Freitag, 27. Januar 2017

"Dass Auschwitz nicht noch einmal sei"

Der Auschwitz-Prozess - Ein Lehrstück deutscher Geschichtsaufarbeitung

Als die sowjetischen Truppen am 27. Januar 1945 das Vernichtungslager Auschwitz befreiten, trafen sie zwar nur noch auf 6 000 Häftlinge, Alte, Kranke und nicht mehr Transportfähige. 

Gleichzeitig fanden sie Leichenberge und Hinterlassenschaften der Ermordeten, sowie Dokumente und Materialien, die das ganze Ausmaß dieses industriellen Massenmordes der faschistischen Vernichtungspolitik verdeutlichten. 

Damit wurde einmal mehr vor den Augen der ganzen Welt offenbar, welche Verbrechen der deutsche Faschismus auf sich geladen hatte und Auschwitz ist der Ort, mit dem sich die Gesamtheit der menschenverachtenden faschistischen Vernichtungspolitik verbindet.

Auschwitz, das war zuerst einmal ein Konzentrationslager im überfallenen Polen. Damit repräsentiert es sowohl die faschistische Expansion als auch die verbrecherische Okkupationspolitik gegenüber den östlichen Nachbarstaaten. Auschwitz wurde im nächsten Schritt eines der zentralen Lager, in denen die industrielle Vernichtung von Menschen aus rassistischen Gründen - vor allem der jüdischen Menschen, der Sinti und Roma und als Untermenschen deklarierter Slawen - umgesetzt wurde. Nach Auschwitz führten im Zuge der "Endlösung" zahllose Transporte aus allen Teilen der vom deutschen Faschismus okkupierten Länder, von Frankreich, Belgien, den Niederlanden, von Österreich, der ehemaligen Tschechoslowakei, aus Ungarn, aus der Sowjetunion und natürlich Polen selber. In Auschwitz wurde die Vernichtung durch Gas, die Ermordung durch Massenerschießung und auf weitere bestialische Weise praktiziert.

Der Aufsichtsrat, «Rat der Götter» der 1925 gegründeten I.G. Farben AG. Das großformatige Gemälde hängt im Bayer-Casino in Leverkusen.
Und Auschwitz war - am Beispiel von Auschwitz-Monowitz - das deutliche Symbol für die Ausplünderung der menschlichen Arbeitskraft bis zum Ende ihrer Leistungsfähigkeit für das Profitinteresse der Konzerne, in diesem Falle des IG-Farben-Konzerns, der auf mehreren Ebene von dem Elend dieser Häftlinge, von der faschistischen Vernichtungspolitik profitierte. Diese "Vernichtung durch Arbeit" ist untrennbar mit dem zynischen Motto "Arbeit macht frei", das über dem Haupttor des Stammlagers prangt, verbunden.

Auf der Konferenz von Jalta Anfang Februar 1945 vereinbarten daraufhin die Alliierten, dass die Verantwortlichen für diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit, gegen die Völker und Nationen und gegen den Frieden nach der Befreiung vor ein Gericht der Völker gestellt werden sollen. Dieses Gericht wurde in Nürnberg 1945 gebildet und definierte in Verfahren und in den anschließenden Urteilen gegen die Hauptkriegsverbrecher die Kriterien und Maßstäbe, an denen sich auch die weiteren Verfahren gegen faschistische Kriegsverbrecher orientierten.

In allen vier Besatzungszonen fanden neben dem Hauptkriegsverbrecherprozess und den Nachfolgeprozessen noch weitere Verfahren wie der Sachsenhausen-Prozess oder der Buchenwald-Prozess statt. In diesen Verfahren wurden vor allem die Verbrechen zur Anklage gebracht, denen sich die faschistischen Schergen - ob aus der SS, dem SD, der Gestapo oder anderen faschistischen Institutionen - gegen ausländische Gefangene, d. h. Staatsangehörige der Alliierten, schuldig gemacht haben. Für die Verfolgung dieser Verbrechen sahen sich die Alliierten als "Richter der Völker" verantwortlich. Die juristische Aufarbeitung von Verbrechen gegen Deutsche selber wurde in die Verantwortung der neu zu schaffenden deutschen Justiz gelegt.

