Samstag, 18. März 2017

Zwischen Februar und Oktober

Lenins klare Strategie und bewegliche Taktik

Die russische Revolution von 1917 war die größte Volksrevolution der Neuzeit. Innerhalb von acht Monaten durchlief sie in einem einheitlichen Prozess die Etappen der bürgerlich-demokratischen Umwälzung hin zur Errichtung der Macht der Arbeiterklasse in Form des Sowjetstaates.

Sie veränderte die Welt, bestimmte für sieben Jahrzehnte maßgeblich die Geschichte des 20. Jahrhunderts. (…) 

Beide Etappen dieser ersten vom imperialistischen Krieg ausgelösten Revolution waren geprägt von Aktionen der Volksmassen, vor allem der Arbeiter und Soldaten, die in ihrer Mehrzahl in Uniform gesteckte Bauern waren.

Was die Februar- von der Oktoberrevolution unterscheidet, ist das veränderte Klassenbewusstsein, die klare Zielstellung einer durch Theorie und praktische Erfahrung begründeten Strategie und eine starke Organisation der geschlossen handelnden Arbeiterpartei.

Die Februarrevolution war eine spontane Volksrevolution gegen den Zarismus und den Krieg. Viele, sehr unterschiedliche Kräfte wirkten zusammen. Der Krieg hatte alle Schwächen des zaristischen Systems sichtbar gemacht. (…) Selbst unter den engsten Stützen des Zarismus wollte man die Ablösung des Zaren, eine Auswechslung der Person durch einen anderen aus dem Herrscherhaus der Romanows, um den Zarismus als System zu retten.

Die Kriegsverbündeten fürchteten um den Zusammenbruch der Front im Osten Europas. Die Duma-Mehrheit aus den vorwiegend den Interessen des Kapitals verbundenen Parteien erhoffte von einem Thronwechsel Zugeständnisse für eine konstitutionelle, parlamentarische Regierungsform.

Ausschlaggebend für den Sturz des Zarismus war die Aktion der Petrograder Arbeiter, die gegen Hunger und Aussperrung durch die Unternehmer mit Massenaktionen auf den Straßen der Hauptstadt reagierten und dabei nach mehrtägigem Kampf auch die Soldaten der Garnison auf ihre Seite zogen. Es war also eine klassisch revolutionäre Situation, in der die da oben nicht mehr weitermachen konnten wie bisher, die da unten aber auch nicht mehr gewillt waren, sich der alten Herrschaft zu beugen.

Doch den Arbeitern fehlte eine klare Führung. Zwar entstanden spontan auch die Sowjets als Machtorgan der Arbeiter und. Soldaten, doch an der Spitze standen Führer der Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die auf einen Pakt mit den kapitalistischen Parteien setzten und mit ihnen eine provisorische Regierung bildeten. In dieser Doppelherrschaft von Sowjets als Organ der revolutionären Massen und einer provisorischen Regierung der Bourgeoisie lag die Besonderheit der russischen Revolution. (…)

Die Bolschewiki im Februar/März 1917

Lenin spricht in Petrograd, 4. (17.) April 1917, Foto: UZ
Sozialrevolutionäre und Menschewiki hatten in den ersten Revolutionstagen den Vorteil, dass sie während des ganzen Krieges mit ihren Dumafraktionen und ihrer Presse legale Möglichkeiten nutzen konnten. Im Gegensatz dazu waren die Abgeordneten der Bolschewiki im November 1914 verhaftet und verbannt worden, die „Prawda“ und andere legale Medien wurden unterdrückt.

Als die Sowjets entstanden, wirkten dabei zwar Bolschewiki aus den Betrieben mit, blieben jedoch in der Minderheit. Die aus der Verbannung zurückkommenden Mitglieder des 1912 gebildeten Russischen Büros des ZK der Bolschewiki, darunter Kamenew, der als Beauftragter des ZK 1913 aus der Emigration zurückgekehrt war und die Leitung der Fraktion und der Prawda übernommen hatte, Stalin und Ordschonikidse als Mitglieder des ZK und viele andere leisteten eine große Arbeit, um die Verbindungen zu den Parteiorganisationen wieder herzustellen und ein einheitliches Handeln der Partei zu sichern. Innerhalb von Tagen konnte die „Prawda“ wieder erscheinen.

Hatte die illegale Partei am Beginn der Revolution 24 000 Mitglieder, so verachtfachte sich ihre Zahl bis Ende April. Die Bolschewiki wurden erstmals legal und zugleich Massenpartei. Doch auch die führenden Bolschewiki hatten die durch Imperialismus und Krieg hervorgerufenen neuen Bedingungen des Klassenkampfes nicht verarbeiten können. Sie benutzten die alten Losungen der Revolution von 1905, darunter auch die Kontrolle der provisorischen Regierung. Sie erkannten nicht die Möglichkeit einer Entwicklung der Revolution über den Rahmen der bürgerlichen Ordnung hinaus.

