Samstag, 15. Juli 2017

Scholz lügt!

Foto: junge Welt
Nach G-20-Gipfel: Politiker attestieren Polizei tadellosen Einsatz und hetzen gegen linke Zentren. Derweil häufen sich Berichte von brutalen Übergriffen Beamter

Am Freitag hat Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) das Vorgehen der Polizei während des G-20-Gipfels offiziell für in allen Phasen gewaltfrei erklärt. 

Hunderte Fernseh- und Videoaufnahmen zeigen zwar ein anderes Bild, und inzwischen ist es offiziell, dass mindestens gegen 27 Beamte wegen »Körperverletzung im Amt« ermittelt wird. Tut nichts. Dem Rundfunksender NDR 90,3 teilte Scholz mit: »Polizeigewalt hat es nicht gegeben, das ist eine Denunziation, die ich entschieden zurückweise.«

Etwas anderes war am Freitag im Boulevardblatt Hamburger Morgenpost zu lesen. Dort wurde ein Vorfall geschildert, der sich bereits am Freitag morgen im Stadtteil Bahrenfeld ereignet hatte. Dabei waren nach Angaben Betroffener 14 Gipfelgegner verletzt worden, elf von ihnen schwer. 

Nach Angaben eines Studenten gegenüber der Mopo kam es zu einer Situation, in der sich die Gruppe von insgesamt 200 jungen Leuten plötzlich von vorn und hinten Polizeieinheiten gegenüber sah. Deshalb seien etliche von ihnen in Panik zur Seite gesprungen und auf eine Absperrung geklettert. Hinter dieser befindet sich jedoch ein mehr als zwei Meter tiefer gelegener Gewerbehof. Der Student David S. berichtete der Mopo, Berliner Polizisten hätten »getreten und gedrückt«, bis die Absperrung einstürzte, etliche Menschen seien daraufhin in die Tiefe gestürzt.

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Obwohl unten bereits Menschen mit offenen Knochenbrüchen gelegen hätten, seien weitere hinuntergestoßen worden. Polizisten hätten währenddessen geschrien: »Antifa-Schweine. Das ist euer Frühstück!« Zudem sei bei der Festnahme weiterer Personen auf am Boden Liegende eingetreten worden, wobei diese weitere Verletzungen erlitten hätten. Ein jW vorliegender Bericht einer weiteren jungen Frau aus der Gruppe bestätigt diese Darstellung. Laut Polizei ist bislang nicht geklärt, wie die Verletzungen der 14 Personen entstanden sind. Dies ist nur einer von zahllosen Fällen, die mittlerweile publik geworden sind (siehe auch jW vom 13.7.).

Zur gleichen Zeit rufen Politik und Polizei weiter nach Kriminalisierung linker Zentren in der gesamten Republik. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) hatte solche Zentren am Dienstag als »logistische Schlupflöcher« von Gewalttätern denunziert (siehe jW vom 12.7.). Am Freitag legte Leipzigs Polizeichef Bernd Merbitz nach. Insbesondere im Stadtteil Connewitz seien »rechtsfreie Räume entstanden«, sagte er der Leipziger Volkszeitung. Leipzig erlebe seit Jahren einen »Zuzug von Linksextremisten«. Ohne auch nur Indizien dafür zu nennen, äußerte Merbitz die Überzeugung, »dass auch Sachsen und vor allem Leipziger in Hamburg an den gewalttätigen Krawallen beteiligt waren«.

Bereits am Donnerstag hatte Jenovan Krishnan, Bundesvorsitzender des Rings Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS), gefordert, künftig müssten alle Erstsemester eine »Demokratieerklärung« als »Voraussetzung für ein Hochschulstudium in Deutschland« abgeben. Ein »Großteil der Studenten, Dozenten und auch Hochschulleitungen« sympathisiert nach Krishnans Ansicht mit »linksextremen Organisationen«.

