Die
Regierungen in der EU, unter einander allerdings strategisch keineswegs einig,
sind damit beschäftigt, aus dem Desaster ihrer Ukraine-Politik denn doch noch
einen halben Erfolg zu machen – das Land soll ohne allzu hohe Kosten
“europäisiert” werden – ein riskantes Unternehmen.
Und gleichzeitig läuft der
Wahlkampf für das Europäische Parlament an, das Interesse der Bürger an diesem
Vorgang ist gering, die Skepsis gegenüber “Brüssel” groß; also sind hierzulande
die Parteien der Großen Koalition darum bemüht, ihre Anteile an den Stimmen
wenigstens zu halten und EU-kritische Bewerbungen um Mandate an Erfolgen zu
hindern.
“Europafeindliche”
Politik damals habe zwei schreckliche kriegerische Konflikte zwischen
europäischen Völkern hervorgerufen, deshalb sei nach 1945 die Einigung Europas
angezielt worden. Und nun sei die Europäische Union die Garantie für den
Frieden. Das klingt wie ein Argument, dem man sich als verständiger Mensch mit
demokratischem Weltbild nicht entziehen kann. Mit der historischen Wirklichkeit
allerdings hat es wenig zu tun. Ein Blick zurück, in die deutsche Ideenwelt des
Jahres der Zeit vor dem Untergang des Hitlerstaates:
Wir
können heute die begründete Hoffnung aussprechen, dass mit diesem zweiten
Weltkrieg die Epoche der Kriege innerhalb Europas für alle Zeiten beendet sein
werde. Dies ist zunächst das wesentlichste Ergebnis, das dieser Krieg zeitigen
muss.
So zu
lesen in dem Buch “Das Zeitalter des Ikarus – Von Gesetz und Grenzen unseres
Jahrhunderts”, im Jahre 1944.
Ein
Gegner der Nazis, der einen solchen Gedanken zu Papier und heimlich unters Volk
brachte? Keineswegs. Autor der Schrift war Giselher Wirsing, eine Spitzenkraft
der NS-Publizistik, eng verbunden mit Himmlers Reichssicherheitshauptamt,
Herausgeber des einflussreichen Periodikums “Das XX. Jahrhundert”,
Hauptschriftleiter der “Münchener Neuesten Nachrichten” und der
Wehrmachtsillustrierten “Signal”, die NS-Propaganda in den deutschbesetzten
Ländern Europas betrieb; das “Ikaros”-Buch erschien im systemtreuen Verlag
Diederichs in hoher Auflage.
Die
antike Sagenfigur im Titel sollte nicht etwa andeuten, dass Deutschland mit
seinem Drang nach der “Sonne” sich die Flügel verbrannt habe. Wirsing
philosophierte vielmehr über ein neues globalpolitisches “Luftzeitalter”, in
dem die europäischen Völker in den Abgrund geraten würden, wenn sie nicht
Bodenhaftung fänden durch Zusammenschluss zu einem “Großraum”, der dem “Osten”,
dem “Sowjetismus”, entgegentreten und mit dem transatlantischen “Westen”, den
USA, in Konkurrenz treten müsse. Selbstverständlich war bei Wirsing dem
Deutschen Reich die Führungsrolle im vereinten Europa zugedacht, es habe dafür
ja auch genug soldatische Opfer gebracht.
Aus der “wirtschaftlichen
Schicksalsgemeinschaft Europa” sollte eine “deutsch bestimmte
Völkergemeinschaft” werden
SS-Intellektuellen
wie Wirsing war ab Mitte 1944 klar geworden, dass Hitlerdeutschland militärisch
ins Hintertreffen geriet. Verstärkt warben sie nun um Hilfstruppen aus anderen
europäischen Ländern, um “europäische Legionen” unter deutschem Kommando – und
zugleich sandten sie Botschaften der Bündnisbereitschaft aus an die
angelsächsischen Mächte, an England, das leider 1939 die “europäische Idee
verraten” habe, dies aber noch wiedergutmachen könne, und an die Vereinigten
Staaten von Amerika. Die hatte Wirsing bis dahin heftig beschimpft (“Der
maßlose Kontinent” hieß sein 1942 erschienenes Propagandabuch über die USA),
doch nun wurden neue Bundesgenossen gesucht für den “Kampf gegen den
Bolschewismus”, eine politische Strategie, mit der sich kurz vor Torschluss
dann auch der Reichsführer SS anfreundete.
