“ einer auf privaten Profit ausgerichteten Gesellschaft brauchte in der DDR nun wirklich niemand zu haben.

Seien wir doch mal ehrlich zu uns selbst; in Sachen Agitation und Propaganda war die BRD der DDR immer überlegen. Wohl doch kein Zufall, dass montags um 21 Uhr regelmäßig attraktive Filme auf den Westkanälen liefen und Karl-Eduard von Schnitzler, der in seiner wöchentlichen Sendung „Der Schwarze Kanal“ mit Ausschnitten aus Westreportagen einen anderen Blick auf die BRD vermitteln wollte, mit Spott und Häme überzogen wurde.

Das macht die Sache – gerade „Wessis“ gegenüber – nicht einfacher mit der Antwort auf die eingangs gestellte Frage, die im Grunde weniger als Frage, denn als Vorwurf gemeint ist. Auch erlebte ich eine Zeit erheblicher Selbstzweifel, als immer mehr Glatzköpfe das Straßenbild im Osten prägten, die Ossis nicht den kleinen Finger rührten, als die Goldgräber aus dem wilden Westen sich ihr Volkseigentum unter den Nagel rissen, die Sozialsicherungen herausgeschraubt, Renten mit Strafen belegt, akademische Titel entzogen und die Menschen ihrer Lebensleistung beraubt wurden.

Sechs Tage nach der Vereinigung ging es für mich erst mal in den Knast. Nach Ende der Isolation war ich der – um ein Vielfaches gesteigerter – Propaganda hilflos ausgeliefert. Zuspruch gab es in dieser Zeit bestenfalls von Wärtern, die aus allen Teilen der DDR zur Umschulung in den Westen geschickt wurden, oder von jenen kleinkriminellen Mitgefangenen, die bereits entsprechende Einrichtungen in Jena oder Bautzen kannten und mir fast einvernehmlich versicherten, dass das Essen für Inhaftierte in Berlin-Hohenschönhausen viel besser schmecke als das in München-Stadelheim.

Auf den Boden der Realität brachten mich dann – nur drei Monate später – die politischen Realitäten. Seit den Tagen im Mai des Jahres 1945 kämpfte kein deutscher Soldat mehr in fremden Ländern. Und nun, im Januar 1991, stritten die Abgeordneten im Bundestag darüber, ob das Grundgesetz geändert oder neu interpretiert werden müsse. Was war geschehen? Eine Allianz westlicher Staaten bereitete einen Krieg gegen den Irak vor und das neue Großdeutschland wollte unbedingt dabei sein; noch verhalten zwar durch AWACS-Besatzung und Alpha-Jet-Staffel, aber immerhin: Der Einstieg war geschafft.

Plantschen direkt vor der Haustür  (Foto: UZ-Archiv)
Da taten die so oft gehörten Worte meines Führungsoffiziers und Referatsleiters der Hauptverwaltung Aufklärung, zu dessen Aufgabe es gehörte, die Quellen im Operationsgebiet bei Laune zu halten, ihre nachhaltige Wirkung. „Dieter, wir müssen den Gegner zum Frieden zwingen – von alleine ist er dazu nicht bereit.“

Jetzt, da die Geschichte ihre Wahrheit offenbart hatte, musste kein Gedanke mehr daran verschwendet werden, ob diese Worte Propagandafloskeln waren oder aus der psychologischen Trickkiste stammten. Neben der konsequenten Umsetzung der Erfahrungen des 2. Weltkriegs und der faschistischen Barbarei gehörte der absolute Friedenswille der DDR zu den entscheidenden Gründen, meinen persönlichen und beruflichen Werdegang in den Dienst der DDR zu stellen.

Als Offizier der DDR-Aufklärung gehört es sich nun mal, Befehlen Gehorsam zu schenken. Auch dann, wenn es einem gegen den Strich geht. In den 1980ern sollte ich innerhalb des größten westdeutschen Rüstungskonzerns eine neue Stelle antreten. Zum ersten Mal Personalverantwortung, ein eigenes Projekt und ein gewaltiger Verdienstzuwachs erwarteten mich. Der angedachte Aufgabenbereich war der Vorläufer des Abfangjägers „Eurofighter“ und nicht länger das mit Atombomben bestückte Angriffsflugzeug Tornado.

Die Entscheidung, dieses Angebot auszuschlagen, erfolgte – vermutlich in enger Abstimmung mit unseren Freunden in Moskau – einzig im Hinblick auf die Sicherheitsinteressen der Staaten des Warschauer Vertrags. Hätte auch nur ansatzweise die Absicht bestanden, den Westen zu überfallen, hätte ich den Auftrag erhalten, gegen die Westverteidigung vorzugehen. So aber blieb es dabei, im Rahmen meiner Möglichkeiten alles dafür zu tun, dass aus dem Waffensystem „Tornado“ ein fliegender Papiertiger wird.

