Mittwoch, 22. Mai 2013

Revolutionärer Marxismus und die Europapläne des deutschen Kapitals

(Diskussionsbeitrag von Hans-Peter Brenner, stellv. DKP-Parteivorsitzender, auf der 2. PV-Tagung 4./5.5.2013  – ergänzt)

Die Europa-Frage wird aus zwei Gründen für uns wieder aktueller: In etwas mehr als einem Jahr jährt sich der Beginn des Ersten Weltkrieges zum hundertsten Male. (…) Die Bundeszentrale für Politische Bildung bereitet sich inhaltlich längst darauf vor. Es gibt dazu eine erste Beilage für die Zeitung „das Parlament“. Außerdem haben wir im nächsten Jahr die Wahl zum Europa-Parlament. Beides wird von staatlicher Seite genutzt um die Vereinigung Europas als große Leistung im Dienste des Friedens zu feiern.


Mein Vater – verstorben 1967- war  mit 19 Jahren Soldat im 1. Weltkrieg  vermutlich von Anfang bis zu Beginn und er war es auch im 2. Weltkrieg.  Unsere Väter oder Großväter haben die Massaker des Weltkrieges selbst erlebt;  sie sind darin oder daran krepiert oder haben überlebt. Sie waren Opfer oder auch  zugleich Täter – so wie mein Vater. Sie wurden, auch wenn sie überlebten, physisch oder geistig-moralisch für verletzt und deformiert. So wirkt Geschichte über 100 Jahre sehr persönlich weiter.

Die „Vereinigung Europas“ und der Krieg

In der Jugendzeit meines Vaters sehnten sich viele Menschen, besonders viele sozialistische Linke, nach einer Welt des Friedens. Die bürgerliche und sozialistische Friedensbewegung diskutierte über und hoffte auf einen europäischen Kontinent, aus dem der Krieg verbannt sein sollte. Es gab große internationale Friedenskonferenzen.

Dieser Friedenstraum wurde schon früher – in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert – von vielen prominenten Geistesgrößen geteilt. Der französische Schriftsteller Victor Hugo leitete auf dem Pariser Friedenskongress im August 1849 seinen flammenden Friedensappell mit den berühmt gewordenen Worten ein. „Der Tag wird kommen, an dem die beiden großen Ländergruppen, die Vereinigten Staaten von Amerika und die Vereinigten Staaten von Europa sich von Angesicht zu Angesicht die Hände über die Meere reichen werden.“ Seine Vision war ein friedliches, soziales und demokratisches Europa als Bundesstaat (die „Vereinigten Staaten von Europa“). Dieses Europa – so Hugos Hoffnung – würde die Gefahr militärischer Auseinandersetzungen zumindest soweit eindämmen, dass nicht mehr Hunderttausende auf den Schlachtfeldern Europas zurück blieben. (Hugo, Victor: Actes et paroles – Avant l’exil, 1875, Paris, S. 154)

Axel Schäfer, stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion , beruft sich in diesen Tagen ausdrücklich auf die angeblich europaorientierten Ziele der damaligen Arbeiterbewegung. In seiner Einführung der im  Januar 2012 erschienenen Broschüre der SPD Bundestagsfraktion „Parlamentarische Positionen zu Europa. Reden und Texte von Reichstags- und Bundestagsabgeordneten der SPD. Ergänzt durch Basisinformationen und programmatische Beschlüsse.“ schreibt er: „Schon auf ihrem Kongress 1867 beriet die IAA (1864-1872) den Vorschlag der deutschen Sektion zur „Herstellung eines europäischen Freistaaten-Bundes“ und forderte schließlich einen „Bund der Völker“. In dieser Tradition standen die späteren Beschlüsse der II. Internationale (1889-1923) zu Abrüstung und internationalen Schiedsgerichten.

Schäfer „vergisst“ jedoch zu erwähnen, dass die Aussagen der  der Internationalen Arbeiter Assoziation IAA zur europäischen Einigung in der damaligen Zeit immer von einem deutlichen Primat der Vereinigung der Arbeiterbewegung ausgegangen war und dass diese mit dem „geeinten Europa“ zuvörderst den „Bruderbund“ meinten, den das europäische Proletariat im Kampf für seine Befreiung schließen müsste.