“Wochenschrift
für europäische Politik, Wirtschaft und Kultur” nannte sich eine üppig
ausgestattete Zeitung unter dem Titel “Neue Ordnung”, die ab 1941 in Zagreb von
dem in faschistischer Polemik besonders talentierten deutschen Journalisten
Hermann Proebst herausgegeben wurde. Mit eifriger Unterstützung der Führer des
kroatischen Ustascha-Staates warb sie für die deutsch-europäische
“Großraum”-Politik speziell im balkanischen Terrain – ähnliche Organe hatten
das Ribbentrop-Ministerium und die SS-Zentrale in anderen europäischen Ländern
angesiedelt. Auch hier hießen im Jahre 1944 die Schlagzeilen: “Der Kampf um das
Abendland”, “Der Kontinent schlägt zurück – gegen die Europafeinde”.
Noch im
Januar 1945, der “Endkampf” zeichnete sich schon ab, hielt der SS-Führer und
“Raumordnungs”-Experte Alexander Dolezalek vor NS-Funktionären einen höchst
anspruchsvollen Schulungsvortrag zu dem Thema “Was ist europäisch?”. Auch
Dolezalek bemühte die Geschichtsphilosophie, als deutsche Mission stellte er
heraus, durch “militärische und politische Kriegsführung” dafür zu sorgen, dass
aus der “wirtschaftlichen Schicksalsgemeinschaft Europa” eine “deutsch
bestimmte Völkergemeinschaft” werde, die im Inneren Frieden halte. Offenbar
erwartete Dolezalek, ein solches Konzept könne längerfristig auch nach einem
für Deutschland verlorenen Krieg sich durchsetzen; er schloss seine visuell
gestützten Ausführungen mit dem Dürer-Bild “Ritter, Tod und Teufel” und schrieb
darunter in großer Schrift: “Der Aufgang des Abendlandes”.
Der “europäische Einigungskrieg” und die
ökonomische Integration
Dass
eine ökonomische “Integration” Europas im Interesse deutscher Industrie- und
Kapitalgruppen geplant und organisiert werden müsse, war schon seit längerem
die herrschende Meinung in den Think Tanks des NS-Regimes, vor allem bei den
Politikberatern aus dem Schwarzen Korps. Hier galten Konzepte einer
“deutschvölkischen Autarkie” als Phantastereien. Eine “Europäische Wirtschaftsgemeinschaft”
kündigte 1940 auch Walther Funk an, NS-Wirtschaftsminister und Präsident der
Reichsbank (Politische Autobahn). Eine “Gesellschaft für europäische
Wirtschaftsplanung und Großraumwirtschaft” leitete der Unternehmer und
NS-Ökonom Werner Daitz, an einer seiner Veröffentlichungen war als Autor Karl
Schiller beteiligt, nach 1945 einer der Wirtschaftsminister der Bundesrepublik.
Als
“Europafreund” tat sich ganz besonders Franz Alfred Six hervor, einer der Chefs
im Reichssicherheitshauptamt, NS-Wissenschaftsmanager und Auslandsexperte,
Ideologe der “Lösung der Judenfrage” und zeitweise Vorgesetzter Eichmanns. Die
hitlerdeutschen Feldzüge charakterisierte er als “europäischen Einigungskrieg”,
aus den “Gräbern und Schlachtfeldern des Ostens” werde “ein neuer Menschentypus
entstehen”, “der Freiheitskämpfer Europas”; so sei die “bessere Zukunft und
Einheit Europas” garantiert.
Für
eine Europäische Union wurden politische Architekturen entworfen: Es sollte der
deutschen Herrschaft einverleibte oder direkt unterworfene Länder geben, von
der Ukraine bis zu den Niederlanden, und solche mit Eigenstaatlichkeit,
Italien, Frankreich, Spanien etwa – “die deutsche Führung ergibt sich dabei
ganz von selbst”, formulierte Werner Daitz die angezielten Machtverhältnisse.
Zölle sollten abgebaut, Banken und Unternehmen konzentriert, Arbeitskräfte
europäisch-mobil gemacht werden. Eine europäische Streitmacht unter deutscher
Regie war vorgesehen. Dem so vereinten Europa wurde die Fähigkeit zugesprochen,
sich Einflusszonen außerhalb seiner Grenzen zu verschaffen, an Afrika, an den
Nahen Osten und an den eurasischen Süden war vor allem gedacht. Das russische
Reich, ob nun kommunistisch oder nicht, sollte “zergliedert” werden.
Diese
Pläne hatten ihre Vorgeschichte. Schon vor und dann verstärkt im Ersten
Weltkrieg hatten sich deutsche Industrieherren, Bankiers und Politiker Gedanken
darüber gemacht, wie man ein “Neues Europa” zustande bringen könne. Der
deutsche Reichskanzler Theobald von Bethmann-Hollweg fasste diese im September
1914 so zusammen: Ein europäischer “Verband” sei zu gründen, “unter äußerlicher
Gleichberechtigung” seiner Mitglieder, aber “tatsächlich unter deutscher
Führung…und bei wirtschaftlicher Vorherrschaft Deutschlands”.