Welche Gedanken und Absichten dahinter standen, ein ziviles Verkehrsflugzeug heimlich und unerkannt mit Spionagetechnik auszustatten, mag sich jeder selbst vorstellen. Dass es der DDR-Aufklärung gemeinsam gelang, dem Westen auch hier kräftig in die Suppe zu spucken, erfüllt mich bis heute mit Stolz. Zum nachrichtendienstlichen Handwerk gehört selbstverständlich das Prinzip „jeder erfährt nur das, was er zur Erfüllung seines Auftrags benötigt“. So kann ich nur vermuten, dass diese Aktion ausschlaggebend dafür war, mir den Leninorden, die höchste Auszeichnung der Sowjetunion, zu verleihen. Da war es mal wieder gelungen, eine militärische Provokation des Gegners bereits im Keim zu ersticken.
Auftrag erfüllt!

* Dieter W. Feuerstein (Jahrgang 1955) war an der Technischen Universität Westberlin tätig, arbeitete dann als Diplomingenieur bei Messerschmitt-Bölkow-Blohm, wo unter anderem Teile der Kampfflugzeuge „Tornado“ und „Eurofighter“ für NATO-Staaten gebaut wurden.
Er war von 1973 bis zum 3. Oktober 1990 Angehöriger der Hauptverwaltung Aufklärung des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, letzter Dienstgrad: Major. Seine Enttarnung und Festnahme erfolgte am 9. Oktober 1990. Feuerstein wurde zu acht Jahren Gefängnis verurteilt, seine Haftzeit dauerte dann vom 9. Oktober 1990 bis zum 7. Oktober 1994.


Indoktrination für den Frieden

Erinnerungen an den Friedensstaat DDR

Von Uli Brockmeyer*

Dieser Tage fiel mir eine alte, leicht vergilbte Fotografie in die Hände, aufgenommen vor rund 60 Jahren in meiner Heimatstadt Brandenburg, der damaligen Stahlarbeiterstadt an der Havel. Die Stadt liegt, wie seit über tausend Jahren, heute immer noch an der Havel, nur von den zeitweise rund zehntausend Stahlarbeitern ist nicht viel mehr als eine Erinnerung geblieben …

Auf dem Foto ist eine belebte Straßenecke im Zentrum der Stadt zu sehen, das damals noch von einigen Ruinen aus dem Zweiten Weltkrieg gezeichnet war. An einer Giebelwand ein großes Wandbild, das drei Jugendliche vor der Fahne der Freien Deutschen Jugend zeigt und dazu die Aufforderung: „Kämpft mit der Jugend für Frieden und Wohlstand!“

Zu jener Zeit hatte ich im Kindergarten des Volkseigenen Betriebes (VEB) Stahl- und Walzwerk das Lied von der kleinen weißen Friedenstaube gelernt, wie tausende andere Kinder in der jungen DDR in hunderten anderen Kindergärten:

„Kleine weiße Friedenstaube,
fliege übers Land.
Allen Menschen, groß‘ und kleinen,
bist Du wohlbekannt“.
In einer weiteren Strophe heißt es:
„Fliege übers große Wasser,
über Berg und Tal,
bringe allen Menschen Frieden,
grüß sie tausendmal“.

Indoktrination, sagen manche dazu. Man könnte sogar sagen, eine Anmaßung, so wenige Jahre nach dem Krieg, den Deutsche über die halbe Welt hereingebrochen hatten. Vielleicht war es eine Anmaßung – aber nicht weniger als eben das, den Wunsch nach Frieden auf der ganzen Welt, hatte sich der junge Staat DDR auf die Fahnen geschrieben.

Nachdem ich in der Heinrich-Heine-Schule endlich das ABC beherrschen gelernt hatte, konnte ich auch nach und nach erfassen, was dort im Foyer mit ehernen Buchstaben an der Wand zu lesen war: „Laßt das Licht des Friedens scheinen, daß nie eine Mutter mehr ihren Sohn beweint.“

Zeilen aus der Nationalhymne der DDR, geschrieben von dem deutschen Kommunisten Johannes R. Becher – Zeilen, verlacht und verspottet jenseits der Elbe damals als „Spalterhymne“; und verachtet, auch weil da von Frieden die Rede war.
Als Kinder standen wir im Mai oft an den Straßen, wenn die Friedensfahrt, die Internationale Radfernfahrt für den Frieden, die jeweils am 8. Mai, dem Tag der Befreiung, in Berlin, Prag oder in Warschau gestartet wurde, wieder einmal durch unsere Stadt kam. Wir fieberten den pfeilschnellen Fahrern entgegen, jubelten „Täve, Täve“, auf der Suche nach unserem Spitzenfahrer „Täve“ Schur, und freuten uns über den Anblick der Fahrer der jeweils besten Mannschaft, die blaue Trikots trugen mit dem Abbild der kleinen weißen Friedenstaube von Pablo Picasso.