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Die Hamburger Staatsanwaltschaft prüft unterdessen mehrere Anzeigen gegen Rote-Flora-Anwalt Andreas Beuth. Politiker von CDU, CSU und SPD fordern die Schließung des linksautonomen Zentrums in der Hansestadt. Beuth hatte dem NDR nach Brandschatzungen und Plünderungen im Schanzenviertel gesagt, er habe »gewisse Sympathien für solche Aktionen«, aber nur, wenn sie in reichen Stadtteilen stattfänden. Oberstaatsanwältin Nana Frombach sagte der Deutschen Presseagentur am Freitag, in den Anzeigen werde der Vorwurf der Billigung von Straftaten erhoben. Dies werde geprüft, Ermittlungen gebe es noch nicht.

Das Onlinenachrichtenportal BuzzFeed News berichtete unterdessen am Freitag, von den offiziell 476 im Zusammenhang mit dem G-20-Gipfel verletzten Polizisten hätten mehr als die Hälfte bereits vor der heißen Protestphase ab dem 6. Juli ihre Verletzungen gemeldet. Zudem seien viele Beschwerden nicht auf Zusammenstöße mit Demonstranten zurückzuführen gewesen. So seien zum Beispiel Kreislaufprobleme und Beeinträchtigungen bei Pfeffersprayeinsätzen gegen Demonstranten ebenfalls zu den Verletzungen gezählt worden. Das gehe aus Anfragen von BuzzFeed News an alle 16 Landespolizeibehörden und die Bundespolizei hervor. In der »heißen Einsatzphase« wurden demnach 231 Beamte verletzt, davon lediglich 21 so schwer, dass sie auch am Folgetag oder länger nicht arbeiten konnten. Offiziell gelten zwei Mitarbeiter der Bundespolizei als schwerverletzt .

Zur genauen Begründung des Akkreditierungsentzugs für Journalisten nach Gipfelbeginn halten sich Bundeskriminalamt (BKA) und Bundesregierung weiter bedeckt. Das Bundesinnenministerium teilte aber am Freitag mit, unter den ausgesperrten Korrespondenten und Fotografen seien »verurteilte linksextreme Straftäter« und ein mutmaßlicher »Reichsbürger« gewesen. Die Süddeutsche Zeitung hatte am Donnerstag unter Berufung auf »Sicherheitskreise« berichtet, dass Journalisten, gegen die es Sicherheitsbedenken gebe, mindestens seit dem G-8-Gipfel in Heiligendamm vor zehn Jahren von deutschen Polizisten »beaufsichtigt« würden. Das Innenministerium versicherte daraufhin, es gebe keine »heimliche« Überwachung von Pressevertretern.

Von Jana Frielinghaus


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»Die Rote Flora gehört zu uns«

Stellungnahme von Geschäftsinhabern aus dem Hamburger Schanzenviertel

Am Mittwoch, dem 12. Juli 2017, wandten sich die Betreiber diverser Geschäfte im Hamburger Schanzenviertel mit einer Stellungnahme via Facebook an die Öffentlichkeit. Sie ziehen darin eine Bilanz der Ereignisse in ihrem Viertel vom vergangenen Wochenende, welche wir an dieser Stelle dokumentieren:

+++ STELLUNGNAHME ZU DEN EREIGNISSEN VOM WOCHENENDE +++

Wir, einige Geschäfts- und Gewerbetreibende des Hamburger Schanzenviertels, sehen uns genötigt, in Anbetracht der Berichterstattung und des öffentlichen Diskurses, unsere Sicht der Ereignisse zu den Ausschreitungen im Zuge des G20-Gipfels zu schildern.
In der Nacht vom 7. auf den 8. Juli 2017 tobte eine Menge für Stunden auf der Straße, plünderte einige Läden, bei vielen anderen gingen die Scheiben zu Bruch, es wurden brennende Barrikaden errichtet und mit der Polizei gerungen.

Uns fällt es in Anbetracht der Wahllosigkeit der Zerstörung schwer, darin die Artikulation einer politischen Überzeugung zu erkennen, noch viel weniger die Idee einer neuen, besseren Welt.

Wir beobachteten das Geschehen leicht verängstigt und skeptisch vor Ort und aus unseren Fenstern in den Straßen unseres Viertels.

Aber die Komplexität der Dynamik, die sich in dieser Nacht hier Bahn gebrochen hat, sehen wir weder in den Medien noch bei der Polizei oder im öffentlichen Diskurs angemessen reflektiert.

