Sonntag, 3. August 2014

Woher kommt der Reichtum und wer schafft ihn?

Zur Aktualität von Lenins „Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus“


Als auf dem Höhepunkt der Finanzkrise im Sommer 2008 die US-Investmentbank Lehman Brothers Insolvenz anmelden musste, überboten sich die Kommentatoren geradezu mit ihrer Kritik an der Komplexität des globalen Finanzsystems. Insbesondere Ratingagenturen, also Unternehmen, die die Kreditwürdigkeit anderer Unternehmen bewerten, wurden verbal scharf angegangen: Man warf ihnen vor, durch viel zu komplexe Bewertungsmodelle Transparenz verhindert und so eine Spekulationsblase aufgebläht zu haben, in deren Folge zahlreiche Großbanken ins Schleudern kamen und Pleite gingen.

Wenn man sich also die ungeheure Komplexität des modernen Kapitalismus vergegenwärtigt, vor der bereits sämtliche „Experten“ kapitulieren mussten, dann stellt sich unweigerlich die Frage: Welchen Sinn macht es, einen fast schon als „simpel“ anmutenden Textabschnitt zu Fragen der politischen Ökonomie des Kapitalismus zu lesen, der einer kleinen und fast 100 Jahre alten Lenin-Schrift entstammt?

Unsere Antwort darauf lautet: Weil Lenin darin sehr prägnante Antworten auf Fragen der Politischen Ökonomie gibt, die auch heute noch von zentraler Bedeutung sind. 

Denn Politische Ökonomie ermöglicht einen nicht unerheblichen Einfluss auf das Bewusstsein der Menschen über ihre gesellschaftlichen Gestaltungsmöglichkeiten. 

Das betrifft nicht nur Haushaltsdebatten und Diskussionen über staatliche Regulierungen, sondern z. B. auch gewerkschaftliche Auseinandersetzungen über den Spielraum für Belegschaften in Tarifkonflikten, die entlang ökonomischer Argumentationslinien geführt werden. 

Politische Ökonomie bewegt sich im Spannungsfeld materieller Interessen. Marxistische und bürgerliche Wirtschaftswissenschaften unterscheiden sich folglich darin, ob sie die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse in Frage stellen oder rechtfertigen.


Politische Ökonomie – eine parteiische Wissenschaft



Diese Spannung drückt sich auch in den unterschiedlichen Antworten auf die Frage aus, was die Politische Ökonomie als Wissenschaft kennzeichnet. Nehmen wir als Beispiel den US-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Paul A. Samuelson (1915–2009), der die folgende weitverbreitete Definition gegeben hat: Politische Ökonomie sei das Studium dessen, „was Menschen und Gesellschaft bei der Beschäftigung knapper Ressourcen […] auswählen, um verschiedenartige Waren zu erzeugen und für den Verbrauch […] zu verteilen“
(A. Samuelson, W. D. Nordhaus: Economics. Zitiert nach: Peter Thal: Politische Ökonomie, in: Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, Bd. 3, S. 795 f.)

Während Samuelson also den Fokus auf einen effizienten Einsatz von Ressourcen und eine möglichst optimale Verteilung legt, geht es dem Marxismus ausdrücklich um das Verhältnis zwischen Menschen, d. h. um den gesellschaftlichen Arbeitsprozess und die Aneignung der Arbeitsprodukte. Lenin hat das für die bürgerliche Ökonomie seiner Zeit so ausgedrückt: „Wo die bürgerlichen Ökonomen ein Verhältnis von Dingen sahen […], dort enthüllte Marx ein Verhältnis von Menschen“.


Kapitalismuskritik:  „Dämonisierung“ des Kapitalismus…



Wo Wirtschaftswissenschaftler jedoch auf Eigentumsverhältnisse eingehen, wie z. B. der Franzose Thomas Piketty unlängst in seinem Buch „Capital in the Twenty-First Century“ bekommen sie Kontra.
Vor allem wenn es darum geht herauszufinden, warum es zu diesen Krisen des Kapitalismus kommt, werden selbst von „seriösen“ Publizisten oder Wissenschaftlern manches Mal Erklärungen bemüht, die kaum mehr sind als vulgärökonomische Thesen oder simpler Antimarxismus: So versuchte kürzlich der Medienwissenschaftler Prof. N. Bolz die heftige internationale Resonanz auf die Kritik des französischen Ökonomen Thomas Piketty an der zunehmenden Ungerechtigkeit und Ungleichheit der Einkommen mit dem Satz abzuwürgen: „Das Problem der Ungleichverteilung ist unlösbar. Kapitalismuskritik ist politische Romantik.“  
(Zitiert nach „stern“ vom 10.7.14, S. 71)