Anders als in der SBZ und der späteren DDR, wo trotz einzelner Brüche eine konsequente Verfolgung der faschistischen Kriegsverbrecher von Anfang an betrieben wurde, zeigte sich die westdeutsche Justiz in den 50er Jahren äußerst zurückhaltend in der Ermittlung, Verfolgung und Anklageerhebung gegen faschistische Verbrecher. Immer wieder wurden Verfahren verschleppt, da sich die Gerichte nicht auf Zuständigkeiten der ermittelnden Gerichte verständigen konnten. Die Gründe hierfür lassen sich mit Stichworten wie Renazifizierung der Justiz und der Verfolgungsbehörden, gesellschaftliche Verdrängung der Verbrechen und "Integration" der Täter in die BRD umreißen.

IG Farben-Zyklon-B-Behälter
Erst mit dem Ulmer Einsatzgruppenprozess Ende der 50er Jahre, in dem das ganze Ausmaß der faschistischen Verbrechen während des Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion, die noch lange nicht gesühnt worden waren, offenkundig wurde, beschlossen die bundesdeutschen Länderjustizverwaltungen in Ludwigsburg eine Zentralstelle zur Sammlung und Sichtung der Akten und Dokumente zu den faschistischen Kriegsverbrechen einzurichten.

Dies war eine wichtige Voraussetzung, dass Staatsanwälte und Richter, wenn sie denn überhaupt ein ernsthaftes Interesse an der juristischen Aufarbeitung hatten, an entsprechendes Belastungsmaterial kommen konnten. Einer derjenigen, die aus antifaschistischer Überzeugung die Aufarbeitung der NS-Verbrechen betrieben, war der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer. Fritz Bauer (Jg. 1903) war seit 1920 Mitglied der SPD und fand 1930 Anstellung beim Amtsgericht Stuttgart. Als Sozialdemokrat und wegen jüdischer Abstammung inhaftiert und aus dem Staatsdienst entlassen, emigrierte er nach Dänemark und Schweden. 1949 nach Deutschland zurückgekehrt wurde er zuerst in Braunschweig, dann ab 1956 in Hessen Generalstaatsanwalt.

Er machte sich im Zusammenhang mit dem Eichmann-Prozess 1960/61 in Israel, der das Ausmaß der faschistischen rassistischen Vernichtungspolitik zum ersten Mal der Weltöffentlichkeit von Täterseite vor Augen führte, daran, Täter aus Auschwitz vor Gericht zu bringen. Rudolf Höß, der Kommandant von Auschwitz, war bereits 1947 in Polen angeklagt, verurteilt und hingerichtet worden. Das in diesem Zusammenhang veröffentlichte Material und dessen Aufzeichnungen boten wichtige Anhaltspunkte, auf deren Grundlage Fritz Bauer seine Ermittlungen aufnahm. Ausgangspunkt war die Anzeige eines ehemaligen Auschwitz-Häftlings, der einen seiner Peiniger entdeckt hatte, der in den 50er Jahren in der Bundesrepublik unbehelligt in Freiheit lebte. Fritz Bauer zog dieses Verfahren, das ursprünglich bei der Staatsanwaltschaft in Stuttgart lag, an sich und begann mit den Ermittlungen. Mehrere Jahre recherchierten Bauer, der Untersuchungsrichter Heinz Düx und sein Team, unterstützt vom Internationalen Auschwitzkomitee und seinem Präsidenten Hermann Langbein (Wien), bis es im Dezember 1963 zur ersten Verhandlungsrunde im Verfahren "Gegen Mulka und andere", dem legendären "Frankfurter Auschwitz-Prozess" kam. Angeklagt waren 22 Personen, darunter ein Lagerführer, SS-Ärzte, Angehörige der Lager-Gestapo und ein Rapportführer. Es waren sicherlich nicht die Hauptkriegsverbrecher, aber es waren Täter, die zum Funktionieren dieses Massenmordes ihren aktiven Beitrag geleistet haben.