Ja, wir haben direkt gesehen, wie Scheiben zerbarsten, Parkautomaten herausgerissen, Bankautomaten zerschlagen, Straßenschilder abgebrochen und das Pflaster aufgerissen wurde.

Wir haben aber auch gesehen, wie viele Tage in Folge völlig unverhältnismäßig bei jeder Kleinigkeit der Wasserwerfer zum Einsatz kam. Wie Menschen von uniformierten und behelmten Beamten ohne Grund geschubst oder auch vom Fahrrad geschlagen wurden.
Tagelang.

Dies darf bei der Berücksichtigung der Ereignisse nicht unter den Teppich gekehrt werden.

Zum Höhepunkt dieser Auseinandersetzung soll in der Nacht von Freitag und Samstag nun ein „Schwarzer Block“ in unserem Stadtteil gewütet haben.

Dies können wir aus eigener Beobachtung nicht bestätigen, die außerhalb der direkten Konfrontation mit der Polizei nun von der Presse beklagten Schäden sind nur zu einem kleinen Teil auf diese Menschen zurückzuführen.

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Der weit größere Teil waren erlebnishungrige Jugendliche sowie Voyeure und Partyvolk, denen wir eher auf dem Schlagermove, beim Fußballspiel oder Bushido-Konzert über den Weg laufen würden als auf einer linksradikalen Demo.

Es waren betrunkene junge Männer, die wir auf dem Baugerüst sahen, die mit Flaschen warfen – hierbei von einem geplanten „Hinterhalt“ und Bedrohung für Leib und Leben der Beamten zu sprechen, ist für uns nicht nachvollziehbar.

Überwiegend diese Leute waren es auch, die – nachdem die Scheiben eingeschlagen waren – in die Geschäfte einstiegen und beladen mit Diebesgut das Weite suchten.
Die besoffen in einem Akt sportlicher Selbstüberschätzung mit nacktem Oberkörper aus 50 Metern Entfernung Flaschen auf Wasserwerfer warfen, die zwischen anderen Menschen herniedergingen, während Herumstehende mit Bier in der Hand sie anfeuerten und Handyvideos machten.

Es war eher die Mischung aus Wut auf die Polizei, Enthemmung durch Alkohol, der Frust über die eigene Existenz und die Gier nach Spektakel – durch alle anwesenden Personengruppen hindurch –, die sich hier Bahn brach.

Das war kein linker Protest gegen den G20-Gipfel. Hier von linken AktivistInnen zu sprechen wäre verkürzt und falsch.

Wir haben neben all der Gewalt und Zerstörung an dem Tag viele Situationen gesehen, in denen offenbar gut organisierte, schwarz gekleidete Vermummte teilweise gemeinsam mit Anwohnern eingeschritten sind, um andere davon abzuhalten, kleine, inhabergeführte Läden anzugehen. Die anderen Vermummten die Eisenstangen aus der Hand nahmen, die Nachbarn halfen, ihre Fahrräder in Sicherheit zu bringen und sinnlosen Flaschenbewurf entschieden unterbanden. Die auch ein Feuer löschten, als im verwüsteten und geplünderten „Flying Tiger Copenhagen“ Jugendliche versuchten, mit Leuchtspurmunition einen Brand zu legen, obwohl das Haus bewohnt ist.

Es liegt nicht an uns zu bestimmen, was hier falsch gelaufen ist, welche Aktion zu welcher Reaktion geführt hat.

Was wir aber sagen können: Wir leben und arbeiten hier, bekommen seit vielen Wochen mit, wie das „Schaufenster moderner Polizeiarbeit“ ein Klima der Ohnmacht, Angst und daraus resultierender Wut erzeugt.

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Dass diese nachvollziehbare Wut sich am Wochenende nun wahllos, blind und stumpf auf diese Art und Weise artikulierte, bedauern wir sehr. Es lässt uns auch heute noch vollkommen erschüttert zurück.

Dennoch sehen wir den Ursprung dieser Wut in der verfehlten Politik des Rot-Grünen Senats, der sich nach Außen im Blitzlichtgewitter der internationalen Presse sonnen möchte, nach Innen aber vollkommen weggetaucht ist und einer hochmilitarisierten Polizei das komplette Management dieses Großereignisses auf allen Ebenen überlassen hat.