Dafür standen die von Karl Marx formulierten Statuten und Grundsätze der IAA.  Die Aufgabe der IAA war nach Marx nicht europazentriert, sondern allgemein internationalistisch konzipiert. Sie hatte die Aufgabe, „die gesamte streitbare Arbeiterschaft Europas und Amerikas  (Hervorhebung durch mich) zu einem großen Heereskörper zu verschmelzen.“  Die IAA stand außerdem unter ganz eindeutig proletarisch-revolutionärer Zielsetzung, trotz der in ihr vorhanden politischen unterschiedlichen Strömungen. Ein Vergleich mit der Europäischen Linken (EL) ist deshalb nicht angesagt.

Prominente Sozialdemokraten und Marxisten wie Karl Kautsky oder Georg Ledour vertraten erst kurz vor Beginn des Ersten Weltkrieges wieder deutlicher europafreundlichere Positionen. Sie propagierten die Ansicht, dass ein geeintes Europa stark genug wäre, um alle Nicht-Mitglieds-Staaten zu zwingen, ihre Armeen abzuschaffen und so dauerhaften Frieden zu sichern. Ledebour sagte in seiner Etatrede im Reichstag am 3. April 1911: „Wir suchen innerhalb des Kapitalismus diejenigen Bestrebungen zu unterstützen, die auf eine Beseitigung der Raubtiereinflüsse hinzielen. Wir wollen eben jetzt schon alle die wirtschaftlichen Forderungen, die der Kapitalismus selber in der Richtung auf den Frieden herausarbeitet, stärken und darauf hinwirken, dass ein solcher Zusammenschluss der Staaten zu gemeinsamer wirtschaftlicher Kulturentwicklung heute schon in der Zeit des Kapitalismus stattfinden kann. (…)  Wir erheben die Forderung, dass die europäischen Staaten sich wirtschaftlich und politisch zusammenschließen müssen.  (…) Wir stellen wenigstens an die kapitalistische Gesellschaft, an die kapitalistischen Staatsmänner die Forderung, das sie im Interesse der kapitalistischen Entwicklung in Europa selbst, um Europa später in der Weltkonkurrenz nicht vollkommen unter den Schlitten kommen zu lassen, diesen Zusammenschluss Europas zu den Vereinigten Staaten von Europa vorbereiten.“  (G. Ledebour. Verhandlungen des Reichstags. XII. Legislaturperiode, II. Session, Bd. 266. Stenographische Berichte, Berlin 1911, S. 6142/6143)

Die „Vereinigten Staaten von Europa“ sollten also eine Doppelfunktion besitzen: Zähmung der „Raubtiereinflüsse“ des Kapitalismus  und seine „Befriedung“ und gleichzeitig Erhalt oder Schaffung der Wettbewerbsfähigkeit“  des europäischen Kapitalismus mit den USA.
Und in der Neuen Zeit vom 28. April 1911 schrieb K. Kautsky, der damals wichtigste SPD-Theroetiker: „Und die Verwirklichung solcher Verständigungen böte noch keine Garantie für eine ständige Fortdauer des Friedens, die das Gespenst des Krieges für immer bannte.
Dafür gibt es heute nur einen Weg: die Vereinigung der Staaten der europäischen Zivilisation in einem Bunde mit gemeinsamer Handelspolitik, einem Bundesparlament, einer Bundesregierung und einem Bundesheer – die Herstellung der Vereinigten Staaten von Europa.

Gelänge dies, so wäre Ungeheures erreicht.… Damit wäre die Ära des ewigen Friedens sicher begründet.“ (K. Kautsky, Krieg und Frieden. Betrachtungen zur Maifeier, in Die Neue Zeit (Stuttgart), 29. Jg. 1910/11, 2. Band, S. 105/106.- Zit. n.:  R. Luxemburg. Friedensutopien, in: Leipziger Volkszeitung vom 6./8.5.1911, in Gesammelte Werke Bd. 2, S. 499)

Frühe innerlinke Kontroverse um das „Vereinigte Europa“

Diese reformistischen Europa- Positionen trafen auf massiven Widerspruch: in der SPD. Rosa Luxemburg geißelte die Gedanken Kautskys als „unsozialdemokratisch“. Sie schrieb dazu am 8. Mai 1911 eine flammende Entgegnung, in der sie Ledebour vorwarf „gewissermaßen aus dem Handgelenk“ eine nicht von der SPD getragene Position „die starke Züge eines Verlegenheitsprodukts an sich tragen, offiziell im Namen der Gesamtpartei befürwortet (zu haben).“ (R. Luxemburg: a.a.O., S. 499/500)

Sie  argumentierte, dass  die Forderung nach einem geeinten Europa zwar plausibel, jedoch „utopistisch“  sei.  R. Luxemburg sah in einem vereinigen Europa ein „imperialistisches Wirtschaftsganzes“, das in Zeiten der Kolonisierung der halben Welt durch europäische Staaten  zugleich ein rassistisches Projekt sein müsse.