Ein Jahr zuvor hatte Bolz in einer Schweizer Zeitschrift die nach seiner Meinung in Deutschland viel zu starke antikapitalistische Grundströmung im Gefolge der „68er-Bewegung“ an den deutschen Universitäten beklagt: 
„Studenten und Professoren haben vor allem an geisteswissenschaftlichen Fakultäten heute eine gute Chance, in ein Treibhaus der Weltfremdheit hineinzugeraten. Eine Gesellschaft, die sich weder an erfahrungsgesättigter Moral noch an bürgerlicher Tradition und gesundem Menschenverstand orientieren kann, wird zum Spielfeld eines Tugendterrors, der in Universitäten, Redaktionen und Antidiskriminierungsämtern ausgebrütet wird … Im Zuge der Weltfinanzkrise haben die Linksintellektuellen den Antikapitalismus als Geschäftsmodell wieder entdeckt. Da sie nichts vom System einer modernen durchmonetarisierten Wirtschaft verstehen, verteufeln sie den Mammon. Da sie trotz Marx-Lektüre mit einer konsequenten Ignoranz in allem, was „das Kapital“ betrifft, gesegnet sind, besorgen sie das Geschäft der Dämonisierung. So ist wieder eine politische Romantik entstanden, die den Ohnmächtigen und Ratlosen suggeriert, das Böse der Welt würde sich in der Wall Street konzentrieren. Das ist der geistige Flurschaden, den die Finanzkrise in den Gemütern vieler Menschen angerichtet hat.“  
(N. Bolz: hauptsache links. In „schweizer monat“, Ausgabe 1008/juni 2013 www.schweizermonat.ch/artikel/hauptsache –links)

Antikapitalismus als „politische Romantik“, als „Dämonisierung“, die den Ohnmächtigen suggeriert, das habe etwas mit dem großen Kapital zu tun. 

So kann nur jemand sprechen, der ein Interesse daran hat, dass nicht näher nachgedacht und nachgefragt wird, was denn hinter dem Kaleidoskop von Meinungen und Erklärungsversuchen für die tiefe Krise des Kapitalismus steckt.


… oder Appell an das „soziale Gewissen“?



Doch es gibt noch eine andere Art von Ignoranz gegenüber einer fundierten Antikapitalismus-Kritik. Der Historiker Hans-Ulrich Wehler machte in einem kurz vor seinem Tod aufgenommenen Interview die Grenzen einer Kritik an sozialen Ungerechtigkeiten deutlich, die sich nicht traut die Systemfrage zu stellen und sich mit Appell an die Rückbesinnung auf einen moderaten Sozialdemokratismus begnügt. 

Denn für Wehler ist die berechtigte Kritik und Abwehr „zunehmender Ungerechtigkeit“ kein Grund den Kapitalismus in Frage zu stellen. Wehler beruhigte: „Ich will keinen Aufruhr, keine Revolte. Ich möchte keinen Sturm auf das Palais Oetker (Wehler spielt hier auf den Sturm auf das zaristische „Winterpalais“ in Petrograd an, der den Beginn der großen sozialistischen Oktoberrevolution von 1917 markierte.) Ich will Druck auf die Parteien. Ich hoffe immer noch auf die SPD, dass die ihr soziales Gewissen wieder aufleben lässt.“ („stern“ vom 10.7.14, S. 77)

Es ist nicht nur wegen solcher Einlassungen für Marxisten und für aktive Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter wichtig zu begreifen, warum solche – im Einzelfall sogar ehrlich gemeinte Kritik zum Scheitern verurteilt ist. 

Wenn man einen Bogen um grundlegende Erkenntnisse der marxistischen Kritik des Kapitalismus macht, landet man schließlich in der Sackgasse der ganz normalen systemfrommen Kritik des Reformismus. 

Deshalb muss man wissen, wie und auf welcher Grundlage sich marxistische Kapitalismusanalyse und -kritik entwickelt hat und worauf sie sich stützt.




Marx‘ Definition der „Politischen Ökonomie“



Karl Marx hatte in seiner Kritik der Politischen Ökonomie den Leitfaden für seine eigenen Untersuchungen so beschrieben: 
„In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen“.  
(Karl Marx: Zur Kritik der Politischen Ökonomie, MEW 13, S. 8.9)

Damit formulierte er das entscheidende Begriffspaar für das Geschichtsverständnis von Marxisten: Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte.

