Donnerstag, 3. November 2016

Der Nachrichtenwert eines Menschenlebens


Syrien, Türkei, Jemen: Die Kriegsberichterstattung von Spiegel, taz, Bild & Co. weist eine Tendenz zur unterschiedlichen Gewichtung ziviler Opfer auf

Rebellen starten Offensive gegen Assad-Truppen“, meldete Springers Boulevard-Postille Bild vergangene Woche mit kaum verschleierter Freude. Dass der Vormarsch der „Rebellen“, die im übrigen angeführt werden durch islamistische Terrorbanden wie Ahrar al-Sham und der in Fatah al-Sham umbenannten al-Qaida-nahen Al-Nusra-Front, mit massivem Beschuss von Wohngebieten begann, bei dem Zivilist*innen zu Tode kamen, verschweigt das auflagenstärkste Medium Deutschlands bewusst. Es seien nur „Regime-Positionen“ angegriffen worden.

Was Bild hier implizit tut, ist, das Leben von Zivilist*innen, einfach weil sie in von jeweils anderen Kräften kontrollierten Gebieten leben, unterschiedlich zu gewichten. Tote Menschen auf Rebellenterritorium sind eine Meldung wert, solche, die in Assad-Gebieten leben, eben nicht.

Die unterschiedliche Gewichtung vergleichbarer Verbrechen ist dabei in der Berichterstattung auflagen- und zugriffsstarker Medienunternehmen keineswegs eine Seltenheit. Vielmehr scheint sie fest in der Arbeitsweise dieser Blätter verankert zu sein.

Stirb nicht im Jemen

An kaum einem Kriegsschauplatz zeigt sich das deutlicher als am Jemen. Das ärmste arabische Land wird seit eineinhalb Jahren von einer internationalen Koalition bombardiert, die von einem engen Partner der Bundesrepublik, Saudi-Arabien, angeführt und von diversen westlichen Staaten militärisch wie logistisch gestützt wird. Tausende zivile Tote und eine Hungerblockade dramatischen Ausmaßes schaffen es dabei äußerst selten über die Wahrnehmungsschwelle westlicher Leser*innen.

Wer die verzweifelten Nachrichten in Sanaa lebender Aktivist*innen und Journalist*innen auf Social-Media-Kanälen zur Kenntnis nimmt, stößt dabei immer wieder auf Bilder, die man hierzulande nicht zu sehen bekommt: Verbotene Cluster-Bomben aus britischer Produktion, verbrannte und unkenntliche Kinder-Leichen, ausgehungerte Menschen, Skelette aus Haut und Knochen. Man sieht diese Bilder und der Gedanke drängt sich unweigerlich auf: Werden uns nicht vergleichbare Bilder aus Aleppo wochenlang auf Titelseiten präsentiert, gibt es nicht hunderte Analysen und Hintergrundberichte zu einzelnen, symbolischen Bildern dieser Art aus Syrien, insofern es Opfer der russischen oder syrischen Kriegsführung waren?

Geben wir in der Suchfunktion von Spiegel-online „Jemen“ ein. Im Zeitraum eines Jahres – ein Jahr, in dem durchgängig Krieg tobte, mit zahllosen von Menschenrechtsorganisationen bestätigten Verbrechen – finden sich 173 Suchergebnisse, darunter viele Kurzmeldungen. Für das Stichwort „Syrien“ wirft die Suchfunktion im selben Zeitraum 2563 Ergebnisse aus.

Sehen wir nun auf einen speziellen Fall: Am 8. Oktober griff die saudische Luft-
waffe ein Begräbnis in der jemenitischen Hauptstadt Sanaa an. Über hundert Menschen starben, hunderte wurden verletzt. Spiegel-Online meldet das Ereignis pflichtschuldig am Tag des Geschehens mit einem der

Nachrichtenmassenproduktionsagentur dpa entnommenen Zehnzeiler. Danach kommt es noch dreimal vor, wieder in Form von Kurzmeldungen. Halten wir fest: Drei kurze, nicht einmal selbst recherchierte Texte für ein offenkundiges Kriegsverbrechen durch ein Land, an das „wir“ Waffen liefern.

Vergleichen wir dieses Kriegsverbrechen mit einem anderen, das allerdings ungleich weniger Opfer forderte und ungleich schlechter dokumentiert ist: Der Russland zugeschriebene Angriff auf einen UN-Konvoi in Syrien im September 2016. Hier berichtet Spiegel-Online mindestens acht Mal, darunter mit einer Spiegel-TV-Reportage und längeren Texten des Nahost-Korrespondenten Christoph Sydow. Ob und wenn ja, wieviele Zivilist*innen bei diesem Angriff zu Schaden kamen, ist bis heute unklar.