Gegen Ledour und Kautsky entwickelte sie eine vergleichsweise ungewöhnlich ausführliche und grundsätzliche Kritik. Sie verdeutlichte damit, dass es bei der Thematik der „Vereinigten Staaten von Europa“ keinesfalls um die Frage eines „Verlegenheitsprodukts“ ging, sondern der Nerv der Strategie einer revolutionär-marxistischen Partei, die die SPD unter A. Bebel zu diesem Zeitpunkt ja  noch zu sein wollte, getroffen wurde.

„So plausibel die Idee der Vereinigten Staaten Europas als einer Friedenskonvention auf den ersten Blick vielleicht manchem erscheinen mag, sie hat gleichwohl bei näherem Zusehen mit der Denkweise und den Standpunkten der Sozialdemokratie nicht das geringste zu tun. (…)
Welche wirtschaftliche Grundlage liegt aber der Idee einer europäischen Staatenföderation zugrunde? Europa ist wohl ein geographischer und in gewissen Grenzen ein kulturhistorischer Begriff. Die Vorstellung jedoch von Europa als einem Wirtschaftsganzen widerspricht zwiefach der kapitalistischen Entwicklung. Einerseits bestehen innerhalb Europas unter den kapitalistischen Staaten – und solange diese existieren – die heftigsten Konkurrenzkämpfe und Gegensätze, anderseits kommen die europäischen Staaten wirtschaftlich ohne die außereuropäischen Länder gar nicht mehr aus. (…)

Nicht von sozialdemokratischen Parteien, sondern von bürgerlicher Seite ist bis jetzt von Zeit zu Zeit die Idee eines europäischen Zusammenschlusses aufgeworfen worden. Dies geschah aber jedes Mal mit deutlicher reaktionärer Tendenz. Es war z. B. der bekannte Sozialistenfeind Prof. Julius Wolf, der die europäische Wirtschaftsgemeinschaft propagierte. Sie bedeutete aber nichts andres als eine Zollgemeinschaft zum handelspolitischen Kriege gegen die Vereinigten Staaten von Amerika und ist auch so von sozialdemokratischer Seite aufgenommen und kritisiert worden. Und jedes Mal, wo bürgerliche Politiker die Idee des Europäertums, des Zusammenschlusses europäischer Staaten auf den Schild erhoben, da war es mit einer offenen oder stillschweigenden Spitze gegen die „gelbe Gefahr“, gegen den „schwarzen Weltteil“, gegen die „minderwertigen Rassen“, kurz, es war stets eine imperialistische Missgeburt.“ (Luxemburg, Rosa, 1911: Friedensutopien, in: Leipziger Volkszeitung vom 6./8.5.1911, in Gesammelte Werke Bd. 2, S. 498 ff)

Diese europakritische  Position von R. Luxemburg wurde von der SPD offiziell mit ihrem Heidelberger  Parteiprogramm von 1925 ad acta gelegt. Darin hieß es schließlich: „Sie (die SPD) tritt ein für die aus wirtschaftlichen Ursachen zwingend gewordene Schaffung der europäischen Wirtschaftseinheit, für die Bildung der Vereinigten Staaten von Europa, um damit zur Interessensolidarität der Völker aller Kontinente zu gelangen.“

