„Die Krankheit des 21. Jahrhunderts ist der Stress“, schrieb der
belgische Arzt und Genosse Hans Krammisch in seinem aktuellen Buch über
den Stress in der Arbeit. Wie recht er damit hatte, zeigt der jüngst
veröffentlichte „Stressreport Deutschland 2012“. Waren früher
Staublungen der Bergleute, Bleivergiftungen der Schriftsetzer und
kaputte Kreuze der Fernfahrer typisch für Berufskrankheiten, so sind
dies heute Magengeschwüre, Bluthochdruck, Herzinfarkt und das sogenannte
Burnoutsyndrom.
59 Mio. Krankheitstage, 28 Mrd. Euro Behandlungskosten
und 41 % aller Frühverrentungen im Durchschnittsalter von 48 Jahren
allein infolge psychischer Erkrankungen schrecken sogar bürgerliche
Ökonomen und Politiker auf. Alle finden es schlimm. Bei der Frage nach
den Ursachen und der richtigen „Medizin“ dagegen gehen die Meinungen
dann aber gehörig auseinander. Dass das auch etwas mit Kapitalismus zu
tun hat, bleibt in den Mainstream-Medien unerwähnt.
Unter kapitalistischen Verhältnissen hat sich die
wissenschaftlich-technische Revolution der letzten Jahrzehnte, der
Siegeszug der Mikroelektronik, gegen die Arbeitenden gerichtet, statt
ihnen einen Anteil an der Produktivkraftentwicklung zu bringen, z. B.
wesentlich kürzere Arbeitszeiten. Wie zuvor in der Produktion, wurden
Dienstleistung, Verwaltung, Entwicklung und Planung in einzelne
Tätigkeiten zerlegt und so wieder zusammengefasst, dass immer mehr
eintönige Arbeit den Berufsalltag bestimmt und kreative Bereiche bei
wenigen „Spitzenkräften“ verbleiben. Zudem ermöglichen die neuen
Produktionsmittel immer mehr Leistungs- und Verhaltenskontrollen bis hin
zur Videoüberwachung, die CDU und FDP jüngst im
„Arbeitnehmerüberwachungsgesetz“ weitgehend legalisieren wollten.
Hatte
der Fließbandarbeiter nach Feierabend und im Urlaub noch seine Ruhe,
wird die jetzt vielen mit Handy, Laptop, Smartphone usw. geraubt.
Ständige Erreichbarkeit, auch im Urlaub, nicht erfasste Überzeiten
sonntags am Laptop usw. verwischen die Grenzen zwischen Arbeit und
Freizeit immer mehr. Das „Menschsein“ kommt immer weniger vor, damit
auch die Regenerierung von Körper und Geist, man wird krank.
Stressfaktoren sind auch die oft langen Wege zur Arbeit. Viele haben
Abwesenheitszeiten von über 12 Stunden.
Sogenannte leistungsbezogene Entgeltbestandteile, Prämien statt
Festlohn, betriebliche Beurteilungssysteme etc. sind weitere
Stressursachen. Wenn eine große Tageszeitung schrieb, dass selbst Schuld
habe, wer nach Feierabend seine dienstlichen Mails lese, mag das
juristisch stimmen. Es hilft aber im Alltag nicht denen, die Montags
morgens erst mal ihre elektronische Post lesen, während die
„Schwarzarbeiter“ vom Wochenende gleich loslegen. Erstere sind dann die,
die „rumsitzen“, während andere arbeiten. Mit allen Folgen durch oben
genannte Systeme.
Frau von der Leyen sieht die betrieblichen
„Sozialpartner“ in der Pflicht. Betriebsräte sollen reparieren, was
profitgesteuerte Manager kaputt machen. Tatsächlich haben Betriebsräte
beim Arbeitsschutz einige Möglichkeiten, Technologieberatungsstellen des
DGB unterstützen sie dabei. So gibt es bei VW und bei Daimler
Betriebsvereinbarungen, nach denen außerhalb gewisser Kernzeiten
dienstliche Blackberrys nicht mehr erreichbar sein dürfen bzw. im Urlaub
eingehende E-Mails gelöscht werden können. Aber nur gut 40 % aller
Beschäftigten arbeiten in Betrieben mit Betriebsräten, und längst nicht
überall sind die so handlungsfähig wie in den genannten Konzernen. Es
gibt tausende Ratgeber zum Umgang mit Stress, sowohl Personen als auch
Bücher, Hefte, Videos etc. Den meisten ist gemein, dass sie nur an den
Symptomen herumdoktern. Wenn jemand krank wurde, weil zur leistbaren
Arbeitsmenge X noch die Menge Y hinzukam, dann kann der ggf. mit Sport,
autogenem Training und vieles andere mehr sich selbst, zumeist in der
Freizeit, so stärken, dass dann X+Y zu schaffen sind.
Die
Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Konkurrenz werden dann aber bald
dazu führen, dass dem „motivierten und belastbaren Mitarbeiter“
zusätzlich die Arbeitsmenge Z aufgebrummt wird und er dann unter X+Y+Z
an den Punkt kommt, wo ihm alle Ratgeber nicht mehr weiterhelfen können.
Zu allem kommt die steigende Verunsicherung über die eigene Zukunft.
Werde ich meinen Arbeitsplatz behalten, kriege ich als 50-Jähriger
überhaupt wieder Arbeit oder als 25-Jähriger endlich mal einen
unbefristeten Job? Zu den Ablenkungsstrategien von Personalmanagern
gehört auch zu bezweifeln, dass der Stress großteils beruflich bedingt
ist. Häusliche und familiäre Probleme seien viel gravierender. Klar,
wenn der Partner nach 13 Stunden Arbeit und Bahnfahrt genervt nach Hause
kommt und der Jüngste noch Hilfe bei den Schularbeiten will, die
Partnerin auf dem Sprung zur Nachtschicht ist, der Sohn gefrustet in der
vierten Warteschleife statt auf einem Ausbildungsplatz ist und die
Tochter zwei eigene Minijobs koordinieren muss, dann liegen öfters die
Nerven blank, ist heimischer Zoff vorprogrammiert.
Wo da aber die
häuslichen Probleme herkommen, sieht doch der Blinde mit dem Krückstock.
Es will niemand behaupten, dass alle Probleme mit
Arbeitszeitverkürzung zu lösen seien, schon gar nicht in einer
kapitalistischen Gesellschaft. Dennoch wäre eine Arbeitszeitverkürzung
auf 30 Stunden in der Woche nicht nur gut zur Schaffung und Sicherung
von Arbeitsplätzen und für ein neues Normalarbeitsverhältnis als
Voraussetzung für wirkliche Gleichstellung der Geschlechter. Die
30-Stunden-Woche bei vollem Lohn und Personalausgleich wäre auch ein
großer Schritt zu Arbeitsverhältnissen, in denen die Arbeitenden statt
nur noch Anhängsel von Maschinen und Computern auch gesündere Menschen
sein könnten.
Gastkolumne von Volker Metzroth (Aus der UZ vom 08.02.2013)
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