Die Produktivkräfte einer Gesellschaft sind die in der Produktion genutzten Arbeitsinstrumente, Rohstoffe und die produktiven Fähigkeiten der Menschen. 

Hier besteht ein enger Zusammenhang mit den sozialen Verhältnissen: 
Erwerben die Menschen neue Produktivkräfte, so gestalten sie damit auch die Art und Weise der Produktion neu. 

Verändern sie wiederum ihre Produktionsweise, so ändert sich damit überhaupt die Art und Weise, wie die Menschen ihren Lebensunterhalt verdienen.

Marx hat das im Winter 1846/47 folgendermaßen illustriert: 
„Die Handmühle ergibt eine Gesellschaft mit Feudalherren,die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten.“
(Karl Marx: Das Elend der Philosophie. MEW 4, S. 130)

Produktionsverhältnisse bezeichnen Friedrich Engels zufolge wiederum die „Bedingungen und Formen, unter denen die verschiednen menschlichen Gesellschaften produziert und ausgetauscht und unter denen sich demgemäß jedesmal die Produkte verteilt haben“
(Friedrich Engels, „Anti-Dühring“, MEW 20, S. 139).

Wichtig ist hierbei der Zusammenhang zwischen Produktion und Austausch der Produkte auf der einen Seite, sowie die Verteilung der Produkte auf der anderen Seite. 

Denn die moderne Produktionsweise, d. h. die „ große Industrie, die heutige Kreditausbildung“ und die dazugehörige freie Konkurrenz wäre wohl kaum denkbar ohne „große Kapitalisten und lebenslängliche Lohnarbeiter“ 
(Friedrich Engels, a. a. O., S. 135)

Wie Marx in seinen autobiographischen Texten dargelegt hat, bestand seine Motivation für sein Hauptwerk „Das Kapital“ in der „Erforschung der ökonomischen Struktur der modernen, d. h. der kapitalistischen Gesellschaft“, denn Rechtsverhältnisse wie Staatsformen oder Eigentumsverhältnisse wurzeln in den materiellen Lebensverhältnissen, deren Anatomie „in der politischen Ökonomie zu suchen sei“  
(Karl Marx: Zur Kritik der Politischen Ökonomie, MEW 13, S. 8)

Theoretische Quellen der  marxistischen Politischen Ökonomie


Marx’ Anknüpfungspunkt für seine ökonomische Analyse war die englische Nationalökonomie des 18. Jahrhunderts, deren bedeutendste Vertreter Adam Smith (1723–1790) und David Ricardo (1772–1823) waren.

Die Politische Ökonomie war damals noch eine junge Wissenschaft, die noch stark von den Grundsätzen der Physiokraten beeinflusst war, eine ökonomische Schule des 18. Jahrhunderts, gegründet von François Quesnay (1694–1774).

Die Ökonomen dieser Schule hatten zwei bemerkenswerte Ansätze entwickelt: Sie unternahmen erstmalig den Versuch, den gesamten Wirtschaftskreislauf (Reproduktionsprozess) eines Landes zu untersuchen und darzustellen.

Arbeit als Quelle von Reichtum – diese Vorstellung finden wir nicht nur bei den Physiokraten, sondern auch bei Adam Smith, der erstmalig einen modernen Begriff von Reichtum entwickelt hat. Reichtum besteht Smith zufolge eben nicht darin, „dass ein Reicher viel besitzt oder viele Grundstücke hat“. Sondern vielmehr darin, über das Ergebnis der Arbeit anderer und damit über eine ständige Gewinnquelle verfügen zu können.“
(Werner Rügemer: Arm und Reich. Transcript Verlag, 2003, S. 25)

Das ist genau dann möglich, denn den Arbeitenden solle nicht der volle Gegenwert ihrer Arbeit, sondern nur ein Betrag zur Befriedigung ihrer unmittelbaren Bedürfnisse gezahlt werden. Schreibt dann auch Smith: Es sei nur recht und billig, „wenn diejenigen, die alle ernähren, kleiden und mit Wohnung versorgen“ – also die Arbeiter – „soviel vom Ertrag der eigenen Arbeit bekommen sollen, dass sie sich selbst richtig ernähren, ordentlich kleiden und anständig wohnen können.“
(Adam Smith: Der Wohlstand der Nationen. Deutscher Taschenbuch Verlag, 1978, S. 68)

Adam Smith formulierte auch den Kernsatz der Arbeitswertlehre, der wie folgt lautet: Der Wert einer Ware wird durch die in ihr enthaltene Arbeitszeit bestimmt.
Damit wird der Marktpreis, den Markteilnehmer für ihre Waren aushandeln, mit der für ihre Produktion notwendigen Arbeitszeit in Beziehung gesetzt.