Lenin hielt – ähnlich wie R. Luxemburg – die Einigung Europas aus ökonomischer Sicht „unter kapitalistischen Verhältnissen“ für „entweder unmöglich oder reaktionär“. Es war damals in der russischen Sozialdemokratie die Gruppierung um Trotzki, die mit der Losung der Vereinigten Staaten von Europa eine Alternative zum Gemetzel des Ersten Weltkrieges propagierte. Lenin hielt dem entgegen: „ Natürlich sind zeitweilige Abkommen zwischen den Kapitalisten und zwischen den Mächten möglich. In diesem Sinne sind auch die Vereinigten Staaten von Europa möglich als Abkommen der europäischen Kapitalisten (…) worüber? Lediglich darüber, wie man gemeinsam den Sozialismus in Europa unterdrücken, gemeinsam die geraubten Kolonien gegen Japan und Amerika verteidigen könnte , die durch die jetzige Aufteilung der Kolonien im höchsten Grade benachteiligt und die im letzten halben Jahrhundert unvergleichlich rascher erstarkt sind als das rückständige, monarchistische, von Altersfäulnis befallene Europa. (…)
Die Vereinigten Staaten der Welt (nicht aber Europas) sind jene staatliche Form der Vereinigung und der Freiheit der Nationen, die wir mit dem Sozialismus verknüpfen – solange nicht der vollständige Sieg des Kommunismus zum endgültigen verschwinden eines jeden, darunter auch des demokratischen Staates geführt haben wird.“  (W.I. Lenin: Über die Losung der „Vereinigten Staaten von Europa“, in Werke Bd. 21, S-342-346)

Europa-Strategien des Großkapitals vor dem  Ersten Weltkrieg

Der von Rosa Luxemburg als reaktionärer Sozialistenfeind und Europa-Propagandist erwähnte Breslauer Professor Julius Wolf war führender Vertreter einer von zwei miteinander konkurrierenden europafreundlichen Interessensgruppen des deutschen Kapitals, und zwar des „Mitteleuropäischen Wirtschaftsvereins“, gegründet 1904. In ihm hatte sich das „neuindustrielle Kapital, den eng mit der Deutschen Bank und ihrem damaligen Chef Georg von Siemens verbundenen Chemie- und Elektrokonzernen“ organisiert. In dem älteren, 1891 gegründeten „Alldeutschen Verband“  hatte sich vor allem das „schwerindustrielle Kapital“ organisiert.“  (R. Opitz: Europastrategien des deutschen Kapitals, 1900-1945, S. 30)
Aus der von R. Opitz zusammengestellten riesigen Dokumentensammlung aus der Zeit vor  und nach dem Ersten Weltkrieg erwähne ich den Auszug aus dem Bericht über die „konstituierende Versammlung des Mitteleuropäischen Wirtschaftsverein“; gehalten von dem von R. Luxemburg erwähnten Sozialistenfeind Prof. J. Wolf , sowie den Auszug aus dem Bericht über  die „Erste Generalversammlung des Mitteleuropäischen Wirtschaftsvereins“ vom Mai 1907 mit einer bemerkenswerten Liste der Creme de la Creme des Industrie- und Finanzkapitals sowie  Regierungsapparats. Wolf zitierte in seinem Hauptreferat zustimmend Äußerungen des Bismarck-Sohnes, Fürst Herbert Bismarck, der sich zu den Zielen des „Mitteleuropäischen Wirtschaftsvereins“ folgendermaßen geäußert hatte:

„Den Gedanken eines mitteleuropäischen  Zollbundes – mitteleuropäische Zollallianzen sind gemeint – halte ich für so gesund, dass ich an seiner einstmaligen Realisierung nicht zweifle. Sollte ich mich darin täuschen, so sieht es mit der wirtschaftlichen Zukunft unseres alten Kontinents schlecht aus.“ (Opitz, a.a.O., S. 151)

Damit drückte Bismarck die Position eines immer größerer werden Teil der deutschen Großbourgeoisie aus,  die  zwar nicht sofort und gleich eine europäischen Zollunion verlangte oder anstrebte, die sich aber aus Sorge, in der Konkurrenz vor allem mit den erstarkenden USA, dem britischen Empire  und auch mit dem riesigen russischen Reich ins Hintertreffen zu geraten, diese strategische Option erschließen wollte. Das anfänglich noch zögerliche Auswärtige Amt reflektierte in einer internen Einschätzung diese  Entwicklung im Vorfeld der Gründung des Mitteleuropäischen Wirtschaftsvereins so: „Von vielen Seiten bereits ist die Ansicht vertreten worden, dass die mittleren und westlichen Staaten des europäischen Kontinents einen Zoll- und Wirtschaftsbund (europäischen oder mitteleuropäische Zollunion) bilden sollten, um als gleichwertiger Faktor den drei anderen großen Wirtschaftsgebieten: russisches Reich, Vereinigte Staaten von Amerika und Großbritannien nebst Kolonien und Besitzungen entgegentreten zu können. Der Gedanke hat viel Bestechendes an sich (…)“. (Opitz, a.a.O., S. 146)

Europa-Pläne des deutschen Faschismus

Ich mache einen zeitlichen Sprung von 40 Jahren, in denen sich die Idee der „Vereinigten Staaten von Europa“ immer stärker in der Öffentlichkeit als fester Teil der Langzeitplanung des deutschen Imperialismus Terrain eroberte. Am 05. April 1943  erließ der damalige Nazi-Außenminister Ribbentropp die „Verfügung über die Bildung eines Europa-Ausschusses im Auswärtigen Amt nebst Richtlinien für dessen Arbeit“ (Vergl. R. Opitz: Europastrategien des deutschen Kapitals, S. 954 ff).