Haare, die den Opfern in Auschwitz abgeschnitten wurden, um sie als Rohstoff in der Textilindustrie zu verwenden - Foto Rote Armee 1945
Der Prozess zog sich über 20 Monate hin. 360 Zeugen, darunter über 200 ehemalige Häftlinge von Auschwitz, wurden gehört. Eine Besonderheit dieses Verfahrens war auch, dass das Gericht - natürlich in Abwesenheit der Angeklagten - einen Ortstermin in Auschwitz realisierte. Dies war in Zeiten des Kalten Krieges und der nicht geregelten Besuchsvereinbarungen eine kleine Sensation, musste doch die polnische Regierung genehmigen, dass Vertreter der BRD-Justiz trotz fehlender zwischenstaatlicher Vereinbarungen faktisch Amtshandlungen auf polnischem Territorium vornahmen. Das Gericht hörte auch zahlreiche Sachverständige als Zeugen. Vier Historiker, Hans Buchheim, Martin Broszat, Hans-Adolf Jacobsen und Helmut Krausnick, legten Gutachten über die Anatomie des SS-Staates vor. Auf Initiative des legendären Anwalts Friedrich Karl Kaul, der als Nebenkläger zugelassen war, konnte auch Prof. Dr. Jürgen Kuczynski (Berlin/DDR) ein Gutachten vorlegen. Kuczynski setzte sich mit der Rolle des IG-Farben-Konzerns beim Aufbau und Betrieb des dritten Lagerbereichs, Auschwitz-Monowitz, auseinander. Anhand von Konzernunterlagen und von Dokumenten aus der Warschauer Hauptkommission zur Verfolgung von NS-Verbrechen konnte er überzeugend die aktive Rolle des Konzernbetriebes für den Betrieb des KZ nachzeichnen. Er dokumentierte aus der Korrespondenz der IG Farben, in welcher Form sich die Verbindung zur SS "recht segensreich" für den Konzern ausgewirkt hatte. Solche Wahrheiten gehörten nicht zum Allgemeingut der bundesdeutschen Aufarbeitung der faschistischen Verbrechen. Und so nahm der Vorsitzende Richter des Auschwitz-Prozesses die sich bietende Gelegenheit gerne auf, das Gutachten von Kuczynski als nicht zu beachten abzutun, da Kuczynski den formalen Fehler begangen hatte, seine gutachterliche Stellungnahme bereits vor dem Prozess zu veröffentlichen.

Zug in das KZ Auschwitz
Dennoch prägte eine Bereitschaft zur Verfolgung der NS-Verbrecher die Atmosphäre des Prozesses. Versuche der Verteidigung, die Aussagen der überlebenden Häftlinge zu denunzieren, wurden zurückgewiesen. Die Verbrechen wurden in ihrer Scheußlichkeit und Brutalität dargelegt. In der Konsequenz wurden 17 Angeklagte zu langjährigen Haftstrafen verurteilt, für drei erfolgte ein Freispruch, das Verfahren gegen die restlichen beiden wurde abgetrennt. Das Urteil wurde - sicherlich eine Seltenheit in der Justizgeschichte - auf 930 Seiten begründet. Akribisch wurden die Verbrechen und der Nachweis der unmittelbaren Tatbeteiligung geführt. Wichtiger noch als die konkreten Strafen war die gesellschaftliche Wirkung dieses Prozesses in die bundesdeutsche Öffentlichkeit. Zwar ließ das deutsche Medienecho nach der Auftaktsitzung im Dezember 1963 deutlich nach, jedoch fanden sich in der FAZ, die schon damals überregional orientiert war, und in der antifaschistischen Wochenzeitung "Die Tat" kontinuierlich Berichte vom Prozess.

Auch nach Abschluss des Auschwitz-Prozesses blieb das Thema ein zentraler Punkt der geschichtspolitischen Debatte in der bundesdeutschen Gesellschaft. Die in diesem Prozess bekannt gewordenen Fakten lösten einen Prozess der geschichtlichen Vergewisserung der nachgeborenen Generationen aus. Wenn die hier berichteten Dinge den Tatsachen entsprachen, warum hat die Gesellschaft darüber 18 Jahre geschwiegen? Was haben die eigenen Eltern davon gewusst? Solche Fragen besonders unter der akademischen Jugend verbanden sich mit Überlegungen, welche Schlussfolgerungen aus dem Gehörten zu ziehen seien. Theodor W. Adorno (Frankfurt/M.) formulierte dazu seinen pädagogischen Imperativ: "Dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die erste Forderung an die Erziehung". Andere, wie der Politologieprofessor Wolfgang Abendroth (Marburg) debattierte in seinen Seminaren zur Lehrerausbildung, welche gesellschaftlichen Konsequenzen gezogen werden müssten, damit Auschwitz nie wieder möglich werden könnte. Auch Schriftsteller wurden durch den Auschwitz-Prozess angeregt, genannt sei nur Peter Weiss mit seinem Stück "Die Ermittlung".