Ja, es stimmt, die Verantwortlichen im Staat DDR gaben sich große Mühe, uns Kinder zu „indoktrinieren“. Aber nachdem zuvor jahrzehntelang Generationen von Kindern und Jugendlichen mit dem Gift der Verachtung gegenüber anderen Völkern, mit Rassenhass und Antikommunismus indoktriniert worden waren – wofür das deutsche Volk und fast alle Völker Europas die Rechnung zu zahlen hatten –, blieb denjenigen, die nun die Führung des neuen Staates übernommen hatten, keine Alternative, als uns von frühester Jugend an mit dem Gedanken des Friedens und der Freundschaft zu anderen Völkern vertraut zu machen.

Die DDR, der erste Staat auf deutschem Boden, in dem den Kriegstreibern durch die Enteignung der Produktionsmittel die wirtschaftliche und die politische Macht genommen worden war, sollte ein Staat des Friedens sein – eine Anmaßung, die uns die Enteigneten niemals verziehen haben.

Nicht genug damit. In der DDR wurde auch eine Armee aufgestellt, um den errungenen Frieden zu schützen, der, das ist belegt, durchaus auch militärisch bedroht war. Im Unterschied zur Armee der Bundesrepublik Deutschland wurde die Nationale Volksarmee der DDR jedoch nicht von Offizieren aufgebaut, die zuvor in der „Legion Condor“ im Krieg gegen die Spanische Republik und dann in der faschistischen Wehrmacht Kriegserfahrungen, Dienstränge und Orden erworben hatten – sondern von gestandenen Antifaschisten. Viele von ihnen hatten in den Reihen der Internationalen Brigaden die Spanische Republik gegen die spanischen, deutschen und italienischen Faschisten verteidigt, andere waren politische Gefangene in den faschistischen Konzentrationslagern und Gefängnissen gewesen, einige von ihnen hatten sogar ihre militärischen Erfahrungen in den Reihen der Sowjetarmee im Kampf gegen den Faschismus gesammelt.

Für immer im Gedächtnis bleiben wird mir jener kampferprobte Kommandeur, der uns eines Tages im Sommer 1971 in der Uniform eines Obersten der Grenztruppen der DDR gegenüber saß und aus seinem Leben berichtete. Er war 1936 als junger Kommunist dem Ruf der Kommunistischen Internationale zur Verteidigung der Spanischen Republik gefolgt, kämpfte als Leutnant in einer Einheit der Interbrigaden. Nach der Niederlage der Republik gelang ihm die Flucht in die Sowjetunion, wo er nach dem Überfall Hitlerdeutschlands seinen Platz in den Reihen der Sowjetarmee fand und als Leutnant an der Befreiung seiner Heimat teilnahm. Später gehörte er dann zu den Gründern der Nationalen Volksarmee der DDR.

Er war sichtlich stolz darauf, Offizier in der ersten und einzigen Armee eines deutschen Staates zu sein, die niemals an einem Krieg gegen andere Völker beteiligt war. Der berechtigte Stolz klang vor allem aus seinen Worten, die er uns zum Abschied sagte: „Ich war Soldat in drei Armeen – und jedes Mal in der richtigen!“ Welcher deutsche Offizier konnte so etwas von sich sagen?

Auf dem Foto mit dem Wandbild aus den 50er Jahren ist die Straße zu sehen, die ein Dutzend Jahre zuvor noch „Adolf-Hitler-Straße“ geheißen hatte. Sie war inzwischen in „Hauptstraße“ umbenannt worden. Deren östliche Verlängerung hieß zu Zeiten der DDR „Friedensstraße“. Diesen Namen hat man irgendwann nach 1990 in „Sankt-Annen-Straße“ geändert.

In der letzten Strophe des Kinderliedes heißt es:

„Und wir wünschen für die Reise
Freude und viel Glück.
Kleine weiße Friedenstaube,
komm recht bald zurück!“

* Uli Brockmeyer (Jahrgang 1951) wurde in Brandenburg an der Havel geboren, war Mitglied in FDJ und SED und Oberleutnant der Grenztruppen der DDR. Er studierte Außenpolitik am Institut für Internationale Beziehungen der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaften der DDR und arbeitete bis 1990 im Zentralrat der FDJ in der Abteilung für Internationale Verbindungen, auch als Vertreter der FDJ im Büro des Weltbundes der Demokratischen Jugend (WBDJ) in Budapest. Seit 2005 lebt er in Luxemburg und ist Redakteur der kommunistischen Tageszeitung „Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek“ und Mitglied des Exekutivkomitees der Kommunistischen Partei Luxemburgs.



 

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