In den offiziellen Richtlinien für die Arbeit des Europa-Ausschusses, dessen Leitung Ribbentropp sich selbst vorbehalten hatte, hieß es unter Punkt 1:
„Es ist davon auszugehen, dass in Zukunft zwischen dem Großdeutschen Reich und den einzelnen europäischen Ländern Bindungen teils engerer teils loserer Art herzustellen sein werden, die sich einer schematischen Formel entziehen. Für jedes einzelne Land und Volk wird hier zu gegebener Zeit eine besondere Entscheidung zu treffen sein. Feststehend ist jedoch schon heute, dass das künftige Europa nur bei einer voll durchgesetzten Vormachtstellung des Großdeutschen Reiches Bestand haben kann. Die Sicherung dieser Vormachtstellung ist demnach als der Kern der künftigen Neuordnung anzusehen.“

Ribbentropp setzte mit seiner Europa AG Planungen der obersten Spitze des Nazis-Regimes um. Joseph Goebbels hatte fast zeitgleich (zum 8.5.1943) seinem Tagebuch folgende Europa-Konzeption anvertraut: „(…) hat der Führer die Konsequenz gezogen, dass das Kleinstaatengerümpel das heute noch in Europa vorhanden ist, so schnell wie möglich liquidiert werden muss. Es muss das Ziel unseres Kampfes bleiben, ein einheitliches Europa zu schaffen. Europa kann aber eine klare Organisation nur durch die Deutsche erfahren. Eine andere Führungsmacht ist praktisch nicht vorhanden.“ ( Opitz, a.a.O., S  943)

Wie man an der Ribbentropp-Direktive belegen kann, bemüßigte die Nazi-Führung sich dabei durchaus einer flexiblen Taktik, um den  verschiedenen europäischen Staaten das Gefühl von eigener Souveränität zu belassen.  Es sollte ein „Europäischer Staatenbund“ entstehen mit dem Recht jedes seiner „Gliedstaaten“, „ sein nationales Leben nach eigenem Ermessen, jedoch unter der Beachtung der Verpflichtungen gegenüber der europäischen Gemeinschaft zu gestalten.“ (ebenda, S. 960). Der „Europäische Staatenbund“ sollte demnach nicht ein europäischer Zentralstaat sein, wie man es eigentlich gemäß der Führerprinzip – und zentralistischen Staatskonzeption des Faschismus – hätte erwarten müssen. Nein, selbst auf dem Höhepunkt seiner Macht besaß der deutsche Imperialismus und Faschismus durchaus so viel strategische Klugheit – natürlich unter absoluter Priorität der Eigeninteressen – den abhängigen Mitgliedsstaaten zumindest einen Anschein von Souveränität belassen zu wollen.
Ein knappes halbes Jahr danach legte das Ribbentropp-Ministerium den „Entwurf für eine Denkschrift des Auswärtigen Amtes über die Schaffung eines Europäischen Staatenbundesbundes´“ vor. Hitlerdeutschland knüpfte damit nahtlos an die schon viel älteren Europa-Konzeptionen des deutschen Imperialismus von Anfang des 20. Jahrhunderts an.

Neuer Anlauf zu einer imperialistischen Neuordnung Europas nach 1945

Die Neuordnung Europas unter offen faschistischem Vorzeichen zerschellte bekanntlich an der  Überlegenheit der Waffen der Siegermächte. Aber die Europa-Pläne blieben auf der historischen Agenda maßgeblicher Kreise der deutschen und europäischen Bourgeoisie. So entstand nach 1945 ein neues „Westeuropa“  mit konsequent antisozialistischer Programmatik und Ausrichtung militärischer Komponente und eingebaut in die antisozialistische NATO ein imperialistisch dominiertes einheitliches Wirtschafts-, und Währungsgefüge, mit den Zentralmächten BRD und Frankreich, das sich immer mehr zu einem europäischen  supranationalen  Gebilde mit vielen  Merkmalen einer neuen Staatlichkeit entwickelt. Es ist ein supranationaler staatsmonopolistischer Kapitalismus entstanden; dessen  Grundlagen bildeten zunächst die Montanunion und die EWG.