Diesem gesellschaftlichen Aufbruch in der Auseinandersetzung mit Faschismus und Krieg stand aber auch eine Verweigerungshaltung entgegen. Ganz offen wurden geschichtsverdrängende Haltungen formuliert. Bekannt ist der Ausspruch von Franz Josef Strauß (CSU), der in apologetischer Weise propagierte, dass ein Volk, das diese Aufbauleistung (gemeint ist der ökonomische Aufschwung nach dem Krieg) vollbracht habe, sich nicht immer wieder an Auschwitz erinnern lassen müsse. Und von solcher Verdrängung der Verbrechen war es nur noch ein kleiner Schritt zur Auschwitz-Leugnung. Im Gefolge des Prozesses waren in neofaschistischen Postillen die ersten Thesen gegen Auschwitz und die Vernichtung durch Zyklon B zu lesen. Anfang der 70er Jahr erschien von Thies Christophersen "Die Auschwitz-Lüge", die "Bibel" des militanten Geschichtsrevisionismus. Es dauerte übrigens fast 20 Jahre, bis diese Schrift von der Bundesprüfstelle auf die Liste der jugendgefährdenden Schriften gesetzt wurde. Ziel der Auschwitzleugnung war generell die Rehabilitierung der faschistischen Täter, damit die Entlastung des deutschen Faschismus von seinen Verbrechen, wodurch der Faschismus als politische Option wieder denkbar werden sollte. Auschwitz wurde so aus jeder politischen Richtung zu einem Synonym, zu einer Metapher der geschichtlichen Einordnung des deutschen Faschismus.

Eine Fragestellung, die erst in den 80er Jahren an Bedeutung gewann, war die Auseinandersetzung mit der industriellen Ausplünderung der Häftlinge in Auschwitz durch den IG-Farben-Konzern. In der DDR-Geschichtsforschung schon seit den 60er Jahren Allgemeingut, wurde dieser Aspekt im Zuge der kritischen Geschichtsaufarbeitung in der BRD "entdeckt". Die beginnende Auseinandersetzung mit dem IG-Farben-Konzern in Abwicklung wurde davon dominiert, dass deutlich gemacht werden konnte, dass der in den Jahren 1940 bis 1945 realisierte Profit auch aus der Ausplünderung von Häftlingen der KZ und speziell des Lagers Auschwitz-Monowitz resultierte. Doch diese Perspektive wird im heutigen öffentlichen bzw. offiziellen Gedenken weitgehend verdrängt.

Dabei geht es nicht um eine Hierarchisierung von Opfern oder von Lagerbereichen, es geht um die Erkenntnis der gesellschaftlichen Triebkräfte und der direkt und mittelbar Verantwortlichen für faschistische Massenverbrechen. Es waren nicht allein die im Auschwitz-Prozess angeklagten Aufseher oder die beteiligten SS-Ärzte, die ihre medizinischen Experimente an Häftlingen in Auschwitz und anderen Konzentrationslagern durchführten. Es waren auch die Verantwortlichen in den Konzernzentralen, die billigste Arbeitskräfte von der SS bestellten. Es waren Banker, die durch Kredite den Aufbau der Lager finanzierten. Doch von all dem war in der offiziellen Begründung des Bundespräsidenten Roman Herzog, als er 1997 den 27. Januar zum nationalen Gedenktag erklärte, nichts zu hören. Und es ist auch in allen Reden bundesdeutscher Politiker zum diesjährigen Gedenken aus Anlass des (…) Jahrestages der Befreiung von Auschwitz nicht zur Sprache gekommen.

Ulrich Schneider, Historiker
(Erschreckend aktuell, oder?)

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