Diese
Pläne deutscher “Europafreunde” realisierten sich nicht, weder mit dem Ersten
noch mit dem Zweiten Weltkrieg. Eine Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG)
wurde im Zuge des Kalten Krieges eingerichtet, sie erweiterte sich zur
Europäischen Union und dehnte sich nach dem Ende des sowjetischen Blocks in
östlicher und südöstlicher Richtung aus. Ein Resultat kriegerischer deutscher
Zugriffe ist sie nicht, und ihr politisches System entspricht glücklicherweise
nicht den Nazi-Plänen. Aber speziell deutschen Interessen auf der Kapitalseite
war die EWG und ist heute die EU durchaus dienlich, und bemerkenswert ist, wie
sich ökonomische und auch geopolitische Elemente des Konzepts “europäischer
Ordnung” aus wilhelminischen und dann großdeutschen Zeiten in die Gegenwart
hinein transferiert haben.
Was aus Nazi-Vordenkern der “Einheit Europas”
nach 1945 wurde
Ein
biographischer Nachtrag noch zu Nazi-Vordenkern der “Einheit Europas”: Giselher
Wirsing machte nach 1945 bald wieder Karriere, er wurde Chefredakteur von
“Christ und Welt”, der zeitweilig auflagenstärksten Wochenzeitung in der
Altbundesrepublik. Hermann Proebst avancierte zum Chefredakteur der
“Süddeutschen Zeitung” und wirkte als Kurator einer Vereinigung, die nach einer
kurzen Schamfrist wieder “Südosteuropa-Gesellschaft” hieß, wie schon in
Nazi-Zeiten. Alexander Dolezalek gründete in den 1950er Jahren das
“Gesamteuropäische Studienwerk” in Vlotho, eine behördlich anerkannte Stätte
der Jugendbildung. Franz Alfred Six wurde nach einer Weile der Haft Verleger
und Werbechef bei Porsche, er unterhielt gut Beziehungen zur Journalistik, u.a.
zum “Spiegel”. Werner Daitz starb gegen Kriegsende 1945. Walther Funk kam beim
Nürnberger Prozess vergleichsweise glimpflich davon, er war nach seiner
Haftentlassung 1957 zu alt, um wieder gesellschaftlich aktiv zu werden.
An die
Millionen von Toten des Krieges für die “europäische Neuordnung”, an die Opfer
der damit verbundenen “Umsiedlungen” und “ethnischen Reinigungen” haben sich
die überlebenden NS-Europaplaner nach 1945 nicht mehr erinnert. In einer Sache
mussten sich Männer wie Wirsing, Proebst und Six nun umorientieren: Den USA
hatten sie Respekt zu zollen, ohne deren Rückendeckung war das “neue Europa”
nicht zu etablieren. Aber der “Todfeind Bolschewismus” blieb ihnen noch einige
Zeit erhalten, und so war für sie das “Abendland” an einer gewohnten Front
weiter zu retten. Auch mittels militärischer Schlagkraft, wie denn sonst. So
konnten sich die ehemaligen Nazi-Europäer in ihrem Weltbild zur Hälfte
bestätigt fühlen.
Wirsing
und Co. agierten in der Mitte der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft. Anders
einer ihrer Gesinnungsgenossen aus NS-Zeiten, Arthur Ehrhardt, damals
Spezialist für “Bandenbekämpfung”. Er gründete 1951 in Coburg die Zeitschrift
“Nation Europa”, die lange Jahre das führende Organ “rechtsaußen” war, danach
bestrebt, eine gesamteuropäische faschistische Bewegung in Gang zu setzen. Die
Neubelebung solcher politischen Ambitionen hat er nicht mehr erlebt; derzeit
hat die Idee einer “europäischen Gemeinschaft” auch in ihrer extrem rechten
Variante wieder Auftrieb, zunächst gedacht als Nationen übergreifendes Bündnis
rechtspopulistischer oder neofaschistischer Parteien und Organisationen.
“Europa” als deklariertes Leitmotiv, so lässt sich resümieren, sagt noch nichts
aus über Menschenfreundlichkeit der politischen Inhalte, die sich damit
verbinden.
Auf die
Ukraine übrigens richteten sich starke Gefühle hitlerdeutscher Europaliebhaber.
“Wer Kiew hat, kann Moskau zwingen” – so ein historisches Kalkül. Befürworter
eines “europäischen Großraums” war auch Stepan Bandera, der legendäre Anführer
jener westukrainischen faschistischen und antisemitischen Bewegung, die
zeitweise mit der deutschen Besatzung kooperierte. Die Partei Swoboda und der
“Rechte Sektor” pflegen die heroisierende Erinnerung an ihn.
von
Arno Klönne
Quelle:
Telepolis 6. Mai 2014
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