Leitend und absolut prägend war immer die Dominanz der Interessen des europäischen Großkapitals. Das was an sozialen Fortschritten auf europäischer Ebene errungen wurde, fällt oftmals gegenüber den sozialeren und  demokratischeren Regelungen auf der nationalstaatlichen Ebene  deutlich ab. Eine soziale und demokratische Ursprungsphase, zu der man  heute wieder zurückkehren könnte, wie es die Linkspartei und der BRD oder auch die EL, propagieren,  hat es nie gegeben.

Die DKP hat seit ihrer Neukonstituierung eine sehr klare und kritische Position gegenüber den  verschiedenen „Etappen der sog. „Europäischen Einigung“ vertreten. In den Thesen des Düsseldorfer Parteitags von 1971 hieß es dazu in These 25.

„Die imperialistische Europakonzeption zielt auf die weitere Integration der westeuropäischen Staaten, um die ökonomische und politische Basis der NATO zu stärken. Der westdeutsche Imperialismus drängt auf die Herstellung eines monopolkapitalistisch beherrschten, einheitlichen Westeuropa. Er verfolgt damit die Absicht, seine Pläne nach Vorherschaft in diesem Teil unseres Kontinents weiter voranzutreiben und die westeuropäischen Länder für seine eigenen antisozialistischen Ziele einzuspannen.

Die Feststellung Lenins, dass eine europäische Einigung unter kapitalistischen Verhältnissen reaktionär ist, weil es sich um ein Komplott gegen den Sozialismus handelt, trifft voll auf die westeuropäische Integration  zu.“

Im ersten Parteiprogramm der DKP von 1978 wird die Rolle des BRD-Imperialismus  beim Prozess der europäischen Integration ähnlich scharf beurteilt. (S. 22/23) Nach dem Sieg der Konterevolution in den Ländern des realen Sozialismus in der UdSSR und Europa formulierten die „Thesen zur programmatischen Orientierung der DKP“ von 1993 die Kritik der DKP an dem unter der  Dominanz des BRD-Imperialismus stehenden europäischen Einigungsprozess ähnlich.

Und auch das neue Parteiprogramm von 2006 ist frei von Illusionen über den europäischen Einigungsprozess: „Die ökonomisch stärksten  europäischen Länder – allen voran Deutschland – erhöhen unter der europäischen Flagge ihre eigenes Gewicht in der Weltpolitik und auf den Weltmärkten. So versucht die Berliner Regierung, die außenpolitische und militärische Einigung der Europäischen Union zu forcieren, um damit größere Einflussmöglichkeiten zu erlangen.“ (DKP Programm S. 14/15)

Mit den Verträgen vom Maastricht und Lissabon und der gemeinsamen Währung  Euro wurden trotz des Scheiterns einer europäischen Verfassung die wichtigsten Voraussetzungen für  eine formal föderative Europäische Union geschaffen, die von der einer wahren Kontrolle nicht zugänglichen Brüsseler Kommission zentralistisch gesteuert und kontrolliert wird.  Es stellt sich daher die Frage wieso vor diesem geschichtlichen und aktuellen Hintergrund eine Losung vertreten werden kann wie von der „EL“ und der „Linkspartei“ , dass man zu den „sozialen und demokratischen Ursprüngen“ der europäischen Einigung zurückkehren müsse und auch könne. Sogar von einer „Neugründung“ Europas ist die Rede.

Dies stellt die Geschichte, den Zweck und die historische Funktion der von den Zentren des  deutschen und europäischen Groß- und Finanzkapitals gesteuerten  “EU“ völlig auf den Kopf. Das ist m.E .eine Sicht auf die Geschichte und das Wirken der EU, die mit der Realität nichts zu tun hat.

Ich halte es mit dem Satz des DKP Programms: „Der  imperialistische Charakter der EU-Konstruktion macht  … die Erwartung illusorisch, diese Europäische Union könne ohne einen grundlegenden Umbruch in ihren gesellschaftlichen Verhältnissen zu einem demokratischen, zivilen und solidarischen Gegenpol  zum US-Imperialismus werden.“ ( Programm S. 16)

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