Man kann sagen: Wer das Unglück hat, im Jemen von einem saudischen Kampfflugzeug ermordet zu werden, kann dann in weiterer Folge nicht damit rechnen, in jenen Ländern, die dafür sorgen, dass dieses Flugzeug überhaupt einsatzfähig ist, wahrgenommen zu werden.

„Wer Westen muss in Syrien eingreifen!“ – und in der Türkei?

Wechseln wir in ein anderes Genre, zum sogenannten Kommentar. Hier darf der*die Schreiber*in meinungsstark auftreten. Auf den Seiten der Welt, der Tagesschau, der taz, der Zeit, der Bild und anderer finden wir Meinungsbeiträge von Festangestellten oder externen Autoren, die eine militärische Intervention gegen das Assad-Regime fordern.

Sehen wir einen Moment von der einfachen und richtigen Erkenntnis, dass westliche Militärinterventionen die Situation in den betroffenen Ländern ohnehin immer nur verschlechtert haben, ab und legen wir den Maßstab der bürgerlichen Autoren an ein anderes, mit dem Westen eng verbündetes Land an. Die Argumentation geht ja bekanntlich so: Weil Assad Wohngebiete mit Artillerie, Panzern, Truppen und aus der Luft angreift, braucht es Schutzzonen für Zivilist*innen, die durch Flugverbotszonen hergestellt werden sollen.

Wer so argumentiert, muss wenige hundert Kilometer gen Norden blicken: Das Regime des türkischen Machthabers Recep Tayyip Erdogan hat dort in den vergangenen zwölf Monaten dutzende Städte, Stadtteile und Dörfer von der Landkarte radiert. Cizre, Nusaybin, Sirnak, Gever, Diyarbakir-Sur und andere Orte – teilweise Gebiete mit über hunderttausend Bewohner*innen – wurden mit Artillerie, Panzern, Truppen und aus der Luft angegriffen, hunderte Nicht-Kombattanten starben, hunderttausende wurden aus ihren Wohnungen vertrieben und sind nun Binnenflüchtlinge. Hat sich irgendjemand dazu hergegeben, hier Flugverbotszonen und ein militärisches Eingreifen zu fordern? Nein. Wie gesagt: Wir lehnen westliche Kriegseinsätze grundsätzlich ab. Aber: Wer sie in Syrien für ein probates Mittel hält, im Südosten der Türkei aber nicht, der misst ohne Zweifel mit zweierlei Maß.

Eine Frage der Gewichtung

Die Liste der Beispiele ließe sich endlos erweitern. Man vergleiche die Berichterstattung zu US-amerikanischen und russischen Luftangriffen, die Belagerung Mossuls und die Aleppos, die Wertung von Protesten in Libyen und jenen in Katar. Und so weiter und so fort.

Dabei zu sagen, über irgendetwas würde „gar nicht“ berichtet, ist allerdings in den meisten fälschen falsch – obwohl auch das vorkommt. Allerdings decken jene Presse-Apparate, die sich einen umfangreichen Mitarbeiter*innenstab halten können, oft alles mögliche ab – schon um die eigenen Seiten irgendwie zu füllen. Die Frage ist allerdings, wie das jeweilige Thema gewichtet wird: Wie oft wird es abgehandelt? Kommt es ganz oben auf die Start- oder Titelseite und wie lange bleibt es da? Wird es mit dramatischen Bildern unterlegt oder nicht? Schreibt man ausführliche eigene Texte oder kopiert man Agenturmeldungen? Bestellt man noch einen wertenden Kommentar dazu?

Das Ergebnis dieser Gewichtung lässt sich im Massenbewusstsein zumindest spüren (hätte man die Mittel dazu, ließe es sich sicher auch quantitativ erfassen). Vergleichbare Ereignisse bleiben unterschiedlich lang präsent und ihnen wird ein unterschiedlicher Wichtigkeitsgrad beigemessen. Während kaum jemand nicht zumindest irgendwie weiß, dass Assads und Putins Luftwaffe in Syrien Massaker anrichten, trifft man ständig auf Menschen, für die es eine völlige Überraschung ist – und die zunächst gar nicht glauben wollen -, dass die türkische Luftwaffe vor wenigen Monaten ebenfalls Angriffe auf Städte auf dem „eigenen“ Territorium flog.

Zumindest unbewusst setzt sich diese Gewichtung bis in die Linke fort: Die Mobilisierungsfähigkeit in Solidarität mit der kurdischen Bewegung in Rojava zu Kobane-Zeiten war ungleich höher als die heute. Und das, obwohl die Situation heute ungleich drastischer ist. Damals setzten die Massenmedien die Angriffe des Islamischen Staates als Thema. Heute behandeln sie den türkischen Einmarsch der Koalition aus türkischen Truppen und dschihadistischen Terrorbanden in Nordsyrien als Meldung unter anderen.

Von Peter Schaber, aus lowerclassmag

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