Dieser Senat hat der Polizei eine „Carte Blanche“ ausgestellt – aber dass die im Rahmen eines solchen Gipfels mitten in einer Millionenstadt entstehenden Probleme, Fragen und sozialen Implikationen nicht nur mit polizeitaktischen und repressiven Mitteln beantwortet werden können, scheint im besoffenen Taumel der quasi monarchischen Inszenierung von Macht und Glamour vollkommen unter den Tisch gefallen zu sein.

Dass einem dies um die Ohren fliegen muss, wäre mit einem Mindestmaß an politischem Weitblick absehbar gewesen.

Wenn Olaf Scholz jetzt von einer inakzeptablen „Verrohung“, der wir „uns alle entgegenstellen müssen“, spricht, können wir dem nur beizupflichten.

Dass die Verrohung aber auch die Konsequenz einer Gesellschaft ist, in der jeglicher abweichende politische Ausdruck pauschal kriminalisiert und mit Sondergesetzen und militarisierten Einheiten polizeilich bekämpft wird, darf dabei nicht unberücksichtigt bleiben.

Aber bei all der Erschütterung über die Ereignisse vom Wochenende muss auch gesagt werden:

Es sind zwar apokalyptische, dunkle, rußgeschwärzte Bilder aus unserem Viertel, die um die Welt gingen.

Von der Realität eines Bürgerkriegs waren wir aber weit entfernt.

Anstatt weiter an der Hysterieschraube zu drehen sollte jetzt Besonnenheit und Reflexion Einzug in die Diskussion halten.

Die Straße steht immer noch, ab Montag öffneten die meisten Geschäfte ganz regulär, der Schaden an Personen hält sich in Grenzen.

Wir hatten als Anwohner mehr Angst vor den mit Maschinengewehren auf unsere Nachbarn zielenden bewaffneten Spezialeinheiten als vor den alkoholisierten Halbstarken, die sich gestern hier ausgetobt haben.

Die sind dumm, lästig und schlagen hier Scheiben ein, erschießen dich aber im Zweifelsfall nicht.

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Der für die Meisten von uns Gewerbetreibende weit größere Schaden entsteht durch die Landflucht unserer Kunden, die keine Lust auf die vielen Eingriffe und Einschränkungen durch den Gipfel hatten – durch die Lieferanten, die uns seit vergangenem Dienstag nicht mehr beliefern konnten, durch das Ausbleiben unserer Gäste.

An den damit einhergehenden Umsatzeinbußen werden wir noch sehr lange zu knapsen haben.

Wir leben seit vielen Jahren in friedlicher, oft auch freundschaftlich-solidarischer Nachbarschaft mit allen Formen des Protestes, die hier im Viertel beheimatet sind, wozu für uns selbstverständlich und nicht-verhandelbar auch die Rote Flora gehört.

Daran wird auch dieses Wochenende rein gar nichts ändern.

In dem Wissen, dass dieses überflüssige Spektakel nun vorbei ist, hoffen wir, dass die Polizei ein maßvolles Verhältnis zur Demokratie und den in ihr lebenden Menschen findet, dass wir alle nach Wochen und Monaten der Hysterie und der Einschränkungen zur Ruhe kommen und unseren Alltag mit all den großen und kleinen Widersprüchen wieder gemeinsam angehen können.

Einige Geschäftstreibende aus dem Schanzenviertel

BISTRO CARMAGNOLE
CANTINA POPULAR
DIE DRUCKEREI - SPIELZEUGLADEN SCHANZENVIERTEL
ZARDOZ SCHALLPLATTEN
EIS SCHMIDT
JIM BURRITO'S
TIP TOP KIOSK
JEWELBERRY
SPIELPLATZ BASCHU e.V.
MONO CONCEPT STORE
BLUME 1000 & EINE ART
JUNGBLUTH PIERCING & TATTOO
SCHMITT FOXY FOOD
BUCHHANDLUNG IM SCHANZENVIERTEL
WEIN & BOULES

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