Samstag, 3. September 2016

Krieg einigt die EU

Trotz »Brexit« und Austeritätsdiktaten: Die Militarisierung der Europäischen Union schreitet voran

Ausgerechnet Viktor Orbán hat die Debatte über den Aufbau einer EU-Armee wieder angestoßen. »Wir müssen der Sicherheit Vorrang einräumen und den Aufbau einer gemeinsamen europäischen Armee beginnen«, forderte der nicht gerade als Verfechter einer engen Integration bekannte ungarische Ministerpräsident, als er am 24. August in Warschau mit Bundeskanzlerin Angela Merkel zusammentraf. Merkel besprach im Rahmen ihrer letztwöchigen EU-Rundreise an diesem Tag mit den Ministerpräsidenten der Visegrad-Staaten (Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn), wie es mit dem Staatenbund nach dem Austritt Großbritanniens weitergehen soll. Beim informellen EU-Gipfel am 16. September in Bratislava könnten erste tragfähige Konzepte für die erstrebte Neuformierung der EU vorliegen.

Klar ist: Die EU ist in vielerlei Hinsicht ziemlich zerstritten, zentrifugale Tendenzen verstärken sich; die Suche nach einem gemeinsamen Nenner, auf dem die Konsolidierung des Bündnisses gründen könnte, ist durchaus kompliziert. »Es geht darum, den Status quo zu halten und ein weiteres Auseinanderdriften der EU zu verhindern«, so fasste ein nicht namentlich genannter Diplomat die Problemlage unlängst gegenüber der Süddeutschen Zeitung zusammen. Der Mann fuhr fort: »Das einzige Thema, auf das sich alle zurzeit einigen können, ist die Parole: mehr Sicherheit.« Und tatsächlich – seit einiger Zeit werden immer mehr Papiere publiziert, immer mehr Resolutionen verkündet, die den Ausbau der Grenzabschottung, der Überwachung und der Repression (siehe unten), aber eben auch die weitere Militarisierung der EU verlangen.

Für die EU-Militärpolitik scheint der Austritt Großbritanniens in der Tat neue Spielräume zu öffnen. London sei »bei jeder beliebigen Initiative«, die die gemeinsame EU-Hochrüstung habe konkretisieren sollen, auf »die Bremse getreten«, klagte in der vergangenen Woche im Interview mit der Tageszeitung La Repubblica der einstige italienische Generalstabschef Vincenzo Camporini. Großbritannien genügten eben tatsächlich die NATO und die Ende 2010 intensivierte bilaterale Militärkooperation mit Frankreich. Das habe auf den Aufbau von EU-Streitkräften lähmend gewirkt, zumal »alle wussten, dass man ohne London nicht wirklich von einer europäischen Verteidigung sprechen konnte«, fuhr Camporini fort: Das britische Militär sei nun mal deutlich schlagkräftiger als alle anderen Armeen in der EU, die französische vielleicht ausgenommen. Nun, dabei müsse es nicht bleiben, schrieb der französische Diplomat Jean-Marie Guéhenno, Präsident des Thinktanks »International Crisis Group«, letzte Woche im Spiegel: Die EU müsse »die Chancen ergreifen, die ihr der Brexit bietet«. Wenn es gelinge, die gemeinsame Militärpolitik voranzutreiben und vor allem den Bundeswehr-Etat klar zu erhöhen, dann könne die EU auch ohne Großbritannien ausreichend »strategische Schlagkraft« gewinnen.

Entsprechend treibt Berlin die Militarisierung mit aller Macht voran – und das nicht nur auf nationaler Ebene. In den Gesprächen, die Merkel in der vergangenen Woche mit den Staats- und Regierungschefs von insgesamt 15 EU-Staaten führte, nahm die Militärpolitik eine zentrale Rolle ein. »Die Kooperation im Bereich der Verteidigung« müsse »ausgebaut werden«, forderte die Kanzlerin am Montag letzter Woche bei der gemeinsamen Pressekonferenz mit dem französischen Staatspräsidenten François Hollande und dem italienischen Ministerpräsidenten Matteo Renzi, die, symbolisch sehr passend, auf dem Hubschrauberträger »Giuseppe Garibaldi« abgehalten wurde. In Sachen Militär benötige die EU »Koordination, zusätzliche Mittel sowie mehr Reichweite«, schloss Hollande sich an. Am Mittwoch sprach sich neben Ungarns Ministerpräsident Orbán auch dessen tschechischer Amtskollege Bohuslav Sobotka dafür aus, »eine Diskussion« über die Gründung einer EU-Armee zu starten: Er sei »überzeugt«, man werde »auf lange Sicht nicht ohne gemeinsame europäische Streitkräfte auskommen«. Prag hat Berlin schon im vergangenen Jahr angeboten, die bilaterale Zusammenarbeit auf militärischem Gebiet auszuweiten und Teile der tschechischen Streitkräfte der Bundeswehr zu unterstellen – ganz so, wie es längst zwischen Deutschland und den Niederlanden geschieht. Mit derlei Kooperationsprojekten ist der Grundstein für eine künftige EU-Armee bereits gelegt.

In Vorbereitung auf den informellen EU-Gipfel in Bratislava werden – natürlich unter maßgeblicher deutscher Mitwirkung – bereits konkrete Vorstöße in die Richtung unternommen. Man wünsche sich eine »stärkere« EU »mit einer vertieften und wirksameren gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik«, teilten die Außenminister des »Weimarer Dreiecks« (Deutschland, Frankreich, Polen) am Sonntag in einer »gemeinsamen Erklärung« mit. Anknüpfend an die jüngst vorgelegte außenpolitische Strategie der EU solle nun »eine substantielle Folgestrategie im Bereich Sicherheit und Verteidigung« erstellt werden. Der Europäische Rat solle einmal pro Jahr »im Format eines ›Europäischen Sicherheitsrats‹ tagen, der sich mit strategischen Fragen der inneren und äußeren Sicherheit befasst, die untrennbar miteinander verbunden sind«. Darüber hinaus benötige die EU für ihre Militärinterventionen »eine europäische zivile und militärische Planungs- und Führungsfähigkeit« – also ein eigenständiges Hauptquartier. Die »Entwicklung einer starken und wettbewerbsfähigen Verteidigungswirtschaft in Europa« sei ebenfalls unumgänglich.

Der Gedanke, die Einigung der EU durch das Medium des Krieges voranzutreiben, ist nicht neu. Das »europäische Projekt einer gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik« werde »ein Motor für das weitere Zusammenwachsen Europas sein«, hatte der damalige Außenminister Guido Westerwelle bereits im Februar 2010 auf der »Münchner Sicherheitskonferenz« prophezeit. »Ein stehendes Heer für die Union aller Staaten – das wäre fast schon so etwas wie ein neues Rückgrat für Europa«, kommentierte die Süddeutsche Zeitung einige Monate später. Nun, Berlin hat Erfahrung damit, die Integration divergierender Staaten mit Hilfe gemeinsamer Waffengänge durchzusetzen: Im Jahr 1870 entstand aus dem Krieg gegen Frankreich das Deutsche Reich.

aus „junge Welt“vom 03.09.2016

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