David Ricardo führte diesen Weg noch konsequenter fort; und genauso wie Smith erklärte er alle Formen des Einkommens (Grundrente, Lohn und Profit) auf Arbeit zurück.

Ihr Widerspruch bestand jedoch darin: Wenn weder Grundeigentümer noch Kapitalisten arbeiten, wie kann ihr Einkommen auf Arbeit zurückgeführt werden? Die Antwort darauf gibt uns die Mehrwerttheorie von Karl Marx.

Mehrwerttheorie


Der Schlüssel zur Mehrwerttheorie liegt im Verständnis der Warenproduktion, deren entwickelteste Form die kapitalistische Gesellschaft ist. Eine Ware kann einerseits ein nützliches Ding sein, das ein menschliches Bedürfnis befriedigt, andererseits werden Waren gegeneinander ausgetauscht. Eine Ware kann daher nach zweierlei Maß bemessen werden: nach Gebrauchswert und Tauschwert.

Der Tauschwert einer Ware kommt im millionenfachen Tauschakt zwischen Waren zum Ausdruck. Er wird daher bestimmt durch die gesellschaftlich durchschnittliche Arbeitszeit, die zu ihrer Herstellung bzw. Wiederherstellung notwendig ist. Im Unterschied zum Preis einer einzelnen Ware, der räumlich und zeitlich schwanken kann, besteht ihr Tauschwert aus einem gesellschaftlichen Durchschnitt; denn der Tauschwert ist eine Größe, in der sich der gesellschaftliche Zusammenhang zwischen den einzelnen Produzenten zeigt, die durch den Markt vereinigt sind.

Im Verlauf der Geschichte entwickelte sich auch das Geld, eine besondere Form, in der sich der Tauschwert zeigt. Dadurch mussten nicht mehr alle Warenarten miteinander verglichen werden, durch gesellschaftliche Gewohnheit wurde die Ware Gold zu jener speziellen Ware, die zum allgemeinen Vergleich der Warenwerte verwandt wurde. Und auf einer bestimmten Entwicklungsstufe der Warenproduktion verwandelt sich Geld in Kapital. Waren werden nicht mehr nur verkauft, um andere Waren zu erhalten und damit menschliche Bedürfnisse zu befriedigen. Sondern vielmehr werden Waren gekauft, um sie mit Profit wieder zu verkaufen. Marx nennt diesen Zuwachs zum ursprünglichen Wert des in Umlauf gebrachten Geldes Mehrwert.

Das Kapital ist also auch ein gesellschaftliches Verhältnis: Die Arbeitskraft des Menschen wird zur Ware. Ihr Gebrauchswert für den Kapitalisten besteht darin, Quelle von Mehrwert zu sein. Ihr Tauschwert wiederum besteht in der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit, die zu ihrer Wiederherstellung notwendig ist. Die Arbeitenden beziehen also einen Lohn, der sie befähigt, ihre Arbeitskraft wiederherstellen zu können. Einen Teil des Arbeitstages bringen sie also auf, um den Gegenwert ihres Lohns zu erarbeiten; den anderen Teil arbeiten sie unentgeltlich für den Kapitalisten.

Armut und Reichtum kommen demnach nicht unrechtmäßig oder durch willkürliche Verteilung, durch Finanzschiebereien oder „Maßlosigkeit von Kasinokapitalisten“ zustande. 

Vielmehr liegt ein Widerspruch im bürgerlichen Recht selbst, das vorgibt, alle Warenbesitzer gleichermaßen, also sowohl Käufer als auch Verkäufer der Ware Arbeitskraft schützen zu wollen. 

Marx kommentierte das so: Es steht „Recht wider Recht, beide gleichmäßig durch das Gesetz des Warenaustausches besiegelt“. Und zwischen gleichen Rechten „entscheidet die Gewalt.“
(Karl Marx: Das Kapital. MEW 23, S. 24).

Das ist der Grund für den andauernden Kampf in der Geschichte der kapitalistischen Produktion zwischen der Klasse der Kapitalisten und der Arbeiterklasse.


von Hans-Peter Brenner/Pablo Graubner

 

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