Lenins Weg setzt sich durch

Lenin kehrte im April aus der Emigration zurück. Zum Reisegepäck gehörten die Aprilthesen, gemeinsam mit Sinowjew noch in der Schweiz formuliert. Im Mittelpunkt stand die Haltung zum imperialistischen Krieg und zur provisorischen Regierung, die diesen Krieg mit den alten imperialistischen Zielen fortsetzen wollte. Keine Unterstützung der provisorischen Regierung, alle Macht den Sowjets· waren die Losungen für den Übergang zu einer zweiten Etappe der Revolution, an deren Ende eine Staatsmacht der Arbeiterklasse nach dem Vorbild der Pariser Kommune stehen sollte.

Für die Partei forderte er ein neues Programm. In den Jahren der erzwungenen Emigration hatte Lenin die neuen Bedingungen für die Arbeiterbewegung in der Zeit des Imperialismus erforscht. Mit der Herausbildung der Monopole, der Unterordnung der Politik unter ihre Interessen, dem Streben nach Neuaufteilung der Welt, der Territorien, der Märkte und der Rohstoffe erkannte er die Ursache des imperialistischen Krieges, sah aber auch die Möglichkeit der Überwindung der Ursachen des Krieges durch eine sozialistische Revolution.

Auf den Zimmerwalder Konferenzen der Kriegsgegner hatte er sich mit den Illusionen über einen Verständigungsfrieden auseinandergesetzt, hatte in der Zimmerwalder Linken den Kern für eine revolutionäre Beendigung des Krieges und für eine neue Internationale zusammengeführt. In der russischen Revolution und den einmaligen Bedingungen der Doppelherrschaft sah er die Möglichkeit zur Verwirklichung der antiimperialistischen Strategie.

Die Aprilthesen stießen nicht nur auf den Widerstand der in den Sowjets führenden Kräfte, sondern auch auf Unverständnis innerhalb der Partei. Lenin verfügte nicht über einen Apparat. um seine Meinung durchzusetzen, sondern nur über die besseren Argumente. Doch vor allem die praktische Erfahrung wirkte mit, als ausgerechnet am 1. Mai bekannt wurde, dass die Provisorische Regierung den Verbündeten die Fortsetzung des Krieges durch eine russische Offensive zugesagt hatte. Auf der gleichzeitig tagenden Parteikonferenz wurden Lenins Thesen in allen wesentlichen Punkten angenommen.

Dennoch wurden in allen folgenden Perioden bis zum Oktober immer wieder auch unterschiedliche Meinungen und offen ausgetragene Differenzen sichtbar. Die Bolschewiki siegten auf dem Weg zum Oktober als diskutierende und in entscheidenden Situationen einheitlich handelnde Partei.

Im Leitungskollektiv der Partei waren die unterschiedlichen Positionen vertreten. Mit Lenin wirkten alte Bolschewiki wie Kamenew, Sinowjew, Stalin ebenso wie der neu zu den Bolschewiki gekommene Trotzki. Fast alle gerieten bei den komplizierten Vorgängen zeitweilig in Detailfragen in Widerspruch zu Lenin, doch es war gerade dessen Autorität, die es schaffte, auch nach harten Diskussionen wieder zu gemeinsamer Arbeit zu finden. Die Bolschewiki waren stark, weil ihre Leitung kollektiv nach Lösungen suchte.

Die Stärke der Bolschewiki ergab sich auch daraus, dass sie es verstanden, in wechselnden Situationen Losungen zu verändern, ohne das Ziel preiszugeben. Als im Sommer die Sowjetmehrheit die Unterstützung der Kerenski-Offensive beschloss, musste die Losung „Alle Macht den Sowjets“ zurückgestellt werden, zugleich entstand die neue Forderung, jetzt um neue Mehrheiten in den Sowjets zu ringen.

Als Petrograds Arbeiter bewaffnet gegen die Kerenski-Politik demonstrieren wollten, waren es die Bolschewiki, die in einer stürmischen Nachtsitzung durchsetzten, unbewaffnet gegen die Kriegspolitik zu demonstrieren, in der richtigen Einschätzung, dass die Voraussetzungen landesweit für einen solchen bewaffneten Protest nicht ausreichten. Als die friedliche Demonstration dann dennoch zusammengeschossen wurde lernten die Massen die Fronten gegen den Feind im eigenen Land zu verstärken. (…)

Von Günter Judick
Aus: Geschichtskorrespondenz, April 2007

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